Kategorie: Regierungsdebatte

Regieren und die LINKE – wo bleibt der Internationalismus?

von Nabil Sourani

Sollte die LINKE regieren? Diese Frage ist falsch gestellt. Für die Bewegungslinke muss im Vordergrund stehen, wie das kapitalistische System abgeschafft werden kann; wie alle Bereiche des Lebens – allen voran Staat und Wirtschaft – demokratisiert und eine globale ökosozialistische Gesellschaft aufgebaut werden kann. Dafür braucht es viele Analysen und Diskussionen: Darüber, was oder wer unsere Macht ist; wie sie sich organisieren lässt; was für eine Partei das voraussetzt; wer ihre Gegner:innen sind; was der Staat ist; was mit Ökosozialismus gemeint ist. Zwar hat die Bewegungslinke einige dieser Punkte bereits andiskutiert, was allerdings völlig fehlt, ist die Einsicht, dass Anti-Kapitalismus nur international funktionieren kann.  

Historische Lehren 

Bisherige Versuche, den Kapitalismus zu überwinden, scheiterten häufig an imperialistischer Einmischung. Da wäre die Russische Revolution von 1917: Während die Rätedemokratie begann, den bürgerlichen Staat zu ersetzen, formierte sich die Konterrevolution. Sie wurde wesentlich von westlichen Mächten unterstützt. Was war der einzige Weg, damit die Revolution noch hätte gelingen können? Das Anfachen der Arbeiter:innenbewegung in den Kernstaaten, insbesondere aber in Deutschland, und der internationale Übergang in den Sozialismus. Lenin meinte noch 1917: »Und die russischen Räte […] stehen in ihren Schritten zum Sozialismus nicht allein. Wären wir allein, so würden wir diese Aufgabe nicht friedlich und bis zuletzt bewältigen, denn diese Aufgabe ist ihrem Wesen nach international.« (https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/lenin-1917/wladimir-i-lenin-die-russische-revolution-und-der-buergerkrieg)

Internationalismus wurde von den Bolschewiki als Voraussetzung gesehen, um den friedlichen und demokratischen Übergang zu gewährleisten. Die Strategie ging nicht auf. Zwar gewannen die Revolutionär:innen den Krieg, infolge der Verwerfungen und der nationalen Isolation ihrer Revolution setzte sich aber der bürokratische Apparat um Stalin durch und gab die Parole vom »Sozialismus in einem Land« raus. Das Ergebnis: Ein autoritärer Staatskapitalismus, der alles andere war als ein Weg in eine freie Gesellschaft. Revolutionär:innen auf der ganzen Welt haben später ähnliche Erfahrungen gemacht. Sichtbar wurde das insbesondere in Lateinamerika – einer Region, die von den USA noch immer als ihr »Hinterhof« betrachtet wird.

Auf Basis der historischen Erfahrungen lässt sich also feststellen: Jeder Versuch, eine postkapitalistische Gesellschaft aufzubauen, muss international gedacht sein. Mit nationaler Isolation droht nicht nur das Ende der Demokratisierung, sondern es treten auch ganz reale wirtschaftliche und geopolitische Probleme hervor. Stellen wir uns etwa einen Sozialismusversuch allein in der Bundesrepublik vor: »Wie könnte ein isoliertes Deutschland Nahrungsmittel aus kapitalistischen Ländern importieren? Woher kommen Rohmaterialien für die industrielle Produktion? Und: wie würde sich Deutschland in einem Staatensystem gegen imperialistische Mächte durchsetzen können?« (https://rossana-online.de/2021/05/die-linke-und-das-regieren-es-ist-eine-falle/).

Wir sind nicht nur bei einem Sozialismusversuch in Deutschland und Europa auf internationale Unterstützung angewiesen, sondern antikapitalistische Bewegungen in anderen Weltregionen, insbesondere im globalen Süden, müssen sich ebenfalls auf uns verlassen können.

Mit Unterstützung ist nicht der Schulterschluss mit Diktatoren à la Pol Pot, Hồ Chí Minh oder Stalin wie in den 60ern und 70er-Jahren gemeint. Keine imperialistische Macht darf sich woanders einmischen können: Egal ob die USA, Deutschland, Russland oder China. Nur so sind Menschen imstande, sich gegen Diktaturen und Kapitalismus erfolgreich wehren zu können. Einmischung von außen spielt den Herrschenden in die Hände; zum Beispiel indem sie große Teile der Bevölkerung hinter dem Diktator gegen das Ausland zusammenschweißt oder weil – viel schlichter – die Diktatoren unmittelbar finanziell und militärisch unterstützt werden. Ohne Putins Russland wäre Bashar al-Assad längst Geschichte. Ebenso wäre Saddam Hussein im Irak ohne Bush Senior lange vor dem Einmarsch der US-Truppen gestürzt worden.

Internationalismus ist also nicht nur eine moralische Frage: Internationalismus muss Grundbaustein jeder antikapitalistischen Strategie sein. Internationalismus ist Bedingung linker Macht. Dementsprechend muss auch jetziges Handeln darauf ausgerichtet sein.

Sind die Parteien bereit, internationalistisch zu regieren?  

In der bisherigen Diskussion in der Bewegungslinken findet Internationalismus kaum Platz. Zwar gab es Veranstaltungen zu antimuslimischem Rassismus und unorganisierten Austausch zur Palästinafrage, aber keine Antworten darauf, was sie für die Strategie zur Überwindung des Kapitalismus implizieren. So wird auch die Regierungsfrage ausschließlich national gedacht – doch selbst wenn dies anders wäre, würde die praktische Umsetzung von Internationalismus durch den Druck des Systems und der Regierungskoalition versperrt werden. 

Die im Bundestag vertretenen Parteien fordern geschlossen ein Ja zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Die LINKE würde auf massive Gegenwehr stoßen und nichts deutet darauf hin, dass die SPD oder die Grünen ihre jetzigen außenpolitischen Strategien überdenken; geschweige denn mit dem deutschen Imperialismus brechen. Die Integration der beiden Parteien in den Staat ist eine Geschichte der Distanzierung von linken Positionen – und einige der Leute, die für die Kriege in Jugoslawien und Afghanistan verantwortlich sind, sind noch immer einflussreich. Sie setzen sich nicht einfach durch weniger linke Strategien von der LINKEN ab, sondern durch grundsätzlich andere Einschätzungen von Kapitalismus und Imperialismus.

Und: Nicht einmal die LINKE ist durchweg antimilitaristisch eingestellt. Dietmar Bartsch zieht Ausnahmen für Waffenexporte in Erwägung und Gregor Gysi möchte endlich das »Ja« zur NATO. Der Druck Richtung stabile Mehrheiten »links der Mitte« ist enorm. Er zwingt die LINKE zu Anpassungen. Wie wäre dann Internationalismus zu garantieren? Durch Beschlüsse und Haltelinien? In den Bundesländern, in denen die LINKE regiert, werden bereits Erfahrungen damit gemacht, was diese im Ernstfall bedeuten. Die Partei möchte: »Abschiebungen stoppen und Bleiberecht ausbauen, Seenotrettung sicherstellen«. In Berlin, Bremen oder Thüringen werden aber keine Abschiebungen gestoppt. Rote Haltelinien werden einfach überschritten. Wo ist der breite Aufschrei aus der LINKEN oder auch nur aus der Bewegungslinken? Das Fehlen lässt befürchten, dass es ihn genauso wenig geben wird, wenn eine Linksregierung auf Bundesebene den Bundeswehreinsatz in Mali weiterführt.

…und wo stehen die deutschen Staatsapparate?

Um herauszufinden, auf wessen Seite der Staat steht, braucht es nur einen Blick in den Nahen Osten und Nordafrika. 

