Kategorie: Regierungsdebatte

The Time is now: die Gelegenheit ergreifen! Warum eine Regierungsbeteiligung 2021 das Ziel der Linken sein muss

von Anne Trompa

Dies ist ein Diskussionsbeitrag zum Call for ideas: Die Bewegungslinke stellt sich die/der „Regierungsfrage“. Er spiegelt die Position der Autorin/des Autors wider, nicht der Bewegungslinken insgesamt. Wir freuen uns auf eine kontroverse, solidarische und lebendige Debatte. Wenn du Widerspruch, eine andere Perspektive oder Ergänzungen zum Beitrag hast, melde dich gerne zu Wort!

„Lassen Sie uns etwas tun, während wir die Chance haben… An diesem Ort, in diesem Moment, ist die ganze Menschheit wir, ob es uns gefällt oder nicht. Lassen Sie uns das Beste daraus machen, bevor es zu spät ist! (…) Was sagst du? “ (Samuel Beckett: Warten auf Godot)

In seiner Rede vor dem Kongress zur Vorstellung eines rund 2,4 Billionen Dollar schweren Investitionspakets sagte der amerikanische Präsident Joe Biden am 29.05.2021 einen Satz, der nicht weniger als eine ideologische Kehrtwende illustriert: „Trickle-down economics has never worked.“ Die anwesenden Demokraten im Kongress erhoben sich und applaudierten. Nicht ohne Grund: Die von Biden aufgelegten Programme in Höhe von 1,3 und 2,4 Billionen Dollar sind größer als Roosevelts New Deal. Sie haben schon jetzt dazu geführt, dass die real verfügbaren Einkommen der Amerikaner:innen trotz über 10%ger Arbeitslosigkeit gestiegen sind. Aber die Qualität der Programme geht über ihre bloße Höhe hinaus. Die Kehrtwende besteht in der Abkehr von der jahrzehntelang dominierenden, neoliberalen Vorstellung eines deregulierten Marktes, der den Wohlstand der Reichsten irgendwann auch bis nach ganz unten spülen soll. Stattdessen setzt Biden ganz auf die Aufnahme hoher Staatsschulden und staatlich gelenkte Umverteilung in Form von höheren Steuern für große Konzerne und gezielte Investitionen in die Infrastruktur, auch für mehr Arbeitsplätze und eine bessere Daseinsfürsorge, wie z.B. durch die Einführung eines Kindergeldes.

Diese Entwicklung ist keine amerikanische Besonderheit. Trotz der Inflexibilität und Behäbigkeit, die die große Koalition in der Corona-Pandemie gezeigt hat, gibt es auch in Deutschland deutliche Anzeichen einer Zeitenwende: Das vielleicht größte strukturelle Hindernis für den künftigen Erfolg von progressivem Regieren hier, die seit 2009 im Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremse, wackelt. Kanzleramtschef Helge Braun himself schlug in seinem Gastbeitrag für das Handelsblatt am 27.01.2021 vor, die Begrenzung der Schulden auf 0,35 % des BIP aufgrund der Krise gleich für mehrere Jahre auszusetzen. Auch wenn dieser Vorschlag sich bisher nicht durchgesetzt hat, macht er doch einen diskursiven Raum auf, der einer künftigen Regierung deutlich mehr Spielraum gäbe, in z.B. Bildung, Forschung, Gesundheit und (grüne) Infrastruktur zu investieren.

Sicher: Selbst wenn die Schuldenbremse wieder aus dem Grundgesetz gestrichen würde, sind die Vermögen noch genau so ungleich verteilt wie zuvor. Und natürlich sind die „Bidenomics“ kein Sozialismus: ein Verein freier Menschen bleibt das Ziel der Linken, er wird weder Gemeinschaftsprojekt noch Kollateraleffekt eines progressiven Bündnisses sein. Aber eines zeigt die gegenwärtige Krise des Neoliberalismus doch ganz deutlich: die Zeit der Alternativlosigkeit ist vorbei. Die Stunde praktischer Veränderung ist da. Wohin die Veränderung geht, ist offen, aber sicher ist: die Gelegenheit für die emanzipatorischen Kräfte in der Gesellschaft, die Politik nach links zu treiben, war lange nicht mehr so günstig wie jetzt. Das ist das eine.

