Kategorie: Debatte

Krieg gegen die Ukraine: Intervention zur politischen Orientierung der Partei DIE LINKE

Beitrag von Bernd Riexinger

Der  Einmarsch des russischen Militärs in der Ukraine ist ein Akt der Aggression, der unsägliches Leid für die ukrainische Bevölkerung verursacht und durch nichts zu rechtfertigen ist. Das Blutvergießen trifft auch russische Soldaten und die Bevölkerung in Russland wird für die Kriegskosten bitter bezahlen müssen. Sowohl der Widerstand in der ukrainischen Bevölkerung als auch die ersten Anzeichen russischer Proteste gegen den Krieg verdienen deshalb unsere volle Solidarität.

Es ist gut, dass Partei und Fraktion den Angriffskrieg von Russland auf das schärfste verurteilten und einen sofortigen Waffenstillstand und den Rückzug der russischen Truppen forderten. Auch das demütige Eingeständnis, dass unsere Partei den Krieg durch Russland nicht für möglich gehalten hat, war richtig und wirkt glaubwürdig. Noch wenige Tage, bevor die ersten Bomben fielen, hatten einzelne Fraktionsmitglieder  zu einer Kundgebung unter dem Motto „Sicherheit für Russland heißt Sicherheit für Deutschland aufgerufen“ und die Warnungen vor einem Einmarsch ins Reich der Märchenerzähler verwiesen. Was für eine verheerende Fehleinschätzung. Die Auseinandersetzung über das Verhältnis zu Russland beschäftigt die Partei seit ihrer Gründung. Die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung vor dem Faschismus, die 27 Millionen Todesopfer durch den faschistischen Krieg und Terror, Not und Entbehrung, die dem Volk der damaligen Sowjetunion aufgezwungen wurden weltweit in der Linken nicht vergessen. Gerade in Zeiten des kalten Krieges war das keine populäre Haltung. Teile der Partei bewegten sich außerdem in der Traditionslinie des sowjetisch geprägten „realen Sozialismus“, der bis heute ihre Haltung zu Russland prägt. Unabhängig von der berechtigten Kritik vieler Linker am Charakter dieses Systems, hat in Russland eine neoliberal geprägte Transformation zum Kapitalismus stattgefunden. Das Putin Regime verkörpert einen autoritären Oligarchenkapitalismus, der mit einem erstarkten Nationalismus einhergeht. Dieses System hat mit linken Vorstellungen nichts zu tun, im Gegenteil, es geht weit hinter Maßstäbe selbst bürgerlich liberaler Demokratien zurück. Unter Putin hat Russland wieder eine aktivere Rolle in der Weltpolitik eingenommen. Dabei geht es um knallharte Interessen, die auch militärisch durchgesetzt werden. Tommaso Di Francesco von il manifesto, der schon die Entscheidung von Putin, die Unabhängigkeit von Lugansk und Donesk anzuerkennen, als „Akt der Gewalt“ und als abenteuerlichen Vorboten eines neuen Krieges bewertete, bezeichnet Russland als „von seiner ideologischen und militärischen Expansion angetrieben“. 

Bei einer überwiegenden Mehrheit der Mitglieder unserer Partei ist die Haltung zu Russland auf Grund der autoritären Entwicklung im Land und Russlands Außenpolitik (zu der seit einigen Jahren auch die Unterstützung rechts-autoritärer und nationalistischer Kräfte in verschiedenen Ländern gehört)  bereits seit längerer Zeit aus  differenziert und kritischer geworden. Wir sind Friedenspartei und nicht außenpolitische Interessensvertretung anderer Länder. Diese Haltung wurde oft als eine ‚Äquidistanz‘ kritisiert. Das ist eine Fehleinschätzung. Es ist keine Verharmlosung des US-Imperialismus, wenn Russland kritisiert wird. DIE LINKE wird jedoch unglaubwürdig, wenn sie an unterschiedliche imperiale Mächte unterschiedliche Maßstäbe bei Menschenrechten, Demokratie, sozialer Gleichheit und friedlicher Außenpolitik anlegt. Sie muss uneingeschränkt alle kriegerische und imperiale Politik kritisieren und bekämpfen. Schon um gegenüber den westlichen Politikern glaubwürdig zu sein, die mit völkerrechtswidrigen Kriegen der USA oder der NATO keine Probleme haben. Sie bedienen immer wieder die Erzählung, dass wir es mit dem ersten Krieg nach 1945 auf europäischen Boden zu tun hätten. Serbien, das 1999 unter tätiger Mithilfe der damaligen Rot-Grünen-Regierung, bombardiert wurde gehört jedoch genauso zu Europa wie die Ukraine.

Richtig war es, dass die LINKE-Bundestags Fraktion spätestens nach den Reden von Olaf Scholz und Friedrich Merz den Antrag der Ampelkoalition abgelehnt hat, der die Unterstützung der Ukraine in einer Art Hau-Ruck-Aktion mit einem massiven Aufrüstungsprogramm verband. Die Bundeswehr wird mit einem Sonderfond von 100 Mrd. Euro ausgestattet. Finanzielle Mittel werden innerhalb kürzester Zeit mobilisiert, denen sich diese und die Vorgängerregierung in sozialen Fragen, bei der Aufnahme von Geflüchteten oder bei der Entwicklungshilfe immer verweigert haben. Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO soll übererfüllt werden und damit die Steigerung der Rüstungsausgaben auf über 70 Mrd. Euro.  Der Jubel der anderen Parteien bei dieser Ankündigung von Scholz im Bundestag ist befremdlich. Das gleiche gilt für die Genehmigung von Waffenexporten. Offensichtlich drohen gerade alle Dämme zu brechen. „Mit der historischen Entscheidung, tödliche Waffen zu liefern, und seiner Rede im Bundestag hat sich Olaf Scholz zum Kriegskanzler gewandelt“ schreibt Barbara Junge in der Taz, nicht ohne es als historische Ausnahmesituation zu bezeichnen. Gleichzeitig titelt die Taz: „Putin rüstet Deutschland auf“. Die Erzählung, dass bisher nicht aufgerüstet wurde und wir eine völlige Zäsur der deutschen Außenpolitik erleben ist nur zum Teil richtig. Die Mittel für die Bundeswehr wurden schon in den letzten Jahren gewaltig erhöht und das Zwei Prozent Ziel wurde auch seither nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Wahr ist auch, dass jetzt der letzte Widerstand in der SPD, z.B. gegen bewaffnete Drohnen gebrochen ist. Wie immer ringen die Grünen mit sich, um dann doch die gewaltige Aufrüstung mitzutragen. 