Die Revolutionen von 2011, die Diktaturen hinwegfegten, verschlief die LINKE. Wird das Thema im Parteiumfeld angesprochen, werden die Umbrüche oft als erfolglos abgespeist – »Arabischer Winter« halt. Sicher, in einigen Staaten konnten sich Diktatoren vorerst behaupten. Doch dies gelang nur durch aktive Deckung imperialistischer Mächte, darunter Deutschland. Mit Material, Waffen und Ausbildung »Made in Germany« werden in Ägypten, Bahrain, Marokko, Tunesien oder Jemen revolutionäre Bestrebungen zerstört und »Ordnung« stabilisiert. Die Sicherheitssektoren der gesamten Region werden militärisch und polizeilich ausgebaut. Künftige Aufstände sollen zerschlagen werden und neu geschaffene Grenzregime – die, wie bereits geschrieben, die Regierungslinke in Deutschland nicht abbaut – lassen die Bevölkerung im Elend zurück. Gerahmt als »Sicherheitssektorreform« durch »Hilfe zur Selbsthilfe« können sich die Regime mit (neuer) Härte gegen die Menschen stellen. Im selben Atemzug sahnt das deutsche Kapital ab – und Siemens feiert in Ägypten den größten Auftrag seiner Geschichte. Statt auf Revolution stehen die Zeichen auf Konterrevolution. 

Um auf den Widerstand gegen ein internationalistisches Regierungsprogramm zurückzukommen: Wie bereits geschrieben, würde er aus der SPD und von den Grünen kommen; selbst aus Teilen der LINKEN – Menschen, die unter Abdelfattah el-Sisis Diktatur in Ägypten oder unter israelischer Besatzung leben, sind eben nicht wahlentscheidend. Dazu käme aber nahezu der gesamte deutsche Sicherheitsapparat, der sich aktiv gegen die Linksregierung stellen würde: Oder würden Geheimdienste und Polizei auf einmal zustimmen, wenn die Grenzen wirklich geöffnet werden? Wenn die deutsche Linksregierung plötzlich Gruppen unterstützt, die die weltweiten Stabilitätsanker – Diktaturen – stürzen wollen; wenn die thawra oder die revolución neu entfacht würde? Würde es die Waffenindustrie akzeptieren, Pleite zu gehen, weil sie keine Waffen mehr exportieren kann? Und fände es das Entwicklungsministerium einfach in Ordnung, keine freien Märkte mehr zu fördern?

Für eine Strategie von unten 

Die Regierungsstrategie geht davon aus, dass die genannten Staatsapparate einfach von innen heraus gesprengt werden können und der Widerstand dadurch gebrochen wird. Historisch gibt es aber keine Belege dafür, dass eine solche Strategie funktionieren kann – und theoretisch ist dies ebenso fraglich. (https://rossana-online.de/2021/05/die-linke-und-das-regieren-es-ist-eine-falle/) Erforderlich wäre stattdessen der Bruch mit dem Staat und die demokratische Selbstorganisation von unten. Antonio Gramsci schrieb: »[N]ach den revolutionären Erfahrungen Rußlands, Ungarns und Deutschlands der sozialistische Staat sich nicht in den Institutionen des kapitalistischen Staates verkörpern kann, sondern – verglichen mit ihnen, sogar verglichen mit der Geschichte des Proletariats – in einer grundlegend neuen Schöpfung.« (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/gramsci/1919/07/staat.html). 

Regieren im Kapitalismus ist dagegen der Versuch, eine Abkürzung in den Ökosozialismus zu finden – diese gibt es aber nicht. Solange wir an dem Versuch festhalten, kann linken Bewegungen weltweit nicht der Rücken gestärkt werden und wir verlieren die Voraussetzungen für einen demokratischen Übergang. Die kommenden 10-15 Jahre werden nichts daran ändern, falls die LINKE weiterhin aufs Regieren schielt.

Dagegen mag eine revolutionäre, anti-staatliche Strategie von unten, wie sie von Gramsci befürwortet wird, mühsam und langsam erscheinen. Allerdings kann sich die Situation, in der wir uns befinden, schnell ändern, was unter anderem die Revolutionen in Tunesien und Ägypten bewiesen haben. Kaum jemand hätte sie Mitte der 2000er für möglich gehalten. Dies soll nicht heißen, dass wir einfach eine solche revolutionäre Situation abwarten können: Im Gegenteil, Bewegung und Partei müssen jetzt aufgebaut werden und internationale Solidarität muss jetzt mitgedacht werden – sonst wird es keinen demokratischen Wandel hin zu einer ökosozialistischen Gesellschaft geben.

Politische Parteien existieren, um Verantwortung zu übernehmen!

von Dennis Riehle

Ich bin überzeugt: Das aktuelle Abschneiden von DIE LINKE in den Umfragen ist auch ein Resultat dessen, dass wir den Wählern keine klare Antwort darauf geben können, ob wir zur Übernahme von Verantwortung in einer zukünftigen Bundesregierung bereit wären. Bereits beim digitalen Parteitag, der das neue Führungsduo an die Spitze wählte, konnte die ausführliche Diskussion zum Thema nicht dazu beitragen, ein geschlossenes Bild der Partei zu zeichnen. Prinzipiell ist das auch nicht schlimm, denn Meinungsvielfalt adelt eine politische Kraft in demokratischen Systemen, denn sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur politischen Willensbildung des Einzelnen – in ihren eigenen Reihen und darüber hinaus. Wenn es allerdings um zentrale Fragen geht, so wünscht sich der Bürger Klarheit. Bis heute konnte man sich  bei den LINKEN nicht eindeutig dazu bekennen, für eine generelle Regierungsbeteiligung auf Bundesebene bereit zu sein. Schon bei uns im „Ländle“ hatte man sich im diesjährigen Wahlkampf defensiv gezeigt und damit geworben, im Landtag lediglich die Oppositionsrolle anstreben zu wollen. Für eine Regierungsbeteiligung scheint man in beträchtlichen Teilen der Partei noch immer nicht startklar, begnügt sich mit der Aussicht, erneut von der Seitenlinie am politischen Geschehen teilzuhaben. Doch nicht nur mangelndes Selbstbewusstsein ist für die Zurückhaltung ursächlich. In manchen Flügeln herrscht die pure Angst davor, sich bei einer Grün-Rot-Roten Koalition auf massive Kompromisse einlassen und dafür von liebgewonnenen Positionen abrücken zu müssen. Zweifelsohne: Manche bangen gar um die Identität der Partei, weshalb ich es gut verstehen kann, wenn man bei der LINKEN eher auf die Wahrung der Ideale abzielt, anstatt manche Überzeugung von Bord zu werfen. Ich bin durchaus ein Anhänger der Devise: „Regieren: ja – aber nicht um jeden Preis“.

Trotzdem scheint mir in der zunehmenden Interessenlosigkeit der Bürger gegenüber der Linkspartei ein recht strukturelles Problem zu stecken: Wer nicht fähig dazu ist, seine Konzepte im Zweifel auch auf Herz und Nieren überprüfen zu lassen, der läuft Gefahr, eine immerwährende Randerscheinung zu bleiben. Und letztlich fehlt es der LINKEN an Regierungserfahrung im Bund, die notwendig wäre, um realsozialistische Überlegungen auf deren Zustimmung im Volk testen zu können. Die Frage muss daher gestattet sein, ob sich eine politische Kraft im demokratischen Wettbewerb auf den Standpunkt zurückziehen kann, ihre Utopien nicht loslassen zu wollen – und damit als Partner für Koalitionsregierungen praktisch ausscheidet. Gemäß Verfassung und Parteiengesetz sollte jede politische Gruppierung prinzipiell dafür offen sein, sich am politischen Gestaltungsprozess zu beteiligen. Und ich gebe auch denjenigen recht, die darauf verweisen, dass die Verantwortung für das Land weit über den parteieigenen Interessen stehen muss. Deshalb scheint mir eine dauerhafte Verweigerung zu politischem Agieren überaus fragwürdig: Selbstverständlich darf und kann eine Partei für sich entscheiden, welche Grenzen zu überschreiten sie bereit ist. Manche politische Kraft in Deutschland greift im Zweifel eher nach der Macht – und ordnet die eigenen Ziele der Verlockung nach dem Kanzlersessel unter. Andere wiederum sind sich nicht zu schade, um im entscheidenden Moment die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es eben doch besser sei, „nicht zu regieren, als falsch zu regieren“. Ob die FDP diesen Satz nochmals wiederholen würde, ist fraglich.