Das andere ist: auch die Dringlichkeit der Umsetzung progressiver Vorschläge war nie größer. Um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen und die kommende Klimakatastrophe abzuwenden, ist ein umfassender Umbau der Gesellschaft erforderlich – und zwar sofort. Gerade angesichts der knappen Zeit zur Abwendung einer völligen Eskalation von Klimakatastrophe und Artensterben: Stichwort planetare Kipppunkte. Die Rettung der Welt können wir dabei nicht einem funktionalistischen Vertrauen in die Selbsterhaltungskräfte des Systems überlassen. Denn der Versuch der herrschenden Kapitalfraktionen, mit einer sanften ökologischen Modernisierung das bestehende Geschäftsmodell (auf Kosten der Ärmeren) zu stabilisieren, wird die Krisen nicht lösen. Zudem wird sie bekanntermaßen soziale Verwerfungen in hohem Ausmaß mit sich bringen. Es bleibt also dabei: Alles muss man selber machen. Die Rettung der Welt vor dem Kapitalismus ohnehin, die Rettung der Welt im Kapitalismus aber leider auch. Zumindest solange eine grundsätzliche Alternative zu ihm nicht auf der Tagesordnung steht. Und seien wir ehrlich: Das tut sie gerade leider nicht. Die Aufgabe der nächsten Jahre ist daher erstmal ein umfassender, sozial-ökologischer Umbau der Gesellschaft. Für die Linke ist das mehr als ein notwendiges Übel, für uns bedeutet es immerhin die Chance für ein besseres Leben für alle Menschen.

Was dafür als LINKE zu tun ist, liegt erstmal auf der Hand – und gibt uns ein echtes Alleinstellungsmerkmal: Statt liberaler Symbolpolitik und Sonntagsreden über Freiheit, Vielfalt und Offenheit, können wir die Frage ihrer materiellen Voraussetzungen stark machen. Gegen die Verkürzung des Antirassismus auf Fragen von Diversity, stellen wir die Frage gleicher Rechte nach vorne. Wir wissen: Es geht darum, Klimagerechtigkeit gegen den Markt durchzusetzen und nicht (weiter) von ihm zu erhoffen. Das Streiten für mehr Demokratie können wir als Frage der Verfügung über Eigentum und Reichtum ausbuchstabieren, anstatt als Haltungsfrage. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es versteht sich dabei von selbst, dass das etwas ganz anderes ist als reaktionärer Populismus, weil es darum geht, über die liberalen Verkürzungen von Bewegungen hinaus zu gehen, anstatt dahinter zurück zu fallen. Ein linker Green New Deal muss schließlich per se als grenzübergreifendes Projekt entwickelt werden. Und auch in Bezug auf den Modus ist eigentlich klar, was es braucht: Parteien und Bewegungen, die bereit sind, sich mit den Reichen und Mächtigen wirklich anzulegen. Denn jeder Green New Deal, der etwas taugt, muss gegen massive Widerstände von Vermögensbesitzern, fossilem Kapital und seinen Profiteuren durchgesetzt werden.

Aber halt – da war doch was. Mit „fortschrittlichen Regierungen“ hat die Linke ja tatsächlich einige schlechte Erfahrungen gemacht. Unsere berühmten Haltelinien sind ein Ausdruck des rot-grünen Traumas, dass mit der Modernisierung der Gesellschaft nach 16 Jahren Kohl dann Hartz IV und Kriegseinsätze kamen. Rote Haltelinien klingen vor diesem Hintergrund erstmal gut: Nach klarer Haltung und Prinzipientreue. Gleichzeitig schwingt in ihnen das Misstrauen sich selbst gegenüber mit, die Angst, die eigene Macht tatsächlich zu nutzen und falsche Entscheidungen zu treffen. Wie Odysseus sich an den Mast fesseln lässt, um dem Gesang der Sirenen nicht zu verfallen und das Schiff ins Verderben zu steuern, sollen die roten Haltelinien die Partei auf Kurs halten und ihr strittige Entscheidungen im Voraus abnehmen. Doch ist es – anders als bei Homer – in der Realität wirklich so einfach, die Versuchungen und ihre Folgen eindeutig zu bestimmen? Zumal die Situation heute in mehrfacher Hinsicht anders ist als vor dem rot-grünen Turn zum Neoliberalismus: Einerseits sind die Krisen existentieller und bedrohlicher, andererseits sind die Chancen größer. Bei einer progressiven Regierung geht es heute eher um die Frage, ob es weit genug oder an den entscheidenden Punkten in die richtige Richtung geht.