Auch wenn es schwer ist und derzeit eine Mehrheit der Bevölkerung die Maßnahmen der Bundesregierung unterstützt muss DIE LINKE Kurs halten und die Stimme der Vernunft gegen Aufrüstung und Militarisierung sein. Ein neuer Rüstungswettlauf erhöht nicht nur die Kriegsgefahr, er kostet auch Geld, das für andere Zwecke nicht mehr vorhanden ist. Außerdem ist die Kritik an der NATO nach wie vor berechtigt. Sie hat ihren Einflussbereich nach Osten erheblich ausgedehnt, sie ist kein Friedensbündnis, sie ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Das darf jedoch nicht mit Rechtfertigung verwechselt werden. Auch der Hinweis auf berechtigte Sicherheitsinteressen von Russland rechtfertigt keinen verbrecherischen Krieg oder relativiert die Kritik an seinen Verursachern.

Gerade weil wir für Abrüstung, Verhandlungen, gegen Waffenexporte und Aufrüstung sind können wir nicht gleichzeitig gegen Sanktionen sein. Die bisherige Haltung „Sanktionen treffen die Bevölkerung, deshalb sind wir dagegen“ lässt sich nicht durchhalten. Deshalb ist es richtig, dass in unseren Antrag Sanktionen gegen Oligarchen und Kriegstreiber aufgenommen wurden. Wer könnte da ernsthaft etwas dagegen haben. Aber das wird nicht ausreichen. Die Ukraine wurde angegriffen und hat das Recht auf Selbstverteidigung. Waffenexporte an die Ukraine aber drohen das Blutvergießen zu verlängern; sie können sogar in eine direkte militärische Konfrontation mit Russland führen, uns in einen Krieg hineinziehen. Wer aber in dieser zugespitzten Situation eines Angriffskrieges auf Deeskalation setzt und Waffenexporte aus guten Gründen ablehnt, wird sofort mit der ebenso berechtigten Frage konfrontiert, wie denn Russland unter Druck gesetzt werden kann, einem Waffenstillstand zuzustimmen oder sogar den Krieg zu beenden. Wirtschaftliche Sanktionen sind der bessere Weg als der militärische. Natürlich werden die Sanktionen Putin unter Druck setzen. Auch wirtschaftliche Folgen, etwa infolge der Sanktionen gegen die russische Zentralbank, gehören da unvermeidlich dazu, da nur sie effektiven Druck erzeugen. Putins Wirtschaftspolitik hat es geschafft das Pro-Kopf-Einkommen Russlands unter das Niveau von Rumänien zu verringern. Der Lebensstandard der russischen Bevölkerung sinkt und wird durch den Krieg weiter sinken.

Es ist am Ende eine offene Frage und eine Frage der politischen Auseinandersetzungen in Russland, ob eine sich verschlechternde wirtschaftliche Lage auch zu wachsendem Protest gegen den Krieg führt; die Regierung Putins setzen sie allemal unter Zugzwang.

 Gezielte Sanktionen sind eine klare und letztlich die einzige derzeit politisch vermittelbare Alternative zu Waffenexporten. Sonst bleiben nur Appelle oder die Forderung Putin ein Angebot zu unterbreiten, das er nicht ablehnen kann. Was soll das sein? Friedensverhandlungen müssen schließlich zwischen der Ukraine und Russland stattfinden. Dazu ist ein Waffenstillstand dringend erforderlich. Das jedoch hat alleine Russland in der Hand, dessen kriegerischer Akt der Aggression nicht ohne Folgen bleiben darf. Wenn wir keine Aussagen treffen können, wie Druck auf Putin ausgeübt werden kann, wird es umso schwerer der Stimmung, „jetzt helfen nur noch Waffen“ und dem richtigen Appell, die ukrainische Bevölkerung nicht alleine zu lassen, etwas entgegen zu setzen.

DIE LINKE muss deshalb m.E. offen für gezielte Sanktionen mit Maß sein, die die russische Oligarchie treffen und zugleich einer unkontrollierbare Eskalationsspirale vorbeugen.

 Es ist übrigens auch nicht so, dass DIE LINKE vor unserer Parteigründung nicht für Sanktionen war. Natürlich haben wir die Boykottkampagne gegen das Apartheidsystem in Südafrika unterstützt und Hafenarbeiter, die südafrikanische Produkte nicht entladen haben. Dass Putin durch die eigene Bevölkerung gestoppt wird, wäre natürlich das Beste. Das wird jedoch nicht schnell geschehen und der Krieg ist längst in Gange. Dass Niko Popp in der Jungen Welt sagt, wenn die Linke auf Sanktionskurs geht, dann sei ihr Abmarsch in den Dienst des Imperialismus erfolgt ist eine bösartige Fehleinschätzung. Wir verbinden Sanktionen nicht mit Aufrüstung und Militarisierung, wie die meisten anderen Parteien, sondern mit dem Gegenteil: Mit Abrüstung und Friedenspolitik. 

Neben den bestehenden Sanktionen wäre z.B. die Beschlagnahmung eines relevanten Teils der Auslandsvermögen von russischen Oligarchen, wie sie mittlerweile auch anerkannte linke Ökonomen wie Paul Krugman oder Thomas Piketty auf unterschiedliche Weise ins Spiel bringen geeignet den linken Ansatz in dieser historischen Krise deutlich zu machen. Das oligarchische Vermögen könnte Faustpfand für den Abzug der russischen Truppen sein. 

Der Hinweis, dass die unteren Gruppen der Bevölkerung die damit hergehenden Energiepreissteigerungen bezahlen werden, kann nicht einfach übergangen werden. Hier ist es aber richtiger staatliche Unterstützung zu fordern, soziale Ausgleichsmaßnahmen, eine staatliche Preisregulierung gegen die Energiekonzerne und eine stärkere Belastung der Reichen. Es wäre eine Sackgasse wenn der Eindruck entsteht, dass Teile der LINKEN über Benzin- und Gaspreise diskutieren, während in der Ukraine Tausende von Menschen ihr Leben verlieren. Diesem Dilemma können wir entgehen, wenn wir deutlich machen, dass die immensen Milliardenbeträge für die Aufrüstung auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit gehen werden. Die Milliarden für Aufrüstung sind für einen wirklichen europäischen sozial-ökologischen Umbau und einen Friedensplan besser aufgehoben als in Konfrontation und Milliarden für Rüstungskonzerne. Ohne eine andere sozial gerechte und klimagerechte europäische Wirtschaftsordnung kein Frieden in Europa und anderswo. Mit dieser Richtung kann die LINKE in der neuen, deutlich jüngeren Friedensbewegung wirken und deutlich machen: dauerhaftem Frieden stehen die Interessen der Oligarchen in Russland und Kiew, der EU und den USA entgegen. 