Letztlich kann sich eine Partei aus meiner festen Überzeugung nicht dauerhaft ins Wolkenkuckucksheim zurückziehen. Auch illusionäre Vorstellungen über die Welt müssen irgendwann auf ihren Realitätsbezug abgeklopft werden. Damit ist keinesfalls gemeint, dass wir unsere Richtschnur abgeben. Doch wir müssen uns aus meiner Sicht entscheiden: Möchten wir der Vorstellung nachhängen, wie wir mit den Taliban auf der Isomatte im Zelt die Friedenspfeife rauchen – oder sind wir bereit dazu, in einem Regierungsbündnis dafür zu sorgen, dass Deutschland seine militärischen Kräfte aus Kriegsgebieten zurückzieht und sie in UN-Friedensmissionen sinnstiftend einbringt? Es hat ein wenig den Charakter von Selbstaufgabe, wenn wir uns demütig durch andere Parteien attestieren lassen, nicht regierungsfähig zu sein. Mein Ziel im politischen Tun war es seit jeher, Kompromisse nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, sondern Schnittmengen beim größten gemeinsamen Teiler zu finden. DIE LINKE muss sich entscheiden, ob sie eine Weltanschauungsgemeinschaft bleiben will, in der man die Hoffnung auf das Unerreichbare als Mantra vor sich herträgt – oder ob man sich aufrafft, möglichst viel der eigenen Vision im Hier und Jetzt umsetzen zu können. Wir sollten unsere Zuversicht auf irdischen Pazifismus mit der Wirklichkeit abgleichen, denn ich möchte nicht auf das Jenseits warten, bis die Menschheit von Waffen befreit ist. Damit dieser heute aussichtslos scheinende Zustand in Zukunft dennoch erreichbar ist, braucht es Etappen der Realisierung. Deswegen empfehle ich meiner Partei, im Blick auf das derzeit weit weg liegende Luftschloss nicht in Trance zu verharren, denn ich glaube auch nicht an die Wiederkehr des Messias – irgendwann. Stattdessen sollten wir nun erste Schritte im Kleinen gehen, indem wir unsere Maximalforderungen zwar nicht vergessen, aber mit Mindesterwartungen Regierungsverantwortung übernehmen – und damit zeigen, dass wir Politik ernst nehmen und dazu fähig sind, mit machbaren wie rationalen Plänen aktiv an ihr zu partizipieren. Denn solange wir in großen Teilen der Bevölkerung lediglich den Eindruck erwecken, nur Traumtänzer zu sein, bleiben wir für Viele schlichtweg belanglos.

Bewegungsorientierte Wohnungspolitik: Eine Frage der Mieter*innenmacht

von Toma El-Sarout

Steigende Mieten, Verdrängung und skrupellose Vermieter*innen – das Thema ‚Wohnen‘ ist seit Jahren in aller Munde. Problemstellung und Zielsetzung vieler linker Analysen ähneln sich: Wohnen darf nicht durch den Markt geregelt werden. Auch Verstaatlichung ist keine Lösung. Wohnen insgesamt muss vergesellschaftet werden. Das heißt: Wo, mit wem und zu welchen Kosten wir wohnen, sollten wir gemeinsam demokratisch und diskriminierungsfrei entscheiden.

Die Vergesellschaftung und damit das individuelle ‚Recht auf Wohnen‘ müssen wir dazu aber erst gegen Profit- und Herrschaftsinteressen durchsetzen.Es ist also eine Machtfrage, die für eine bewegungsorientierte Linke nur lauten kann: Wie bauen wir demokratisch und inklusiv Macht von unten auf, um unsere Ziele zu erreichen? Versteifen wir uns nicht auf ‚die Regierungsfrage‘ können wir unsere Ziele im Blick behalten, um offen nach den besten Strategien zu suchen.

Die Macht von Immobilienkapital und Staat

Das Immobilienkapital hat zunächst Marktmacht. Wir sind gezwungen, uns an einem bestimmten Ort mit einem bestimmten Einkommen eine Wohnung zu suchen. Werden wir etwa rassistisch, queerfeindlich oder ableistisch diskriminiert, stehen für uns noch weniger Wohnungen zur Auswahl. Währenddessen haben Vermieter*innen meist kein Problem damit, die Wohnung eine Weile leer stehen zu lassen, bis die gewünschte Miete gezahlt wird.

Der Staat toleriert die Macht des Immobilienkapitals nicht nur, er stellt sie aktiv her. ‚Mieteigentum‘ wäre nur ein Wort, wenn es die Gewalt der Zwangsräumung nicht gäbe. Erst die Staatsgewalt legt die Verfügungsmacht über Wohnungen in private Hand. Zugleich entpolitisiert der Staat die Wohnungsnot und hält eine Drohkulisse aufrecht: Obdach- und Wohnungslosigkeit werden nicht als gesellschaftliches Problem beendet, sondern staatlich versteckt, verwaltet und kriminalisiert.

‚Unternehmerische Städte‘ fördern – vom Staat in Konkurrenz zueinander gesetzt – aktiv Gentrifizierung und Verdrängung, um die erwünschten Bewohner*innen und Unternehmen anzulocken. So nutzt die Stadt Duisburg seit Jahren scheinheilige Baurechtsargumente und brutalen Antiziganismus, um Sinti*zze und Roma*nja aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Viele öffentliche Wohnungsunternehmen handeln längst nach Profitinteressen und für die Bremer Brebau belegt ein Leak jetzt systematisierten Rassismus und Queerfeindlichkeit bei der Wohnungsvergabe. Hartz-IV-Betroffenen und Geflüchteten zwingt der Staat Wohnorte und -bedingungen auf. Er ermöglicht so räuberische Geschäftsmodelle und subventioniert überhöhte Mieten auch noch mit Steuergeldern. Auf dem Wohnungsmarkt steht uns somit ein mächtiger Zusammenhang aus Staat und Kapital gegenüber.

Die Grenzen des ‚Machbaren‘

Die Profite der Immobilienwirtschaft sind längst ein wichtiger Stützpfeiler des krisenhaften Neoliberalismus. Anders als vor einigen Jahrzehnten, wird jeder Versuch, den Wohnungsmarkt auch nur einzuschränken, auf aktiven Widerstand und auf die stummen Zwänge unseres Wirtschaftssystems stoßen. Dennoch plädieren einige dafür, an der Regierung in vielen kleinen Schritten immer wieder das ‚konkret Machbare‘ durchzusetzen und so in der Summe das Privateigentum schleichend zu überwinden. Hinter dem ‚Machbaren‘ steckt jedoch meist ein Bündnis mit Kapitalfraktionen. Die letzte große Mieter*innenbewegung in Deutschland zerbrach in den 70ern, als die beteiligten Akademiker*innen ihren persönlichen Wohn- und Gestaltungsfreiraum bekommen hatten. Die zuvor selbstorganisierte Mieter*innenberatung bot ihnen nun staatlich finanzierte Stellen, wo sie bald im ‚partizipativen Quartiersmanagement‘ die neue neoliberale Regierungsweise durchsetzten. In der Umsetzung des ‚Machbaren‘ wurden sie – meist unfreiwillig – zu Geburtshelfer*innen des Neoliberalismus, während die migrantischen Arbeiter*innen der Bewegung auf der Strecke blieben.  Die Mieter*innenbewegung war für Jahrzehnte geschwächt, während Verdrängung und Mietpreise erst richtig in die Höhe schossen.