Endgegner-Beispiel Auslandseinsätze der Bundeswehr: mit oder ohne UNO-Mandat, bewaffnet oder unbewaffnet, das alles macht doch schon einen Unterschied. Zumal die Welt nicht automatisch eine bessere wird, wenn sich Europa einfach aus dem Elend, das es wesentlich mit angerichtet hat, heraus hält. Antimilitarismus heute auf die Formel zu reduzieren, sich nicht an Auslandseinsätzen zu beteiligen, fordert das machtpolitisch Unmögliche und zugleich viel zu wenig. Eine linke Alternative zur Nato-Politik müsste über rote Haltelinien hinausgehen anstatt sich darauf zurück zu ziehen. Und das bedeutet eben nicht, sich Habecks Forderung nach einem Bekenntnis zur Nato zu unterwerfen. Im Gegenteil: Ziel könnte ein praktischer Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik sein, der sich nicht an symbolischen Fragen, sondern an der realen Verteilung von Ressourcen festmacht. Eine linke Außen- und Sicherheitspolitik stünde in diesem Sinne für weniger Polizei und Militär, für mehr zivile Konfliktbewältigung, für Investitionen in Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen und Bildung: Defund the police and the military! Klar: Dabei geht es dann immer um graduelle Entscheidungen, sicher auch um schmerzhafte Kompromisse. Aber es gibt eben keine Versicherung gegen Fehler. Auch wenn der Wunsch danach verständlich ist, ist er eher Ausdruck einer politischen Vollkaskomentalität. Denn eine linke Regierungspraxis, die den Schwerpunkt der Außenpolitik weg vom Primat des Militärischen verschiebt, würde der Kriegspolitik tatsächlich schaden. Zumindest mehr als eine Linke in der ewigen Opposition, die sich wegen prinzipiellen Fragen selbst aus dem Spiel um die Macht nimmt. Denn Haltelinien, die in der aktuellen Offenheit der Situation ein „sich raushalten“ bedeuten, laufen Gefahr, am Ende des Tages vor allem politische Bequemlichkeit zu sein. Das wäre so schlimm nicht, wenn wir ganz viel Zeit hätten. Aber die Zeit haben wir nicht.

Das Warten auf eine vermeintlich bessere Konstellation zum Regieren können wir uns schlicht nicht leisten. Denn nochmal: In weniger als 15 Jahren muss Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land der EU CO2-neutral werden, um das 1,5 Grad-Ziel erreichen zu können. Die Zeit ist knapp. Zu knapp für linke Folklore und Symbolpolitik. Zu knapp für das Warten auf den großen Kladderadatsch. Und leider auch zu knapp dafür, allein auf die langfristige Verschiebung der Kräfteverhältnisse von Unten zu setzen, so wichtig Organisierung im Alltag und Druck von Bewegungen auf der Straße natürlich bleiben. Deswegen bin ich für eine Reformregierung, die die sozialökologische Wende versucht und einen außenpolitischen Paradigmenwechsel einleitet – und das sollte nicht an ein paar Bundeswehrsoldaten im Ausland scheitern. Denn auch wenn sie klein ist: Es gibt die reale Chance, eine grün-rot-rote Regierung zu einer tatsächlichen sozial-ökologischen Reform des neoliberalen Kapitalismus zu bewegen. Natürlich wäre das Ergebnis davon selbst im Erfolgsfall keine Gesellschaft der Freien und Gleichen, allerdings immerhin doch auch schon mal: kein Weltuntergang. Angesichts der aktuellen Lage gäbe es Schlimmeres.