Neue Friedensbewegung

Zurzeit gehen Hunderttausende gegen den Krieg auf die Straße. Es ist richtig, dass DIE LINKE mit dazu aufruft und sich zugleich klar auf die Seite der „neuen“ Friedensbewegung stellt. Das ist je nach örtlicher Lage gar nicht so einfach, denn es gibt Misstrauen gegen DIE LINKE, wegen ihrer vermeintlichen oder teilweise tatsächlichen Kritiklosigkeit gegenüber Russland. Wir werden eher als Teil der „alten“ Friedensbewegung betrachtet, die die Bindung an die junge Generation verloren und in ihren Aufrufen- oder Aufrufentwürfen für die Ostermärsche teilweise kein kritisches Wort an die Truppenaufmärsche an der ukrainischen Grenze verloren hat. Ob sie  wieder Zugang zu den Menschen bekommen wird, die derzeit auf die Straße gehen ist eine offene Frage und wird davon abhängig sein, ob sie glaubwürdig eine Korrektur ihres bisherigen Kurses vornimmt. Wir sollten uns s dafür nicht in Mithaftung nehmen lassen. Es ist völlig klar, dass sich ganz unterschiedliche Gruppen und Menschen mit zum Teil gegensätzlichen Vorstellungen auf den Straßen und Plätzen treffen. Da sind auch Forderungen nach Waffenlieferungen dabei oder Aufnahme der Ukraine in die NATO. Und natürlich, alles andere würde verwundern, versucht der herrschende Block sie zu vereinnahmen, Kritik an der NATO oder der Bundesregierung unter den Teppich zu kehren. DIE LINKE kann die klare Kritik an Russland verbinden mit der Kritik an Aufrüstung und Militarisierung, eine klare Stimme gegen einen erneuten Rüstungswettlauf sein. Auch die Gefahren der atomaren Bewaffnung können zu einem späteren Zeitpunkt wieder in den Vordergrund rücken. Putins Drohung, dessen Verhalten  irrational und gefährlich ist, macht deutlich welche Gefahren die Atombewaffnung darstellt, und dass ein Großteil davon auf die Länder in Europa gerichtet ist.

Viele der Hunderttausende, die jetzt auf die Straße gehen sind entsetzt über das Leid und Elend, das dieser Krieg verursacht. Sie sind zurecht empört über die Brutalität des Putin-Regimes und die Geringschätzung der Interessen der Menschen in der Ukraine. Sie wollen nicht tatenlos zusehen, wie wenige Flugstunden von uns entfernt ein blutiger Krieg geführt wird. Vielfach sind es die gleichen jungen Menschen, die auch gegen die bedrohliche Klimakatastrophe auf die Straße gehen. Das ist ermutigend. In welche politische Richtung das geht, wird nicht unwesentlich von unserer eigenen Haltung und Glaubwürdigkeit abhängen. Erste Umfragen zeigen, dass 25-30 Prozent der Bevölkerung den Aufrüstungsplänen kritisch gegenüber stehen. Bei den Anhänger*innen der Linken sind es 67 Prozent. Sie müssen in unserer Partei eine glaubwürdige Vertretung finden.

DIE LINKE auf die Straße: Für Frieden in der Ukraine!

Die Anerkennung der sog. Volksrepubliken und der Einmarsch Russlands in die Ukraine stellen eine neue Eskalationsstufe im Ukraine-Konflikt dar. Die Bezeichnung des russischen Einsatzes als „Friedensmission“ ist mehr als zynisch. 

Wir kritisieren den Einmarsch Russlands als Völkerrechtsbruch und fordern den russischen Staat zum Rückzug seiner Streitkräfte und zur Rückkehr zu diplomatischen Gesprächen auf. 

Klar ist aber auch: Wer vom Einmarsch Russlands in die Ukraine redet, darf auch von der NATO-Politik nicht schweigen, die dieser Zuspitzung voranging – ein Beispiel sind die Defender-Truppenübungen in Osteuropa. Die aktuelle Situation ist auch ein Ergebnis der Eskalationspolitik zwischen Russland und den NATO-Staaten. 

Als LINKE muss für uns klar sein, dass es weder dem russischen Staat um Friedenssicherung, noch den NATO-Staaten um Menschenrechte in der Ukraine geht. Das belegen sowohl die Kriegseinsätze der NATO in Jugoslawien, Afghanistan und Libyen als auch die russischen Kriegseinsätze in Tschetschenien, Syrien und Mali. Beide Mächte konkurrieren um ihre wirtschaftlichen Interessen und Einflusssphären in der Welt. 

Als LINKE stehen wir auf der Seite der Menschen, die unter dem Krieg leiden. Das betrifft sowohl die Bevölkerung im Donbass, in Lugansk und der restlichen Ukraine als auch die Bevölkerung in Russland. Wir fordern die Bundesregierung auf, Aufnahmekapazitäten zu schaffen, um Geflüchtete aus den betroffenen Regionen großzügig und ohne bürokratische Hindernisse aufnehmen zu können, falls es zu einer Fluchtbewegung kommt. Zudem muss sich die Bundesregierung statt für Sanktionen für eine Deeskalation in der Ukraine einsetzen. Deeskalation bedeutet u.a. 

  • ein sofortiger Abzug der russischen Streitkräfte aus der Ukraine, 
  • die Schaffung einer demilitarisierten Zone zwischen Russland und Osteuropa,
  • und ein koordinierter Abbau der Rüstungsausgaben, um die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung zu senken. 

Eine sichtbare und internationalistische Friedensbewegung ist nun dringender denn je. DIE LINKE als einzige Friedenspartei im Bundestag muss hierzulande die Menschen ermutigen, dass möglichst viele für Frieden in der Ukraine auf die Straße gehen. Nur mit unteilbarer Solidarität können wir den politischen Druck für eine diplomatische Lösung des Konflikts entwickeln. 

Regieren und die LINKE – wo bleibt der Internationalismus?

von Nabil Sourani

Sollte die LINKE regieren? Diese Frage ist falsch gestellt. Für die Bewegungslinke muss im Vordergrund stehen, wie das kapitalistische System abgeschafft werden kann; wie alle Bereiche des Lebens – allen voran Staat und Wirtschaft – demokratisiert und eine globale ökosozialistische Gesellschaft aufgebaut werden kann. Dafür braucht es viele Analysen und Diskussionen: Darüber, was oder wer unsere Macht ist; wie sie sich organisieren lässt; was für eine Partei das voraussetzt; wer ihre Gegner:innen sind; was der Staat ist; was mit Ökosozialismus gemeint ist. Zwar hat die Bewegungslinke einige dieser Punkte bereits andiskutiert, was allerdings völlig fehlt, ist die Einsicht, dass Anti-Kapitalismus nur international funktionieren kann.  