Das rastlose Profitstreben des Immobilienkapitals trug die ‚Wohnungskrise‘ jetzt erneut in die Mittelschicht und schuf die Grundlage für die heutige Bewegung. Wieder droht ein trügerisches Bündnis des Machbaren: Die Wohnkosten für ‚ihre‘ Fachkräfte sind der Industrie- und Handelskammer längst zu hoch, die Bauwirtschaft drängt auf staatliche Förderung und der ‚Grüne Deal‘ der EU-Kommission sieht eine massiv subventionierte Renovierungswelle vor, um Klimaschutz und Konjunktur zu fördern.

Gestützt auf die Macht von Kapital und bürgerlichen Parteien wäre demnach Folgendes ‚machbar‘: Eine staatliche Subventionierung der Wohnungswirtschaft im Gegenzug für einige Auflagen, um den ‚sozialen Frieden‘ wieder herzustellen und den krisenhaften Kapitalismus für eine neue Runde der Ausbeutung zu sichern. Der notwendigen Vergesellschaftung von Wohnraum wären wir keinen Schritt näher gekommen. Die in Jahren mühevoll aufgebaute Macht der Mieter*innenbewegung wäre zerspalten zwischen ‚pro- und anti-Reform‘; zwischen privilegiert Eingebundenen und weiterhin Ausgegrenzten. Die Chance, die Politisierung so vieler Menschen in einem gesamtgesellschaftlichen Transformationsprojekt aufgehen zu lassen, wäre vertan. Damit birgt das ‚Machbare‘ die Gefahr, uns erneut weit zurückzuwerfen.

Die Chancen von Bewegungsmacht

Zum Glück ist dieses Szenario nicht alternativlos. Wir können und sollten unabhängig von Staat und Kapital unsere demokratische Macht aufbauen und so die Grenzen des Machbaren zum Einsturz bringen. Die Mieter*innenbewegung hat hier bereits viel erreicht. Die Macht des Immobilienkapitals beruht darauf, Mieter*innen zu konkurrierenden Marktakteur*innen zu degradieren. Die Gegenstrategie liegt daher in der kollektiven Selbstorganisation.

Angesichts eines segmentierten Wohnungsmarkts gilt es dabei nicht nur ‚die Kämpfe zu verbinden‘: Wohnungskämpfe sind nur dann antikapitalistisch, wenn sie antirassistisch, queer und feministisch sind. Für eine rassistisch diskriminierte Arbeiter*in ist der Kampf gegen Rassismus und für eine geeignete Wohnung ein und dasselbe. Queere und feministische Kämpfe sind unerlässlich, um die Dominanz sexistischer und heteronormativer Wohnmodelle zu überwinden: Erst wenn wir gemeinsam über die Arten des Zusammenlebens entscheiden, die Wohnungen ermöglichen, können wir von einer demokratischen Vergesellschaftung des Wohnens sprechen.

Um die Schlagkraft zu erhöhen, könnte eine Ausweitung und Verstetigung der Organisation helfen, wie sie aktuell unter dem Stichwort ‚Mieter*innengewerkschaft‘ diskutiert wird. Eine solche Organisation sollte vor allem auch Menschen eine Mitgliedschaft ermöglichen, die nicht die Zeit und Energie haben, regelmäßig auf Plena geben. So könnte sie über einzelne Auseinandersetzungen hinweg einen großen Organisierungsgrad aufrechterhalten, um nötigenfalls schnell und kollektiv zu handeln. Mögliche Vorbilder wären z.B. die London Renters Union, die L.A. Tenants Union oder das Sindicat de Llogateres in Barcelona. Gerade die großen Immobilienkonzerne bieten den idealen Ansatzpunkt für die gemeinsame Organisation ihrer hunderttausenden Mieter*innen. Schon der massenhaft automatisierte Widerspruch gegen dubiose Betriebskostenabrechnungen könnte die nur halb-legalen Geschäftspraktiken in Bedrängnis bringen. Spielen die Mieter*innen das Spiel aus Mieterhöhung und Verdrängung nicht mehr mit, könnte sich die Marktmacht schließlich gegen das Kapital wenden.

Die Auseinandersetzung mit dem Staat

Das größte Hindernis für den Aufbau kollektiver Handlungsmacht ist der Staat. Er vereinzelt Mieter*innen vertragsrechtlich und stellt Vermieter*innen die Gewalt der Zwangsräumungen zur Seite. Schon deshalb müssen Wohnungskämpfe über die Konfrontation von Vermieter*innen hinaus in die Auseinandersetzung mit dem Staat gehen. Es geht darum, den Machtzusammenhang aus Kapital und Staat zurückzudrängen und den eigenen Handlungsspielraum auszuweiten. Je nach taktischer Lage könnten Mieter*innen etwa für ein kollektives Vertrags- und Mitbestimmungsrecht als ‚verfasste Mieter*innenschaft‘ kämpfen oder für das Recht, im Streik Miete zurückzuhalten. Zwangsräumungen sollten, wo immer möglich, verhindert und als parteiisches Machtinstrument politisiert werden. Jedes vom Staat erkämpfte Stück Bewegungsfreiheit und jeder Fortschritt im Organisationsaufbau verbessert die Position für die zentrale Auseinandersetzung: Die Aufhebung des vom Staat geschaffenen Mieteigentums in der Vergesellschaftung des Wohnraums.

Je nach gesellschaftlicher Situation kann und sollte die Auseinandersetzung mit dem Staat sowohl außerhalb als auch innerhalb der Parlamente geführt werden. Die zentrale Erkenntnis bleibt dabei: Am Aufbau demokratischer Bewegungsmacht führt kein Weg vorbei. Sie ist Voraussetzung für den Übergang in eine postkapitalistische Gesellschaft. Eine demokratische Vergesellschaftung ist eine kollektive Selbstermächtigung, wie sie im Bewegungsaufbau ihren Anfang nimmt. Abkürzungen gibt es nicht. Der Staat kann und wird uns Selbstermächtigung nicht von oben herab schenken.

Ein Regierungsszenario

Falls sich die LINKE auf eine Regierungsstrategie einlässt, sollte wohnungspolitisch mindestens der Grundsatz ‚do no harm‘ gelten. Das bedeutet, dass sie alle staatlichen Schikanen gegen Obdachlose, Abschiebungen und Zwangsunterbringungen von Geflüchteten sowie die Wohnungszuweisung für Hartz-IV-Betroffene sofort beendet muss. Staatlich geförderte Verdrängung muss gestoppt werden. Die Regierung sollte jede Möglichkeit nutzen, um Zwangsräumungen auszusetzen und sich öffentlich gegen Räumungsklagen und die ausführenden Staatsorgane stellen. Letztlich müssen Zwangsräumungen und jegliche Sanktionen gegen Mieter*innen abgeschafft werden. Eine linke Regierung darf nicht gewaltsam die Profitinteressen von Vermieter*innen durchsetzen.