Für einen Wahlkampf, der Kämpfe verbindet und verstärkt

Die Listenaufstellungen sind „geschafft“, der Bundesparteitag, der das Wahlprogramm beschließen und zugleich Wahlkampfauftakt sein wird, liegt vor uns. Die Ausgangslage, die Partei klassenpolitischer und bewegungsorientierter aufzustellen, ist gut: DIE LINKE hat sich in den letzten Jahren spürbar verjüngt und verbreitert. Eine neue aktivistische Generation, die über die jüngsten Bewegungen gegen Rechts oder für die Rettung des Klimas auf die Straße gegangen ist, prägt vor Ort immer häufiger das Gesicht der Partei.

Die Kämpfe, um dies es uns gehen muss, sind vielfältig und DIE LINKE muss oft keine Verbindungen mehr zwischen diesen Kämpfen herstellen, weil die Akteure das längst getan haben: Neben dem bestehenden „Unteilbar“-Bündnis etabliert sich die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Fridays for Future. Aktivist:innen von „deutsche wohnen und co enteignen“ unterstützen auch in den Pflegebündnissen die Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen und den Volksentscheid für gesunde Krankenhäuser. Die Forderungen für einen bundesweiten Mietendeckel kommen nicht nur von uns als Partei: Auch Gewerkschaften und Sozialverbände positionieren sich mitunter deutlich. Vielerorts war DIE LINKE direkt daran beteiligt, die Kämpfe miteinander zu verbinden. Wir wollen dies aufgreifen und verstärken.

Auch im Wahlprogramm werden Ansätze verbindender Klassenpolitik abgebildet. Gerade angesichts der Corona-Pandemie, in der Klassenunterschiede und die damit einhergehenden Interessen wieder besonders sichtbar geworden sind. Jede und jeder muss mitbekommen, dass DIE LINKE die Partei ist,

  • die nicht nur applaudiert, sondern gemeinsam mit den Kolleg:innen für bessere Arbeitsbedingungen, die Entlastung des Personals und höhere Löhne in der Pflege, im Einzelhandel und im Nahverkehr kämpft;
  • die für Corona-Hilfen in den von der Pandemie besonders betroffenen Branchen streitet, sei es in der Gastronomie, im Tourismus oder für die Kulturindustrie, statt für Konzerne, die mit Staatshilfen Dividenden an Aktionäre auszahlen;
  • die an der Seite von Sozialverbänden und Erwerbsloseninitiativen nicht müde wird, auf die zunehmende Armut hinzuweisen und ein Leben in Würde für alle zu fordern – ohne Sanktionen, mit ausreichender Mindestsicherung und pandemiebedingtem Zuschuss;
  • die daran erinnert, dass Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau diverser gesellschaftlicher Bereiche angesichts der durch die Corona-Pandemie verursachten Kosten nicht weniger dringlich geworden sind;
  • die dabei auch Perspektiven für die in der Industrie beschäftigten Arbeiter:innen aufzeigt, deren Jobs von einem solchen Umbau betroffen sein werden;
  • die immer die Situation auf der Flucht befindender Menschen thematisiert und konkrete Vorschläge für ihre Unterbringung in der gesamten EU macht,
  • die Tag für Tag kleine Verbesserungen durchsetzen will und zugleich die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur grundsätzlich in Frage – und die Alternative eines demokratischen Sozialismus in Aussicht stellt.

Wir setzen uns für einen kämpferischen und konfliktorientierten Wahlkampf ein und für eine Partei, die klar gegen die herrschenden Verhältnisse aufsteht und die Menschen dazu ermutigt, selbst aktiv zu werden. Wir wünschen uns zudem eine Fraktion, die diesen Gestus ab Herbst auch selbst stärker ausstrahlt: Eine Bundestagsfraktion, die ihre Sitzung in einem von Rodung bedrohten Wald abhält oder bei streikenden Kolleg:innen vor Amazon-Standorten. Oder im Bundestag eine Pressekonferenz mit Erntehelfer:innen abhält, die von ihren miserablen Arbeits- und Unterbringungsbedingungen berichten. Oder Bundestagsabgeordnete, die sich auf Fahrräder setzen und mit den Lieferando-Zusteller:innen Essen ausliefern und so auf deren harten Arbeitsalltag hinweisen.