Historische Lehren 

Bisherige Versuche, den Kapitalismus zu überwinden, scheiterten häufig an imperialistischer Einmischung. Da wäre die Russische Revolution von 1917: Während die Rätedemokratie begann, den bürgerlichen Staat zu ersetzen, formierte sich die Konterrevolution. Sie wurde wesentlich von westlichen Mächten unterstützt. Was war der einzige Weg, damit die Revolution noch hätte gelingen können? Das Anfachen der Arbeiter:innenbewegung in den Kernstaaten, insbesondere aber in Deutschland, und der internationale Übergang in den Sozialismus. Lenin meinte noch 1917: »Und die russischen Räte […] stehen in ihren Schritten zum Sozialismus nicht allein. Wären wir allein, so würden wir diese Aufgabe nicht friedlich und bis zuletzt bewältigen, denn diese Aufgabe ist ihrem Wesen nach international.« (https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/lenin-1917/wladimir-i-lenin-die-russische-revolution-und-der-buergerkrieg)

Internationalismus wurde von den Bolschewiki als Voraussetzung gesehen, um den friedlichen und demokratischen Übergang zu gewährleisten. Die Strategie ging nicht auf. Zwar gewannen die Revolutionär:innen den Krieg, infolge der Verwerfungen und der nationalen Isolation ihrer Revolution setzte sich aber der bürokratische Apparat um Stalin durch und gab die Parole vom »Sozialismus in einem Land« raus. Das Ergebnis: Ein autoritärer Staatskapitalismus, der alles andere war als ein Weg in eine freie Gesellschaft. Revolutionär:innen auf der ganzen Welt haben später ähnliche Erfahrungen gemacht. Sichtbar wurde das insbesondere in Lateinamerika – einer Region, die von den USA noch immer als ihr »Hinterhof« betrachtet wird.

Auf Basis der historischen Erfahrungen lässt sich also feststellen: Jeder Versuch, eine postkapitalistische Gesellschaft aufzubauen, muss international gedacht sein. Mit nationaler Isolation droht nicht nur das Ende der Demokratisierung, sondern es treten auch ganz reale wirtschaftliche und geopolitische Probleme hervor. Stellen wir uns etwa einen Sozialismusversuch allein in der Bundesrepublik vor: »Wie könnte ein isoliertes Deutschland Nahrungsmittel aus kapitalistischen Ländern importieren? Woher kommen Rohmaterialien für die industrielle Produktion? Und: wie würde sich Deutschland in einem Staatensystem gegen imperialistische Mächte durchsetzen können?« (https://rossana-online.de/2021/05/die-linke-und-das-regieren-es-ist-eine-falle/).

Wir sind nicht nur bei einem Sozialismusversuch in Deutschland und Europa auf internationale Unterstützung angewiesen, sondern antikapitalistische Bewegungen in anderen Weltregionen, insbesondere im globalen Süden, müssen sich ebenfalls auf uns verlassen können.

Mit Unterstützung ist nicht der Schulterschluss mit Diktatoren à la Pol Pot, Hồ Chí Minh oder Stalin wie in den 60ern und 70er-Jahren gemeint. Keine imperialistische Macht darf sich woanders einmischen können: Egal ob die USA, Deutschland, Russland oder China. Nur so sind Menschen imstande, sich gegen Diktaturen und Kapitalismus erfolgreich wehren zu können. Einmischung von außen spielt den Herrschenden in die Hände; zum Beispiel indem sie große Teile der Bevölkerung hinter dem Diktator gegen das Ausland zusammenschweißt oder weil – viel schlichter – die Diktatoren unmittelbar finanziell und militärisch unterstützt werden. Ohne Putins Russland wäre Bashar al-Assad längst Geschichte. Ebenso wäre Saddam Hussein im Irak ohne Bush Senior lange vor dem Einmarsch der US-Truppen gestürzt worden.

Internationalismus ist also nicht nur eine moralische Frage: Internationalismus muss Grundbaustein jeder antikapitalistischen Strategie sein. Internationalismus ist Bedingung linker Macht. Dementsprechend muss auch jetziges Handeln darauf ausgerichtet sein.

Sind die Parteien bereit, internationalistisch zu regieren?  

In der bisherigen Diskussion in der Bewegungslinken findet Internationalismus kaum Platz. Zwar gab es Veranstaltungen zu antimuslimischem Rassismus und unorganisierten Austausch zur Palästinafrage, aber keine Antworten darauf, was sie für die Strategie zur Überwindung des Kapitalismus implizieren. So wird auch die Regierungsfrage ausschließlich national gedacht – doch selbst wenn dies anders wäre, würde die praktische Umsetzung von Internationalismus durch den Druck des Systems und der Regierungskoalition versperrt werden. 

Die im Bundestag vertretenen Parteien fordern geschlossen ein Ja zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Die LINKE würde auf massive Gegenwehr stoßen und nichts deutet darauf hin, dass die SPD oder die Grünen ihre jetzigen außenpolitischen Strategien überdenken; geschweige denn mit dem deutschen Imperialismus brechen. Die Integration der beiden Parteien in den Staat ist eine Geschichte der Distanzierung von linken Positionen – und einige der Leute, die für die Kriege in Jugoslawien und Afghanistan verantwortlich sind, sind noch immer einflussreich. Sie setzen sich nicht einfach durch weniger linke Strategien von der LINKEN ab, sondern durch grundsätzlich andere Einschätzungen von Kapitalismus und Imperialismus.

Und: Nicht einmal die LINKE ist durchweg antimilitaristisch eingestellt. Dietmar Bartsch zieht Ausnahmen für Waffenexporte in Erwägung und Gregor Gysi möchte endlich das »Ja« zur NATO. Der Druck Richtung stabile Mehrheiten »links der Mitte« ist enorm. Er zwingt die LINKE zu Anpassungen. Wie wäre dann Internationalismus zu garantieren? Durch Beschlüsse und Haltelinien? In den Bundesländern, in denen die LINKE regiert, werden bereits Erfahrungen damit gemacht, was diese im Ernstfall bedeuten. Die Partei möchte: »Abschiebungen stoppen und Bleiberecht ausbauen, Seenotrettung sicherstellen«. In Berlin, Bremen oder Thüringen werden aber keine Abschiebungen gestoppt. Rote Haltelinien werden einfach überschritten. Wo ist der breite Aufschrei aus der LINKEN oder auch nur aus der Bewegungslinken? Das Fehlen lässt befürchten, dass es ihn genauso wenig geben wird, wenn eine Linksregierung auf Bundesebene den Bundeswehreinsatz in Mali weiterführt.

…und wo stehen die deutschen Staatsapparate?

Um herauszufinden, auf wessen Seite der Staat steht, braucht es nur einen Blick in den Nahen Osten und Nordafrika. 