Als erste Reformen sollte die Regierung nach dem Berliner Modell alle Immobilienkonzerne mit über 3000 Wohnungen vergesellschaften, die Mieten durch einen dauerhaften Mietendeckel senken, und den Börsengang von Vermietungsgesellschaften verbieten. Auch kommunale Wohnungsunternehmen müsste eine linke Regierung vergesellschaften, um deren Profitstreben und Diskriminierungspraktiken zu unterbinden. Vergesellschaftung darf nicht Verstaatlichung bedeuten. Eine Anstalt öffentlichen Rechts in der Hand von Bewohner*innen, Angestellten und Stadtgesellschaft inklusive Vertreter*innen diskriminierter Gruppen könnte die geeignete juristische Form sein. Sollten eine direkte Enteignung mit zu großen Hürden oder Kosten verbunden sein, könnte eine linke Regierung das Geschäftsmodell von Immobilienkonzernen auch durch geschickte Auflagen verunmöglichen und sie so zum Verkauf zwingen. Die breite Unterstützung für ‚Deutsche Wohnen Enteignen‘ zeigt, dass die Forderung nach Vergesellschaftung schon jetzt große Zustimmung findet. Es wäre strategisch falsch und würde die Bewegung schwächen, sollte eine linke Regierung dahinter zurückbleiben.

Sollten diese Reformen absehbar nicht durchzusetzen sein – aus Rücksicht auf die Koalitionspartner*in, die ‚öffentliche Meinung‘ oder inner-parteiliche Differenzen – dann sollte die LINKE jede Regierungsbeteiligung strikt ablehnen. Anstatt im Streben nach dem ‚Machbaren‘ die Chancen einer großen linken Bewegung zu verspielen, könnte sie deutlich mehr im Organisationsaufbau und der direkten Auseinandersetzung mit Immobilienkapital und Regierenden erreichen.

Würden die genannten Reformen tatsächlich durchgesetzt, so wären noch immer ca. zwei Drittel aller Mietwohnungen in Privatbesitz, es gäbe weiterhin einen kapitalistischen Wohnungsmarkt und sogar Vermietungsgesellschaften mit bis zu 3000 Wohnungen. Trotzdem wäre ein gewaltiger Gegenangriff sicher. Nicht nur Immobilienkonzerne, sondern nationale wie internationale Banken und Konzerne würden sich sofort auf eine solche Regierung stürzen. Es gäbe Diffamierungskampagnen, Investitions- und Kreditvergabestreiks. An einen langsamen gesellschaftlichen Wandel unter Führung der Linksregierung wäre nicht mehr zu denken. Ohne die Unterstützung des Kapitals für Arbeitsplätze, Steuern und Legitimation; ohne die Unterstützung reaktionärer Staatsorgane wie der Polizei würde die vermeintliche ‚Regierungsmacht‘ dahinschmelzen.

Die Chance auf demokratischen Wandel

Ein ernst gemeintes Transformationsprojekt muss von der demokratischen Macht einer gut organisierten, erfahrenen und hochpolitisierten Bewegung getragen sein. Eine solche Bewegung entsteht nicht dadurch, dass die LINKE an der Regierung ist. Sie muss in langen Jahren und kontinuierlichen Kämpfen aufgebaut werden. Also jetzt. Die Bewegung kann und muss selbst die Macht aufbauen, um Kapital und Staat zu konfrontieren, egal, wer dann an der Regierung sitzt.

Es stellt sich uns nicht die Regierungs- sondern die Bewegungsfrage. In der Wohnungspolitik ist längst viel in Bewegung, es gibt großartige Initiativen, die Mitarbeit und Weiterentwicklung brauchen können, aber auch noch viele Städte ohne starke Mieter*innenbewegung. Die Aufgabe ist groß: Als in Diversität vereinte Bewegung den Kampf um die Vergesellschaftung des Wohnraums führen, ohne dem Kapital Raum für Ausflüchte und Spaltungen zu lassen. Mit dem Einsatz steigt jedoch auch der potenzielle Gewinn: Gelingt es uns, das Mieteigentum zurückzudrängen, fordern wir den Kapitalismus als Ganzes heraus.Diese wunderbare Chance und die Erfahrung der Selbstermächtigung in gemeinsamen Kämpfen: Das sollten wir uns nicht entgehen lassen!

Effektive Opposition als weitgehend ungenutzte Machtoption

von Lukas Eitel

Die Regierungsfrage geistert weiter durch die LINKE. Viele Mitglieder, Sympathisant*innen und Wähler*innen unserer Partei setzen große Hoffnungen in eine Regierungsbeteiligung der LINKEN. Die Erwartung besteht, damit Gestaltungsmacht zu erhalten und zumindest Teile des eigenen Programms durchsetzen zu können. Gleichzeitig sehen auch die vielen Befürworter die Schwierigkeiten, die eine Regierungsbeteiligung mit sich bringt. Trotzdem wird die Beteiligung an einer Regierung als alternativlos betrachtet, als einzige Machtoption. Ich will in diesem Debattenbeitrag, einen anderen Weg, eine andere Machtoption, aufzeigen. Und ich will betonen, wie weit wir eigentlich davon entfernt sind, sie auch tatsächlich zu nutzen. Das illustriere ich anhand eigener politischer Erfahrungen in meinem Kreis- und Landesverband.

Im ganz überwiegenden Teil der Bundesrepublik ist DIE LINKE in der Opposition. Das gilt für den Bund wie für den überwiegenden Teil der Bundesländer und Kommunen. Teilweise verfügt DIE LINKE dabei über eine Parlamentsfraktion, teilweise leider nicht. In meinem Kreisverband (Erlangen/Erlangen-Höchstadt) haben wir in der Stadt zwei Abgeordnete und im Landkreis keine. Im Landtag sind wir nicht vertreten.
Ungefähr so geht es sicher vielen Kreisverbänden in den westdeutschen Flächenländern, in denen weit über die Hälfte der deutschen Bevölkerung wohnen. Wenn wir die die Regierungsbeteiligung einmal außer Acht lassen, weil sie nicht möglich ist oder nicht sinnig ist, dann brauchen wir eine andere Machtoption – und die gibt es, denke ich, auch. Sie liegt in einer Oppositionsarbeit, die sich nicht darauf beschränkt zu meckern oder die eigenen Wahlergebnisse zu maximieren.

Ein bundespolitisches Beispiel dafür ist der Mindestlohn. Kurz gesagt: Die PDS hat die Forderung aufgestellt und sich nicht beirren lassen. So sind erst der DGB, dann die Grünen und schließlich auch die SPD nachgerückt und der Mindestlohn wurde nach 12 Jahren Kampf eingeführt. Der Schlüssel zum Erfolg der LINKEN war die langanhaltende Fokussierung in Kampagnen auf dieses Thema. Es war zentral in Wahlkampagnen, öffentlichen Verlautbarungen und auch immer wieder mit Flugblättern in der Breite kommuniziert.

Szenenwechsel zur Landespolitik. Vor den Landtagswahlen 2018 hat die bayerische Staatsregierung eine „Reform“ des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) auf den Weg gebracht. Sie ist, kurz gesagt, scheiße. Es standen Wahlen an, also haben das auch SPD und Grüne so gesehen. Noch wichtiger war ein breites gesellschaftliches Bündnis , in dem wir einen guten Fuß in der Tür hatten. Beim Widerstand gegen das PAG waren wir als Partei einigermaßen erfolgreich. Aus der Bewegung waren wir nicht wegzudenken und waren vor Ort sichtbar. Es hat zwar nur für ein paar kleine kosmetische Entschärfungen gereicht. Aber in Bayern, der rechten Ordnungszelle der Republik, hatte sich so überhaupt mal wieder eine breite Bewegung gegen die CSU-Regierung zusammengefunden. Wir sind also erfolgreich gescheitert. Mein Eindruck: Es gab besonders aus den Großstädten eine sich selbst tragende Mobilisierung. Das hat uns als LINKE (zu Recht) so glücklich gemacht, dass wir uns einfach dazu gestellt haben und es versäumt haben, den Druck in der Fläche weiter zu treiben und lokal in den Kreisen das Feuer weiter anzufachen. Dabei hätten wir als Partei die Strukturen gehabt, die der Bewegung gefehlt haben.