Parlamentarische Arbeit muss mit der Arbeit an der Basis, in den Stadtteilen und „in der Fläche“ in enger Verbindung stehen. Die kommende Fraktion wird die Chance haben, die eigene Arbeit jenseits alter Konfliktlinien neu zu diskutieren. Dafür muss dem Aufbruch und der personellen Neuaufstellung der Partei auch eine Neuaufstellung in der Fraktion folgen. Die Bundestagsfraktion muss den programmatischen Beschlüssen der Partei folgen, sie ist kein Ort, um Dissense in Fragen aufzumachen, die in den von der Parteibasis dazu gewählten Gremien entschieden sind.

Lasst uns die Impulse der Bundespartei für einen neuen, gesprächsorientierten Wahlkampf an den Haustüren aufgreifen, im Wahlkampf neue Mitstreiter:innen und Mitglieder gewinnen und bei der Bundestagswahl für ein gutes Ergebnis sorgen. Wir wissen, dass der Kampf für eine bessere Welt nicht zwischen Laschet und Baerbock entschieden wird. Lasst uns den Wahlkampf außerdem nutzen, um vor Ort Strukturen aufzubauen und zu festigen und so die LINKE zu einer Kraft werden zu lassen, die gewappnet ist für die kommenden Auseinandersetzungen.

Statement vom Ko-Kreis Bewegungslinke, Juni 2021

Das links-grüne Potential als Herausforderung für DIE LINKE

Von Fiete Saß

Dies ist ein Diskussionsbeitrag zum Call for ideas: Die Bewegungslinke stellt sich die/der „Regierungsfrage“. Er spiegelt die Position der Autorin/des Autors wider, nicht der Bewegungslinken insgesamt. Wir freuen uns auf eine kontroverse, solidarische und lebendige Debatte. Wenn du Widerspruch, eine andere Perspektive oder Ergänzungen zum Beitrag hast, melde dich gerne zu Wort!

Der aktuelle Lauf der Grünen, die wahrscheinliche Regierungsbeteiligung und grüne Kanzlerinnenschaft mobilisiert Hoffnungen, die von zukünftigen grünen Minister*innen bestenfalls teilweise eingelöst werden können. Im Fall einer ebenfalls wahrscheinlichen Regierungsbeteiligung der CDU schon gar nicht. Dies wird eine Ausdifferenzierung des grünen Potentials nach sich ziehen. Diese hat bereits begonnen, wie 2020er Wahlergebnisse in einigen grünen Hochburgen belegen. Von dieser Entwicklung wie auch von der sie antreibenden Klimabewegung profitiert DIE LINKE bisher kaum.

Dieser Beitrag wirft zunächst einen Blick auf die langfristigen Trends, präsentiert Erkenntnisse zur politischen Entwicklung in den Großstädten, den „Brutstätten“ bisheriger progressiver Trends, und befragt die Positionen der „kleinen“ grün-linken Parteien nach ihrer Kritik an Grünen und LINKEN, um daraus Schlüsse zu ziehen für eine Politik, mit der DIE LINKE das sich ausdifferenzierende links-grüne Potential erfolgreich adressieren kann. Dies auch vor dem Hintergrund der Frage, wie DIE LINKE sich sowohl in der Opposition als auch in einem möglichen Regierungsbündnis mit den Grünen klar und wachstumsfähig positionieren kann.

Der langfristige Trend: SPD und CDU abwärts, Grüne aufwärts, alle anderen seitwärts

Betrachten wir die langen Linien im Wahlverhalten seit 1949 (vor 1990 nur alte BRD), dann finden wir CDU und SPD in einem Abwärtstrend, der bei der SPD seit 2013 erheblich an Fahrt gewonnen hat. Bei der FDP mit stark schwankenden Resultaten ist kein eindeutiger Trend erkennbar. Dagegen reiten die 1979 gegründeten Grünen auf einem langfristigen Aufwärtstrend, der sich in den letzten Jahren mit der Klimabewegung einerseits, dem Niedergang der SPD andererseits verstärkt hat. Die in ihrer heutigen Form noch junge Partei DIE LINKE konnte den Erfolg von 11,9 % bei der Bundestagswahl 2009 bisher nicht wiederholen, stellt aber seit 2014 den Ministerpräsidenten in Thüringen und war und ist wiederholt an Landesregierungen beteiligt. Ein Trend ist daraus noch nicht ablesbar. Die noch jüngere AfD schien bis vor kurzem in einem ununterbrochenen Aufwärtslauf. Es wird sich zeigen, ob die zuletzt bescheideneren Wahlergebnisse dessen Ende signalisieren.