Die Revolutionen von 2011, die Diktaturen hinwegfegten, verschlief die LINKE. Wird das Thema im Parteiumfeld angesprochen, werden die Umbrüche oft als erfolglos abgespeist – »Arabischer Winter« halt. Sicher, in einigen Staaten konnten sich Diktatoren vorerst behaupten. Doch dies gelang nur durch aktive Deckung imperialistischer Mächte, darunter Deutschland. Mit Material, Waffen und Ausbildung »Made in Germany« werden in Ägypten, Bahrain, Marokko, Tunesien oder Jemen revolutionäre Bestrebungen zerstört und »Ordnung« stabilisiert. Die Sicherheitssektoren der gesamten Region werden militärisch und polizeilich ausgebaut. Künftige Aufstände sollen zerschlagen werden und neu geschaffene Grenzregime – die, wie bereits geschrieben, die Regierungslinke in Deutschland nicht abbaut – lassen die Bevölkerung im Elend zurück. Gerahmt als »Sicherheitssektorreform« durch »Hilfe zur Selbsthilfe« können sich die Regime mit (neuer) Härte gegen die Menschen stellen. Im selben Atemzug sahnt das deutsche Kapital ab – und Siemens feiert in Ägypten den größten Auftrag seiner Geschichte. Statt auf Revolution stehen die Zeichen auf Konterrevolution. 

Um auf den Widerstand gegen ein internationalistisches Regierungsprogramm zurückzukommen: Wie bereits geschrieben, würde er aus der SPD und von den Grünen kommen; selbst aus Teilen der LINKEN – Menschen, die unter Abdelfattah el-Sisis Diktatur in Ägypten oder unter israelischer Besatzung leben, sind eben nicht wahlentscheidend. Dazu käme aber nahezu der gesamte deutsche Sicherheitsapparat, der sich aktiv gegen die Linksregierung stellen würde: Oder würden Geheimdienste und Polizei auf einmal zustimmen, wenn die Grenzen wirklich geöffnet werden? Wenn die deutsche Linksregierung plötzlich Gruppen unterstützt, die die weltweiten Stabilitätsanker – Diktaturen – stürzen wollen; wenn die thawra oder die revolución neu entfacht würde? Würde es die Waffenindustrie akzeptieren, Pleite zu gehen, weil sie keine Waffen mehr exportieren kann? Und fände es das Entwicklungsministerium einfach in Ordnung, keine freien Märkte mehr zu fördern?

Für eine Strategie von unten 

Die Regierungsstrategie geht davon aus, dass die genannten Staatsapparate einfach von innen heraus gesprengt werden können und der Widerstand dadurch gebrochen wird. Historisch gibt es aber keine Belege dafür, dass eine solche Strategie funktionieren kann – und theoretisch ist dies ebenso fraglich. (https://rossana-online.de/2021/05/die-linke-und-das-regieren-es-ist-eine-falle/) Erforderlich wäre stattdessen der Bruch mit dem Staat und die demokratische Selbstorganisation von unten. Antonio Gramsci schrieb: »[N]ach den revolutionären Erfahrungen Rußlands, Ungarns und Deutschlands der sozialistische Staat sich nicht in den Institutionen des kapitalistischen Staates verkörpern kann, sondern – verglichen mit ihnen, sogar verglichen mit der Geschichte des Proletariats – in einer grundlegend neuen Schöpfung.« (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/gramsci/1919/07/staat.html). 

Regieren im Kapitalismus ist dagegen der Versuch, eine Abkürzung in den Ökosozialismus zu finden – diese gibt es aber nicht. Solange wir an dem Versuch festhalten, kann linken Bewegungen weltweit nicht der Rücken gestärkt werden und wir verlieren die Voraussetzungen für einen demokratischen Übergang. Die kommenden 10-15 Jahre werden nichts daran ändern, falls die LINKE weiterhin aufs Regieren schielt.

Dagegen mag eine revolutionäre, anti-staatliche Strategie von unten, wie sie von Gramsci befürwortet wird, mühsam und langsam erscheinen. Allerdings kann sich die Situation, in der wir uns befinden, schnell ändern, was unter anderem die Revolutionen in Tunesien und Ägypten bewiesen haben. Kaum jemand hätte sie Mitte der 2000er für möglich gehalten. Dies soll nicht heißen, dass wir einfach eine solche revolutionäre Situation abwarten können: Im Gegenteil, Bewegung und Partei müssen jetzt aufgebaut werden und internationale Solidarität muss jetzt mitgedacht werden – sonst wird es keinen demokratischen Wandel hin zu einer ökosozialistischen Gesellschaft geben.

Politische Parteien existieren, um Verantwortung zu übernehmen!

von Dennis Riehle

Ich bin überzeugt: Das aktuelle Abschneiden von DIE LINKE in den Umfragen ist auch ein Resultat dessen, dass wir den Wählern keine klare Antwort darauf geben können, ob wir zur Übernahme von Verantwortung in einer zukünftigen Bundesregierung bereit wären. Bereits beim digitalen Parteitag, der das neue Führungsduo an die Spitze wählte, konnte die ausführliche Diskussion zum Thema nicht dazu beitragen, ein geschlossenes Bild der Partei zu zeichnen. Prinzipiell ist das auch nicht schlimm, denn Meinungsvielfalt adelt eine politische Kraft in demokratischen Systemen, denn sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur politischen Willensbildung des Einzelnen – in ihren eigenen Reihen und darüber hinaus. Wenn es allerdings um zentrale Fragen geht, so wünscht sich der Bürger Klarheit. Bis heute konnte man sich  bei den LINKEN nicht eindeutig dazu bekennen, für eine generelle Regierungsbeteiligung auf Bundesebene bereit zu sein. Schon bei uns im „Ländle“ hatte man sich im diesjährigen Wahlkampf defensiv gezeigt und damit geworben, im Landtag lediglich die Oppositionsrolle anstreben zu wollen. Für eine Regierungsbeteiligung scheint man in beträchtlichen Teilen der Partei noch immer nicht startklar, begnügt sich mit der Aussicht, erneut von der Seitenlinie am politischen Geschehen teilzuhaben. Doch nicht nur mangelndes Selbstbewusstsein ist für die Zurückhaltung ursächlich. In manchen Flügeln herrscht die pure Angst davor, sich bei einer Grün-Rot-Roten Koalition auf massive Kompromisse einlassen und dafür von liebgewonnenen Positionen abrücken zu müssen. Zweifelsohne: Manche bangen gar um die Identität der Partei, weshalb ich es gut verstehen kann, wenn man bei der LINKEN eher auf die Wahrung der Ideale abzielt, anstatt manche Überzeugung von Bord zu werfen. Ich bin durchaus ein Anhänger der Devise: „Regieren: ja – aber nicht um jeden Preis“.