Anderes Beispiel. Letztes Jahr hat die bayerische Staatsregierung überraschend die inzwischen allseits bekannte FFP2-Pflicht an vielen Orten eingeführt. Grundsätzlich ein richtiger Schritt, aber die CSU hat die soziale Realität natürlich völlig ausgeblendet. Unser Landesverband hat darauf recht schnell reagiert. Eine Pressemitteilung, in der kostenlose FFP2-Masken für Bedürftige gefordert wurden, fand auch in der bürgerlichen Presse großen Anklang. Den Kreisverbänden wurde empfohlen, selbstständig Verteilaktionen durchzuführen. Letztlich hat schon das gereicht, damit die Staatsregierung zurückgerudert ist. Alle Sozialhilfebeziehenden erhielten einmalig einige Masken vom Staat, auch in einigen Kommunen konnten wir zusätzliche Zuteilungen erreichen. In Erlangen führte unser Dringlichkeitsantrag im Stadtrat zu weiteren Masken, relativ unbürokratisch verteilt von der Stadt. Aber da wäre mehr drin gewesen: Die Mitglieder und Aktiven für Plakataktionen oder Kundgebung haben wir, auch in der Fläche. Aber sie werden gar nicht angesprochen. Ein schnell gemachtes Aktionspaket mit Aufruftext und Druckvorlagen für Plakate/Flyer von der Landesebene reicht eigentlich schon. Das muss dann aber auch in direkter Ansprache an die Kreise verteilt werden, etwa über Regionalverantwortlichen im Landesvorstand.

Gehen wir noch eine Ebene weiter runter, in die Wirrungen der Kommunalpolitik. Sie ist in weiten Teilen davon geprägt, nahezu keine Befugnisse und Kompetenzen zu haben, auch wenn (linke) Kommunalpolitiker*innen das höchst ungern hören. Im Bereich der Verkehrspolitik geht dann aber doch einiges. Da hat DIE LINKE in Nürnberg vorgemacht, wie es geht! Jahrelang hat sie im Stadtrat und in Wahlkämpfen für das 365€-Ticket geworben. Möglicherweise nicht ganz zufällig vor den Kommunalwahlen 2020 haben sich die Genoss*innen dann zusammengesetzt und einen Plan entwickelt, um nicht nur zu kämpfen, sondern zu gewinnen: Ein Bürgerbegehren, initiiert von der LINKEN, aber unterstützt und getragen von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis. Nicht andere Parteien (die Großen waren sowieso dagegen) oder Politgruppen gaben den Ausschlag, sondern kleine Läden, Kultureinrichtungen und Kneipen – überall konnte man unterschreiben.

Damit zeigt Nürnberg, wie es geht. Es bleibt aber ein Leuchtturm. Im nur 17 Kilometer entfernten Erlangen sieht es mau aus. Keine guten Kontakte zu verkehrspolitischen Gruppen, keine Strukturen. Leider ist DIE LINKE in Erlangen wohl für die Gesamtpartei repräsentativer als Nürnberg.

Anderer Themenbereich im Kommunalen, die hohen Mieten. Lassen wir Berlin beiseite, ich erzähle euch hier eine kleine Erfolgsgeschichte aus Erlangen. Seit wahrscheinlich über einem Jahrzehnt fordern wir eine Wohnraumzweckentfremdungsverbotssatzung (wunderbares Wort, ich weiß) um einen Mittel gegen spekulativen Leerstand und AirBnB-Dauernutzung zu haben. Fast genauso lange hatten wir damit keinerlei Erfolg. So viele Anträge im Stadtrat wir auch gestellt haben, und so klug und geistreich unsere Argumente auch waren, die Stadtratsmehrheit war weiter dagegen. Doch es tat sich was in der Zivilgesellschaft. Einem vor allem von Gewerkschafter*innen und humanitär orientierten, wohlhabenden Stadtbürger*innen getragenes Sozialbündnis ist der Geduldsfaden gerissen. Sie haben recherchiert, eine Liste von leerstehenden Häusern erstellt und dann Kundgebungen direkt vor den Häusern organisiert. Das war ein Anblick! Und plötzlich gab es die Mehrheit im Stadtrat. DIE LINKE hat in diesem „Häuserkampf“ (O-Ton Sozialbündnis!) allerdings keine aktive Rolle gespielt. So haben die Kontakte und das „Standing“ gefehlt um bei anderer Gelegenheit wie dem Mietendeckel wieder anzuknüpfen. Und wir konnten den Kampf kommunal nicht weiterführen, etwa für Milieuschutzsatzungen. Dabei macht DIE LINKE in München vor, dass da was geht. Im produktiven Wechselspiel mit der Mieter*innenbewegung setzt sie hier im Stadtrat immer wieder etwas durch.

Was ich mit den vielen Anekdoten zeigen möchte: Opposition wirkt, wenn wir sie ernsthaft und zielgerichtet betreiben! Die positiven Beispiele dazu haben wir. Das dabei gewonnene Wissen und die Erfahrung müssen wir unbedingt austauschen, systematisieren und in der Fläche anwenden. Es gibt ein großes ungenutztes Potenzial, das wir in unserer eigenen Arbeit nutzen können, ganz ohne auf Gott, Kaiser oder linke Minister zu warten. Das ist richtig Arbeit, manchmal frustrierend und nicht so glamourös wie die Regierungsbank. Aber es ist der Weg nach vorne für eine moderne und verantwortungsvolle sozialistische Partei.

»Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«

Der letzte Versuch, eine rot-grüne Regierung von links zu prägen, ist lautlos gescheitert. Warum sollten wir es noch einmal probieren? Von Jan Maas

Vielleicht ist es schwer vorstellbar, aber der Regierungsantritt von Rot-Grün 1998 war mit einigen Hoffnungen verbunden. Das scheint in der LINKEN heute weitgehend vergessen. Es ist leicht erklärlich, denn die Wurzeln der Partei liegen im Widerstand gegen die »Agenda 2010«, die Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Anfang 2003 verkündete. Wut und Enttäuschung darüber prägen DIE LINKE bis heute. Doch vor 1998 diskutierte die Linke noch die Möglichkeit, mit einer rot-grünen Regierung einen »ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft« einzuleiten.

Das klingt bekannt. Heute spricht man zwar eher von einem »Green New Deal«, aber auch dieser wird oft an die Bedingung einer Regierung von Grünen, SPD und LINKEN geknüpft. Programmatische Schnittmengen zwischen diesen Parteien lassen sich schnell finden; heute wie damals. Doch mit den Gemeinsamkeiten auf dem Papier beschäftige ich mich hier nicht; auch nicht mit der Frage, ob eine linke Regierung überhaupt eine Voraussetzung für linke Reformen ist.

Mir geht es hier darum, in sehr groben Zügen zu umreißen, wie in den 90er Jahren die konservative Kohl-Ära zu Ende ging, welche gesellschaftlichen Kämpfe in dieser Zeit stattfanden, wie sich die Linke auf den Regierungswechsel vorbereitete, der sich ab 1996 abzeichnete, und was sie schließlich daraus machte. Denn der »ökologisch-soziale Umbau der Industriegesellschaft« blieb bekanntlich aus. Im Grunde ist das Stoff für einen viel ausführlicheren Artikel. Hier bleibt es jetzt bei einer Skizze.