Das Nichtwähler*innenpotential ist immer noch riesig. 1972 konnte die SPD es im Zuge einer massiven politischen Polarisierung für ihre Ost- und Reformpolitik mobilisieren. Ist dieses Beispiel im aktuellen politischen Zyklus wiederholbar?

Diese politischen Entwicklungen sind eingebettet in die langfristigen sozialökonomischen Trends – Ausweitung von Service- und Wissensarbeit, wachsendes Bildungsniveau, Feminisierung der Erwerbsarbeit, um die wichtigsten zu nennen (Kahrs 2021) – sowie den einhergehende Umbruch von der alten zur „neuen Arbeiterklasse“ (Riexinger 2018), der sich von den 1968ern bis zu den heutigen klima- und identitätspolitisch informierten „digital Natives“ in mehreren Wellen kultureller, habitueller und politischer Generationswechsel vollzieht.

II
Das Sample: Die TOP 20 Großstädte in Deutschland

Die letzte bundesweite Wahl war die EU-Wahl 2019. Hier werden exemplarisch die Wahlergebnisse der TOP 20 Großstädte bei dieser Wahl herangezogen. In diesen Städten lebten 11.058.123 Wahlberechtigte, ca. 18% aller Wahlberechtigten. In den insgesamt 9.390 Wahlbezirken mit durchschnittlich 1.178 Wahlberechtigten (Min. 70, Max. 3393) und 518 Urnenwähler*innen (Min. 23, Max. 1.761) gaben 4.872.761 Wähler*innen ihre Stimme an der Urne ab. Das waren ca. 13% aller Wählenden in Deutschland. Der Stimmenanteil für AfD und CDU/CSU blieb hier unterdurchschnittlich, während Volt, Diem25, DIE PARTEI, Piraten, LINKE und Grüne in diesem städtischen Raum weit überdurchschnittlich repräsentiert sind. SPD und FDP erzielten durchschnittliche Anteile. Die übrigen an der Wahl beteiligten Parteien waren erfolglos und werden hier ausgeblendet.

Zwei durchgängig präsente Cluster von Wähler*innen

Die Analyse der Wahlergebnisse der EU-Wahl 2019 auf Stimmbezirksebene in den Top 20 Großstädten zeigt zwei durchgängig präsente Cluster von Wahlverhalten. Über alle 9.390 Stimmbezirke der 20 Großstädte ergab sich die abgebildete Korrelationsmatrix. Die dort in denselben Stimmbezirken abstimmenden Menschen sind einander buchstäblich nahe durch den in räumlicher Nähe gelegenen Wohnort. Damit gehen vielfach ähnliche Klassenlagen und Milieus einher. Die angetroffenen positiven Korrelationen zwischen der Wahlhäufigkeit bestimmter Parteien deuten also auf eine gemeinsame soziale Basis der betreffenden Parteien; negative Korrelationen auf das Gegenteil. Eine inhaltliche Nähe zwischen den betreffenden Parteien ist damit nicht impliziert.

Hinter diesem gesamtdeutschen Blickwinkel verborgen finden sich lokale und regionale Ausprägungen, die in z.T. deutlich stärkeren Korrelationen in den einzelnen Großstädten sichtbar werden.

Korrelation Wenn zwischen zwei Variablen eine lineare Abhängigkeit besteht, dann ist bei hinreichend großer Zahl von Messpunkten ein Korrelationskoeffizient r ermittelbar. Das ist ein Wert zwischen -1 und +1. Ein positiver Wert von r deutet auf eine mögliche positive, lineare Abhängigkeit hin. Der Umkehrschluss gilt aber nicht: Eine messbare Korrelation lässt nicht auf linearer Abhängigkeit der beiden Variablen schließen. Eine positive Korrelation z.B. zwischen den Stimmanteilen von CDU und FDP bedeutet nicht, dass irgendjemand FDP gewählt hat, weil der Nachbar CDU wählt. Es ist auch nicht irgendwie „gut“ für die FDP, wenn viele Leute CDU wählen. Vielmehr ist es manchmal gerade umgekehrt: Bei Verlusten der CDU gewinnt oft die FDP, denn wenn CDU-Wähler*innen mit ihrer Partei unzufrieden sind, wählen sie gerne mal FDP. Bei den hier untersuchten Korrelationen zwischen den Stimmanteilen von Parteien ist etwas Drittes im Spiel, und das ist die soziale und politische Milieustruktur der Stimmbezirke, die sich auf die Stimmanteile der einzelnen Parteien auswirkt und die mit den Wahldaten alleine wiederum nicht zu entschlüsseln ist. Eine positive Korrelation wird als Nähe der sozialen Basis der Parteien aufgefasst, im buchstäblichen Sinn der gemeinsamen Wohn- und Stimmbezirke.