Trotzdem scheint mir in der zunehmenden Interessenlosigkeit der Bürger gegenüber der Linkspartei ein recht strukturelles Problem zu stecken: Wer nicht fähig dazu ist, seine Konzepte im Zweifel auch auf Herz und Nieren überprüfen zu lassen, der läuft Gefahr, eine immerwährende Randerscheinung zu bleiben. Und letztlich fehlt es der LINKEN an Regierungserfahrung im Bund, die notwendig wäre, um realsozialistische Überlegungen auf deren Zustimmung im Volk testen zu können. Die Frage muss daher gestattet sein, ob sich eine politische Kraft im demokratischen Wettbewerb auf den Standpunkt zurückziehen kann, ihre Utopien nicht loslassen zu wollen – und damit als Partner für Koalitionsregierungen praktisch ausscheidet. Gemäß Verfassung und Parteiengesetz sollte jede politische Gruppierung prinzipiell dafür offen sein, sich am politischen Gestaltungsprozess zu beteiligen. Und ich gebe auch denjenigen recht, die darauf verweisen, dass die Verantwortung für das Land weit über den parteieigenen Interessen stehen muss. Deshalb scheint mir eine dauerhafte Verweigerung zu politischem Agieren überaus fragwürdig: Selbstverständlich darf und kann eine Partei für sich entscheiden, welche Grenzen zu überschreiten sie bereit ist. Manche politische Kraft in Deutschland greift im Zweifel eher nach der Macht – und ordnet die eigenen Ziele der Verlockung nach dem Kanzlersessel unter. Andere wiederum sind sich nicht zu schade, um im entscheidenden Moment die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es eben doch besser sei, „nicht zu regieren, als falsch zu regieren“. Ob die FDP diesen Satz nochmals wiederholen würde, ist fraglich.

Letztlich kann sich eine Partei aus meiner festen Überzeugung nicht dauerhaft ins Wolkenkuckucksheim zurückziehen. Auch illusionäre Vorstellungen über die Welt müssen irgendwann auf ihren Realitätsbezug abgeklopft werden. Damit ist keinesfalls gemeint, dass wir unsere Richtschnur abgeben. Doch wir müssen uns aus meiner Sicht entscheiden: Möchten wir der Vorstellung nachhängen, wie wir mit den Taliban auf der Isomatte im Zelt die Friedenspfeife rauchen – oder sind wir bereit dazu, in einem Regierungsbündnis dafür zu sorgen, dass Deutschland seine militärischen Kräfte aus Kriegsgebieten zurückzieht und sie in UN-Friedensmissionen sinnstiftend einbringt? Es hat ein wenig den Charakter von Selbstaufgabe, wenn wir uns demütig durch andere Parteien attestieren lassen, nicht regierungsfähig zu sein. Mein Ziel im politischen Tun war es seit jeher, Kompromisse nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, sondern Schnittmengen beim größten gemeinsamen Teiler zu finden. DIE LINKE muss sich entscheiden, ob sie eine Weltanschauungsgemeinschaft bleiben will, in der man die Hoffnung auf das Unerreichbare als Mantra vor sich herträgt – oder ob man sich aufrafft, möglichst viel der eigenen Vision im Hier und Jetzt umsetzen zu können. Wir sollten unsere Zuversicht auf irdischen Pazifismus mit der Wirklichkeit abgleichen, denn ich möchte nicht auf das Jenseits warten, bis die Menschheit von Waffen befreit ist. Damit dieser heute aussichtslos scheinende Zustand in Zukunft dennoch erreichbar ist, braucht es Etappen der Realisierung. Deswegen empfehle ich meiner Partei, im Blick auf das derzeit weit weg liegende Luftschloss nicht in Trance zu verharren, denn ich glaube auch nicht an die Wiederkehr des Messias – irgendwann. Stattdessen sollten wir nun erste Schritte im Kleinen gehen, indem wir unsere Maximalforderungen zwar nicht vergessen, aber mit Mindesterwartungen Regierungsverantwortung übernehmen – und damit zeigen, dass wir Politik ernst nehmen und dazu fähig sind, mit machbaren wie rationalen Plänen aktiv an ihr zu partizipieren. Denn solange wir in großen Teilen der Bevölkerung lediglich den Eindruck erwecken, nur Traumtänzer zu sein, bleiben wir für Viele schlichtweg belanglos.

Bewegungsorientierte Wohnungspolitik: Eine Frage der Mieter*innenmacht

von Toma El-Sarout

Steigende Mieten, Verdrängung und skrupellose Vermieter*innen – das Thema ‚Wohnen‘ ist seit Jahren in aller Munde. Problemstellung und Zielsetzung vieler linker Analysen ähneln sich: Wohnen darf nicht durch den Markt geregelt werden. Auch Verstaatlichung ist keine Lösung. Wohnen insgesamt muss vergesellschaftet werden. Das heißt: Wo, mit wem und zu welchen Kosten wir wohnen, sollten wir gemeinsam demokratisch und diskriminierungsfrei entscheiden.

Die Vergesellschaftung und damit das individuelle ‚Recht auf Wohnen‘ müssen wir dazu aber erst gegen Profit- und Herrschaftsinteressen durchsetzen.Es ist also eine Machtfrage, die für eine bewegungsorientierte Linke nur lauten kann: Wie bauen wir demokratisch und inklusiv Macht von unten auf, um unsere Ziele zu erreichen? Versteifen wir uns nicht auf ‚die Regierungsfrage‘ können wir unsere Ziele im Blick behalten, um offen nach den besten Strategien zu suchen.

Die Macht von Immobilienkapital und Staat

Das Immobilienkapital hat zunächst Marktmacht. Wir sind gezwungen, uns an einem bestimmten Ort mit einem bestimmten Einkommen eine Wohnung zu suchen. Werden wir etwa rassistisch, queerfeindlich oder ableistisch diskriminiert, stehen für uns noch weniger Wohnungen zur Auswahl. Währenddessen haben Vermieter*innen meist kein Problem damit, die Wohnung eine Weile leer stehen zu lassen, bis die gewünschte Miete gezahlt wird.

Der Staat toleriert die Macht des Immobilienkapitals nicht nur, er stellt sie aktiv her. ‚Mieteigentum‘ wäre nur ein Wort, wenn es die Gewalt der Zwangsräumung nicht gäbe. Erst die Staatsgewalt legt die Verfügungsmacht über Wohnungen in private Hand. Zugleich entpolitisiert der Staat die Wohnungsnot und hält eine Drohkulisse aufrecht: Obdach- und Wohnungslosigkeit werden nicht als gesellschaftliches Problem beendet, sondern staatlich versteckt, verwaltet und kriminalisiert.