Eine Niederlage der Linken

Es gäbe gute Gründe, bei der Entstehung der Grünen 1980 vor dem Hintergrund des Niedergangs der Bewegungen nach 1968 zu beginnen. Ich fange aber bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 an. Das hat unter anderem den Grund, dass der Spitzenkandidat der SPD damals Oskar Lafontaine war. Grundlage war das neue Berliner Programm, das 1989 verabschiedet worden war. Es hatte das Godesberger Programm von 1959 ersetzt. Interessant daran ist, dass der Diskussionsprozess seit 1984 die Herausforderung durch die neuen sozialen Bewegungen (und die Grünen) widerspiegelte.

Lafontaine hatte seit 1987 an der Spitze der Programmkommission gestanden. Das endgültige Programm war zwar gegenüber dem linken wachstumskritischen Entwurf abgeschwächt worden, nannte aber dennoch den »demokratischen Sozialismus« als Ziel und forderte einen »ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft«. Dann fiel wenige Wochen vor dem Programmparteitag im Dezember 1989 die Mauer. Am selben Tag, an dem die SPD ihr neues Programm verabschiedete, sprach Helmut Kohl in Dresden vor einem Meer von Deutschlandfahnen.

Die SPD hielt am »ökologisch-sozialen« Thema fest. Zugleich war Lafontaine Gegner einer schnellen Wiedervereinigung. Die Folge ist bekannt: Kohl gewann die Wahl haushoch. Lafontaine schlug daraufhin den SPD-Vorsitz aus und zog sich aus der Bundespolitik zurück. Die Grünen wiederum schieden aus dem Bundestag aus, nachdem sie zwei Legislaturperioden lang darin vertreten gewesen waren. Diese Niederlage beschleunigte die realpolitische Wende, die mit der ersten Regierungsbeteiligung in Hessen 1987 eingeleitet worden war. Parteilinke wie Harald Wolf und später Jutta Ditfurth verließen die Grünen. Kurz: Es sah gar nicht gut aus für einen »Umbau«.

Gesellschaftlicher Rechtsruck

Neben dem Ende der DDR 1990 und der Auflösung der Sowjetunion ein Jahr später war das katastrophale Wahlergebnis ein Grund dafür, dass sich auf der Linken mehrheitlich ein Gefühl der Niederlage und des Scheiterns breit machte. Der gesellschaftliche Rechtsruck, der nun folgte, verstärkte dieses Gefühl noch. Auf die Euphorie nach der Wiedervereinigung folgte bald Ernüchterung, als die Treuhandanstalt ihre Arbeit aufnahm und Betriebe abwickelte. Die CDU setzte auf Nationalismus und begann, Stimmung gegen Asylbewerber:innen zu machen.

Eine Serie von Morden, Pogromen und Anschlägen folgte, von denen Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen nur die bekanntesten bezeichnen (übrigens in Ost und West). In Reaktion darauf entstanden die ersten Lichterketten gegen Rechts, an denen sich im Winter 1992/93 in vielen Städten Hunderttausende beteiligten. Die Regierung Kohl hielt jedoch Kurs und steuerte auf die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl zu. Bedeutsamer war, dass die SPD trotz einer Großdemonstration in Bonn im Sommer 1993 der Regierung die dazu nötige Zweidrittelmehrheit verschaffte.

Tausende linke SPD-Mitglieder verließen daraufhin ihre Partei. Bündnis 90/Die Grünen (seit 1993 vereinigt) unterfütterten indessen 1994 mit Regierungsbeteiligungen in Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt (»Magdeburger Modell«) ihre realpolitische Wende. Zur Bundestagswahl im selben Jahr trat die SPD mit einer »Troika« an. Kanzlerkandidat war der Parteivorsitzende Rudolf Scharping. Neben Lafontaine, der für den »Umbau« stand, verkörperte Schröder den wirtschaftsfreundlichen Flügel der Partei. Nach einem profillosen Wahlkampf (Slogan: »Stark«) ging auch diese Wahl verloren.

Kurswechsel auf Rot-Grün

Auf dem folgenden Mannheimer Parteitag 1995 vermochte Scharping es nicht, der Partei eine neue Orientierung zu geben. Lafontaine entschloss sich (nach eigener Darstellung wurde er gebeten), spontan bei der Wahl zum Vorsitzenden gegen Scharping anzutreten. Obwohl die SPD-Linke nach dem »Asylkompromiss« stark geschwächt war, gewann Lafontaine. Er trat für einen Kurswechsel in dem Sinne ein, dass ein rot-grünes Bündnis offen als Ziel der SPD und als Weg, Kohl abzulösen, propagiert werden sollte. Das missfiel insbesondere dem wirtschaftsfreundlichen Flügel in der SPD.

Jedenfalls stand Rot-Grün bei Lafontaine damit ebenso für die bloße Möglichkeit, eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen, wie für ein (wenn auch begrenztes) Reformprojekt. Darum erhielten die Hoffnungen auf einen »ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft« langsam wieder Auftrieb, auch in der Linken. SPD-Linke, grüne Linke und PDS-Mitglieder organisierten unter der Überschrift »Crossover« eine Konferenz in Berlin Anfang 1996, um Chancen auszuloten, Rot-Grün von links zu prägen. Eingeladen hatten die Zeitschriften SPW, Andere Zeiten und Utopie kreativ.

Im Bericht der Koordinationsgruppe hieß es später: »Gegenwärtig entwickelt sich ›Rot-Grün‹ zu einer griesgrämigen, zankenden Verwaltung von Schnittmengen, von der keine nennenswerten Impulse für Veränderungen oder gar einen Aufbruch ausgehen. Demgegenüber wollen wir ein eigenständiges gemeinsames Reformprojekt herausarbeiten und deutlich machen.« (SPW 88, S. 20) Die Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Ideen in den eigenen Parteien sahen die Beteiligten von SPD und Bündnisgrünen realistischerweise kritisch.

So schrieb etwa SPW-Redakteur Ralf Krämer über die Lage in seiner Partei: »Die SPD wird immer mehr zu einer sozialpatriotischen Wirtschaftsförderungspartei.« (SPW 88, S. 9). Rüdiger Brandt von »Andere Zeiten« meinte, dass der Parteilinken bei den Bündnisgrünen unter dem Druck des »Machtzentrums der neuen Bundestagsfraktion« nur »die defensive Rolle der Verteidigung der Programmatik« blieb (SPW 88, S. 7). An Problembeschreibungen und Reformkonzepten mangelte es nicht, dafür aber an einer Strategie, die über die Einladung zur nächsten Konferenz hinausging.

Bewegung von unten

Unterdessen begann die gesellschaftliche Stimmung, sich nach links zu drehen. Deutschland galt aufgrund großer Schulden und hoher Arbeitslosigkeit als »kranker Mann Europas«. Finanzminister Theo Waigel (CSU) schnürte ein »Sparpaket«, das herben Sozialabbau bedeutet hätte. Die Gewerkschaften mobilisierten im Sommer 1996 mehrere hunderttausend Menschen zu einer Großdemo in Bonn. Wenig später verhinderte die IG Metall mit Streiks, dass die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – Teil des »Sparpakets« – umgesetzt wurde. Das »Sparpaket« war damit gescheitert, die Regierung an ihrem Kernprojekt geschlagen.

Im folgenden Winter initiierten Intellektuelle und Gewerkschafter:innen – darunter Bodo Ramelow – die »Erfurter Erklärung«, einen überparteilichen Aufruf für einen Politikwechsel. Sie entstand parallel zu und in Austausch mit dem »Crossover«-Projekt, hatte jedoch eine deutlich größere Wirkung in der Öffentlichkeit. Es entwickelte sich eine regelrechte »Anti-Kohl-Stimmung«, welche die SPD allerdings kanalisierte, anstatt sie zu schüren. Im Frühjahr 1997 stürmten protestierende Bergarbeiter aus Wut über den »Kohlekompromiss«, der ihre Arbeitsplätze gefährdete, die Bonner Bannmeile. Es war Oskar Lafontaine, der die Situation mit einer Rede beruhigte und die Kumpel mit Verweis auf die kommende Bundestagswahl wieder nach Hause schickte.

Nichtsdestotrotz blieb die »Anti-Kohl-Stimmung« auf der Straße spürbar. Zu Beginn des Wintersemesters 1997/98 protestierten Studierende in Gießen gegen die schlechten Bedingungen an ihrer Uni. Bald breitete sich die größte Studierendenbewegung seit 1968 von Hessen über Deutschland aus. Im Dezember wurde die Bonner Bannmeile ein zweites Mal in diesem Jahr gestürmt. Mit der Wahl Gerhard Schröders zum Kanzlerkandidaten 1998 signalisierte die SPD dann allerdings, dass auf Kohl kein »sozial-ökologischer Umbau der Industriegesellschaft«, sondern eine Modernisierung des »rheinischen Kapitalismus« folgen würde.

Harte Landung

Im Herbst 1998 war es dann tatsächlich so weit: Kohl verlor die Wahl und Deutschland hatte seine erste rot-grüne Regierung. Doch selbst bescheidene Reformprojekte des neuen Finanzministers Lafontaine zogen sofort Angriffe seitens des Kapitals auf sich. Über seinen Rückzug aus der Politik Anfang 1999 gibt es verschiedene Darstellungen von ihm. Zunächst argumentierte Lafontaine in seinen Buch »Das Herz schlägt links« mit dem mangelnden Rückhalt Schröders für seine Finanzpolitik. Später schob er die Vorbereitungen für den Krieg gegen Jugoslawien als Begründung nach.

Wie dem auch sei: Weder gegen das Eine noch gegen das Andere gab es aus den Reihen der SPD-Linken und der linken Bündnisgrünen, die auf einen »Umbau« orientiert hatten, wirksamen Widerstand. Die Friedensbewegung ging zwar auf die Straße, war aber durch die Begründung des grünen Außenministers Joseph Fischer, durch den Krieg werde ein neues Auschwitz verhindert, de facto gespalten. Ähnlich lähmend wirkte sich später der Einfluss der SPD in den Gewerkschaften aus. Der Farbbeutelwurf auf Fischer auf dem Parteitag in Neumünster stand symbolisch für die Machtlosigkeit der gesellschaftlichen Linken gegenüber der neuen Regierung in der ersten Zeit.

Die Tatsache, dass Rot-Grün eben nicht für einen »Umbau«, sondern für eine Modernisierung stand, führte zu einer Reihe von kleineren Austrittswellen aus den beteiligten Parteien in den folgenden Jahren. Zu denjenigen, die die SPD 1999 verließen, gehörte nicht nur der Autor dieser Zeilen, sondern beispielsweise auch Ralf Krämer, der in seinem Austrittsschreiben seine Auffassung begründete, »dass das weitere Festhalten an der parteipolitischen Orientierung auf die SPD für SozialistInnen keine überzeugende Perspektive mehr bietet«. (SPW 111, S. 49) Beim größten Teil dieser Austritte handelte es sich um individuelle Rückzüge ohne gemeinsame Perspektive.

Gründung der WASG und der LINKEN

Es dauerte bis zum Herbst 2003, bis sich gegen die Regierung Schröder ähnliche Proteste zeigten wie gegen Kohl in der Endphase. Der Auslöser dafür war die »Agenda 2010«, die das nachholte, was Waigel mit seinem »Sparpaket« 1996 nicht durchsetzen konnte. Dem trotz des Einflusses der SPD wachsenden Widerstand in den Reihen der Gewerkschaften gegen diesen Sozialabbau begegnete »Basta-Kanzler« Schröder mit dem Rauswurf von Funktionären wie Klaus Ernst und Thomas Händel.

Mit dem Aufruf von Ralf Krämer zu einer »Wahlalternative 2006« bot sich dann ein neuer organisatorischer Rahmen für diejenigen Linken, die SPD und Bündnisgrüne bereits verlassen hatten oder frisch rausgeworfen worden waren und noch nicht bei der PDS gelandet waren. Die Gründung der LINKEN aus WASG und PDS umfasst im Grunde organisatorisch genau diejenigen Kräfte, die vor 1998 versucht hatten, Rot-Grün von links zu prägen.

Ein anderes Übel

Selbstverständlich gibt es immer noch Linke in SPD und Bündnisgrünen. Und ebenso selbstverständlich kann es sein, dass es unter neuen Mitgliedern ohne frustrierende Vorgeschichte in diese Parteien Sympathien für einen »ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft«, einen »Green New Deal« oder sonst irgendein Reformprojekt gibt. Die Frage ist, welche Schlussfolgerung daraus zu ziehen ist, dass die letzte rot-grüne Regierung das nicht geliefert hat.

Offensichtlich mangelte es weder am Programm noch an Rückhalt. Rot-Grün wurde von großen gesellschaftlichen Mobilisierungen und Kämpfen ins Amt getragen. Unmittelbar vor der Wahl fanden noch zwei Großdemos statt: »Aufstehen für eine andere Republik«, initiiert von der »Erfurter Erklärung«, in Berlin und das erste Festival »Her mit dem schönen Leben« der DGB-Jugend in Frankfurt am Main. nach der Wahl beugte sich Rot-Grün dann allerdings nicht deren Bedürfnissen, sondern denen des Kapitals.

Dieser Prozess lief nicht konfliktfrei ab und er dauerte seine Zeit. Aber die Richtung war immer klar. Am Ende senkte die »Agenda 2010« die Lohnkosten für das Kapital deutlich und machte Deutschland zum Exportweltmeister. Auch der Tabubruch, sich an dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu beteiligen, folgte dem Interesse des Kapitals, in der internationalen Konkurrenz mehr Macht ausüben zu können. Er ebnete den Weg für die folgenden Einsätze wie in Afghanistan und Mali.

Darum war Rot-Grün auch kein kleineres Übel, sondern ein anderes Übel. Ja, es gab eine gesellschaftliche Liberalisierung im Vergleich zur Kohl-Ära durch die »68er an der Macht«. Insbesondere die Springer-Presse attackierte Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin wegen ihrer linken Vergangenheit hart. Aber auf der anderen Seite standen die Durchsetzung von Sozialabbau und Kriegseinsätzen durch den lähmenden Einfluss in den Gewerkschaften und der Friedensbewegung.

Das würden SPD und Bündnisgrüne jederzeit wieder versuchen. Sie sehen sich einem funktionierenden Kapitalismus verpflichtet. Die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft – zu der sie selbst in erheblichem Maße beigetragen haben – werden sie auf keinen Fall gefährden. Im Grunde zeigt der Begriff des »Green New Deal« schon, unter welchem Motto die nächste Modernisierungsrunde auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausgetragen werden soll. Eine Beteiligung der LINKEN daran würde nur dazu führen, dass sich die Partei den Bedürfnissen des Kapitals beugt und als Teil des Widerstands ausfällt.

Autor: Jan Maas ist seit 1990 aktiv in der antifaschistischen Bewegung. Von 1993-1999 war er Mitglied der SPD und der Jusos. 2004 trat er in die WASG ein. Derzeit ist er aktiv in der LINKEN Berlin Treptow-Köpenick und Mitglied der Bewegungslinken. 1995-2007 Mitglied von Linksruck. Seit 2007 Redakteur von marx21.