‚Unternehmerische Städte‘ fördern – vom Staat in Konkurrenz zueinander gesetzt – aktiv Gentrifizierung und Verdrängung, um die erwünschten Bewohner*innen und Unternehmen anzulocken. So nutzt die Stadt Duisburg seit Jahren scheinheilige Baurechtsargumente und brutalen Antiziganismus, um Sinti*zze und Roma*nja aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Viele öffentliche Wohnungsunternehmen handeln längst nach Profitinteressen und für die Bremer Brebau belegt ein Leak jetzt systematisierten Rassismus und Queerfeindlichkeit bei der Wohnungsvergabe. Hartz-IV-Betroffenen und Geflüchteten zwingt der Staat Wohnorte und -bedingungen auf. Er ermöglicht so räuberische Geschäftsmodelle und subventioniert überhöhte Mieten auch noch mit Steuergeldern. Auf dem Wohnungsmarkt steht uns somit ein mächtiger Zusammenhang aus Staat und Kapital gegenüber.

Die Grenzen des ‚Machbaren‘

Die Profite der Immobilienwirtschaft sind längst ein wichtiger Stützpfeiler des krisenhaften Neoliberalismus. Anders als vor einigen Jahrzehnten, wird jeder Versuch, den Wohnungsmarkt auch nur einzuschränken, auf aktiven Widerstand und auf die stummen Zwänge unseres Wirtschaftssystems stoßen. Dennoch plädieren einige dafür, an der Regierung in vielen kleinen Schritten immer wieder das ‚konkret Machbare‘ durchzusetzen und so in der Summe das Privateigentum schleichend zu überwinden. Hinter dem ‚Machbaren‘ steckt jedoch meist ein Bündnis mit Kapitalfraktionen. Die letzte große Mieter*innenbewegung in Deutschland zerbrach in den 70ern, als die beteiligten Akademiker*innen ihren persönlichen Wohn- und Gestaltungsfreiraum bekommen hatten. Die zuvor selbstorganisierte Mieter*innenberatung bot ihnen nun staatlich finanzierte Stellen, wo sie bald im ‚partizipativen Quartiersmanagement‘ die neue neoliberale Regierungsweise durchsetzten. In der Umsetzung des ‚Machbaren‘ wurden sie – meist unfreiwillig – zu Geburtshelfer*innen des Neoliberalismus, während die migrantischen Arbeiter*innen der Bewegung auf der Strecke blieben.  Die Mieter*innenbewegung war für Jahrzehnte geschwächt, während Verdrängung und Mietpreise erst richtig in die Höhe schossen.

Das rastlose Profitstreben des Immobilienkapitals trug die ‚Wohnungskrise‘ jetzt erneut in die Mittelschicht und schuf die Grundlage für die heutige Bewegung. Wieder droht ein trügerisches Bündnis des Machbaren: Die Wohnkosten für ‚ihre‘ Fachkräfte sind der Industrie- und Handelskammer längst zu hoch, die Bauwirtschaft drängt auf staatliche Förderung und der ‚Grüne Deal‘ der EU-Kommission sieht eine massiv subventionierte Renovierungswelle vor, um Klimaschutz und Konjunktur zu fördern.

Gestützt auf die Macht von Kapital und bürgerlichen Parteien wäre demnach Folgendes ‚machbar‘: Eine staatliche Subventionierung der Wohnungswirtschaft im Gegenzug für einige Auflagen, um den ‚sozialen Frieden‘ wieder herzustellen und den krisenhaften Kapitalismus für eine neue Runde der Ausbeutung zu sichern. Der notwendigen Vergesellschaftung von Wohnraum wären wir keinen Schritt näher gekommen. Die in Jahren mühevoll aufgebaute Macht der Mieter*innenbewegung wäre zerspalten zwischen ‚pro- und anti-Reform‘; zwischen privilegiert Eingebundenen und weiterhin Ausgegrenzten. Die Chance, die Politisierung so vieler Menschen in einem gesamtgesellschaftlichen Transformationsprojekt aufgehen zu lassen, wäre vertan. Damit birgt das ‚Machbare‘ die Gefahr, uns erneut weit zurückzuwerfen.

Die Chancen von Bewegungsmacht

Zum Glück ist dieses Szenario nicht alternativlos. Wir können und sollten unabhängig von Staat und Kapital unsere demokratische Macht aufbauen und so die Grenzen des Machbaren zum Einsturz bringen. Die Mieter*innenbewegung hat hier bereits viel erreicht. Die Macht des Immobilienkapitals beruht darauf, Mieter*innen zu konkurrierenden Marktakteur*innen zu degradieren. Die Gegenstrategie liegt daher in der kollektiven Selbstorganisation.

Angesichts eines segmentierten Wohnungsmarkts gilt es dabei nicht nur ‚die Kämpfe zu verbinden‘: Wohnungskämpfe sind nur dann antikapitalistisch, wenn sie antirassistisch, queer und feministisch sind. Für eine rassistisch diskriminierte Arbeiter*in ist der Kampf gegen Rassismus und für eine geeignete Wohnung ein und dasselbe. Queere und feministische Kämpfe sind unerlässlich, um die Dominanz sexistischer und heteronormativer Wohnmodelle zu überwinden: Erst wenn wir gemeinsam über die Arten des Zusammenlebens entscheiden, die Wohnungen ermöglichen, können wir von einer demokratischen Vergesellschaftung des Wohnens sprechen.

Um die Schlagkraft zu erhöhen, könnte eine Ausweitung und Verstetigung der Organisation helfen, wie sie aktuell unter dem Stichwort ‚Mieter*innengewerkschaft‘ diskutiert wird. Eine solche Organisation sollte vor allem auch Menschen eine Mitgliedschaft ermöglichen, die nicht die Zeit und Energie haben, regelmäßig auf Plena geben. So könnte sie über einzelne Auseinandersetzungen hinweg einen großen Organisierungsgrad aufrechterhalten, um nötigenfalls schnell und kollektiv zu handeln. Mögliche Vorbilder wären z.B. die London Renters Union, die L.A. Tenants Union oder das Sindicat de Llogateres in Barcelona. Gerade die großen Immobilienkonzerne bieten den idealen Ansatzpunkt für die gemeinsame Organisation ihrer hunderttausenden Mieter*innen. Schon der massenhaft automatisierte Widerspruch gegen dubiose Betriebskostenabrechnungen könnte die nur halb-legalen Geschäftspraktiken in Bedrängnis bringen. Spielen die Mieter*innen das Spiel aus Mieterhöhung und Verdrängung nicht mehr mit, könnte sich die Marktmacht schließlich gegen das Kapital wenden.

Die Auseinandersetzung mit dem Staat

Das größte Hindernis für den Aufbau kollektiver Handlungsmacht ist der Staat. Er vereinzelt Mieter*innen vertragsrechtlich und stellt Vermieter*innen die Gewalt der Zwangsräumungen zur Seite. Schon deshalb müssen Wohnungskämpfe über die Konfrontation von Vermieter*innen hinaus in die Auseinandersetzung mit dem Staat gehen. Es geht darum, den Machtzusammenhang aus Kapital und Staat zurückzudrängen und den eigenen Handlungsspielraum auszuweiten. Je nach taktischer Lage könnten Mieter*innen etwa für ein kollektives Vertrags- und Mitbestimmungsrecht als ‚verfasste Mieter*innenschaft‘ kämpfen oder für das Recht, im Streik Miete zurückzuhalten. Zwangsräumungen sollten, wo immer möglich, verhindert und als parteiisches Machtinstrument politisiert werden. Jedes vom Staat erkämpfte Stück Bewegungsfreiheit und jeder Fortschritt im Organisationsaufbau verbessert die Position für die zentrale Auseinandersetzung: Die Aufhebung des vom Staat geschaffenen Mieteigentums in der Vergesellschaftung des Wohnraums.

Je nach gesellschaftlicher Situation kann und sollte die Auseinandersetzung mit dem Staat sowohl außerhalb als auch innerhalb der Parlamente geführt werden. Die zentrale Erkenntnis bleibt dabei: Am Aufbau demokratischer Bewegungsmacht führt kein Weg vorbei. Sie ist Voraussetzung für den Übergang in eine postkapitalistische Gesellschaft. Eine demokratische Vergesellschaftung ist eine kollektive Selbstermächtigung, wie sie im Bewegungsaufbau ihren Anfang nimmt. Abkürzungen gibt es nicht. Der Staat kann und wird uns Selbstermächtigung nicht von oben herab schenken.

Ein Regierungsszenario

Falls sich die LINKE auf eine Regierungsstrategie einlässt, sollte wohnungspolitisch mindestens der Grundsatz ‚do no harm‘ gelten. Das bedeutet, dass sie alle staatlichen Schikanen gegen Obdachlose, Abschiebungen und Zwangsunterbringungen von Geflüchteten sowie die Wohnungszuweisung für Hartz-IV-Betroffene sofort beendet muss. Staatlich geförderte Verdrängung muss gestoppt werden. Die Regierung sollte jede Möglichkeit nutzen, um Zwangsräumungen auszusetzen und sich öffentlich gegen Räumungsklagen und die ausführenden Staatsorgane stellen. Letztlich müssen Zwangsräumungen und jegliche Sanktionen gegen Mieter*innen abgeschafft werden. Eine linke Regierung darf nicht gewaltsam die Profitinteressen von Vermieter*innen durchsetzen.

Als erste Reformen sollte die Regierung nach dem Berliner Modell alle Immobilienkonzerne mit über 3000 Wohnungen vergesellschaften, die Mieten durch einen dauerhaften Mietendeckel senken, und den Börsengang von Vermietungsgesellschaften verbieten. Auch kommunale Wohnungsunternehmen müsste eine linke Regierung vergesellschaften, um deren Profitstreben und Diskriminierungspraktiken zu unterbinden. Vergesellschaftung darf nicht Verstaatlichung bedeuten. Eine Anstalt öffentlichen Rechts in der Hand von Bewohner*innen, Angestellten und Stadtgesellschaft inklusive Vertreter*innen diskriminierter Gruppen könnte die geeignete juristische Form sein. Sollten eine direkte Enteignung mit zu großen Hürden oder Kosten verbunden sein, könnte eine linke Regierung das Geschäftsmodell von Immobilienkonzernen auch durch geschickte Auflagen verunmöglichen und sie so zum Verkauf zwingen. Die breite Unterstützung für ‚Deutsche Wohnen Enteignen‘ zeigt, dass die Forderung nach Vergesellschaftung schon jetzt große Zustimmung findet. Es wäre strategisch falsch und würde die Bewegung schwächen, sollte eine linke Regierung dahinter zurückbleiben.

Sollten diese Reformen absehbar nicht durchzusetzen sein – aus Rücksicht auf die Koalitionspartner*in, die ‚öffentliche Meinung‘ oder inner-parteiliche Differenzen – dann sollte die LINKE jede Regierungsbeteiligung strikt ablehnen. Anstatt im Streben nach dem ‚Machbaren‘ die Chancen einer großen linken Bewegung zu verspielen, könnte sie deutlich mehr im Organisationsaufbau und der direkten Auseinandersetzung mit Immobilienkapital und Regierenden erreichen.

Würden die genannten Reformen tatsächlich durchgesetzt, so wären noch immer ca. zwei Drittel aller Mietwohnungen in Privatbesitz, es gäbe weiterhin einen kapitalistischen Wohnungsmarkt und sogar Vermietungsgesellschaften mit bis zu 3000 Wohnungen. Trotzdem wäre ein gewaltiger Gegenangriff sicher. Nicht nur Immobilienkonzerne, sondern nationale wie internationale Banken und Konzerne würden sich sofort auf eine solche Regierung stürzen. Es gäbe Diffamierungskampagnen, Investitions- und Kreditvergabestreiks. An einen langsamen gesellschaftlichen Wandel unter Führung der Linksregierung wäre nicht mehr zu denken. Ohne die Unterstützung des Kapitals für Arbeitsplätze, Steuern und Legitimation; ohne die Unterstützung reaktionärer Staatsorgane wie der Polizei würde die vermeintliche ‚Regierungsmacht‘ dahinschmelzen.

Die Chance auf demokratischen Wandel

Ein ernst gemeintes Transformationsprojekt muss von der demokratischen Macht einer gut organisierten, erfahrenen und hochpolitisierten Bewegung getragen sein. Eine solche Bewegung entsteht nicht dadurch, dass die LINKE an der Regierung ist. Sie muss in langen Jahren und kontinuierlichen Kämpfen aufgebaut werden. Also jetzt. Die Bewegung kann und muss selbst die Macht aufbauen, um Kapital und Staat zu konfrontieren, egal, wer dann an der Regierung sitzt.

Es stellt sich uns nicht die Regierungs- sondern die Bewegungsfrage. In der Wohnungspolitik ist längst viel in Bewegung, es gibt großartige Initiativen, die Mitarbeit und Weiterentwicklung brauchen können, aber auch noch viele Städte ohne starke Mieter*innenbewegung. Die Aufgabe ist groß: Als in Diversität vereinte Bewegung den Kampf um die Vergesellschaftung des Wohnraums führen, ohne dem Kapital Raum für Ausflüchte und Spaltungen zu lassen. Mit dem Einsatz steigt jedoch auch der potenzielle Gewinn: Gelingt es uns, das Mieteigentum zurückzudrängen, fordern wir den Kapitalismus als Ganzes heraus.Diese wunderbare Chance und die Erfahrung der Selbstermächtigung in gemeinsamen Kämpfen: Das sollten wir uns nicht entgehen lassen!