Ab welchen Werten ist eine Korrelation relevant? Der Autor betrachtet positive Korrelationskoeffizienten ab 0,2 für beachtenswert und ab 0,5 für Zeichen deutlicher sozialer Nähe der betreffenden Parteien. Negative Korrelationskoeffizienten sind stets beachtenswert und bei Werten kleiner als -0,3 deutliche Anzeichen separater sozialer Verankerung der betreffenden Parteien. Es sind aber auch Unschärfen zu beachten, die sich aus der sehr unterschiedlichen Größe der Stimmbezirke ergeben, deren Erörterung hier den Rahmen sprengen würde.

CDU und FDP bilden ein Cluster

Die Stimmenverteilung von CDU/CSU und FDP über die 9.390 Stimmbezirke weist einen Korrelationskoeffizienten von r=0,71 auf. Was heißt das? Dort, wo mehr CDU/CSU gewählt wird als andernorts, wird auch mehr FDP gewählt und umgekehrt. Der hohe Korrelationskoeffizient weist auf eine stark überlappende soziale Basis der beiden Parteien hin. Das ist keine Überraschung und erklärt auch etwas die starken Schwankungen der FDP, die gerne von unzufriedenen CDU-Wähler*innen als Protestventil benutzt wird.

Die liberalen Kreise in München und Nürnberg haben allerdings viel weniger Nähe zur Basis der Staatspartei CSU als die FDP-Wähler*innen in den anderen Bundesländern zur CDU. Ohne sie ergibt sich für die übrigen 18 Städte sogar r=0,78.

Grün-linkes Cluster in den Top 20 Großstädten

Ein zweites ebenso durchgängiges und etwas komplexeres Korrelationscluster in den Top 20 Großstädten umfasst neben den Grünen und DIE LINKE auch die kleineren linken, grünen oder links- liberalen Parteien Piraten, Volt, Die PARTEI, Diem25, denen sich bei Kommunalwahlen mancherorts weitere lokale, grün-links-liberale Wähler*innengruppen zugesellen.

Diese Parteien erzielen überall dort, wo überdurchschnittlich viel Grün gewählt wird, zumeist überdurchschnittliche Wahlergebnisse und umgekehrt. Es zeigt sich ein „Kanal“ tendenziell zunehmender Korrelationen auch mit den anderen grün-linken Parteien, durch dessen mittleren Bereich die Korrelationen mit der LINKEN verlaufen. Volt und Die PARTEI sind meist näher an den Grünen als DIE LINKE, die Piraten ferner.

Ein ähnlicher „Kanal“ erscheint, wenn man die Sache von der LINKEN aus betrachtet. Hier ist es Die PARTEI, die der Linken stets näher ist als die Grünen. Die Piraten sind der LINKEN andererseits ferner als die Grünen, während Volt und Diem25 innerhalb des so bezeichneten Kanals variieren.

Zusammengefasst erschließt sich der Zusammenhang der sozialen Basis von Grünen und LINKEN über:

  • Die moderat positive Korrelation des Gesamtsamples (r=0,27)
  • Die deutlich positiveren lokalen Korrelationen, mit der Ausnahme von Ost-Berlin
  • Den Kontext früherer bzw. regionaler und sonstiger lokaler Wahlergebnisse mit hohen Korrelationen (hier nicht dargestellt)
  • Das Bindeglied der „kleinen“ links-grünen Parteien, die mit Grünen und LINKEN jeweils hohe Korrelationen aufweisen und mit der LINKEN die negative Korrelation zur CDU und zur AfD und mit den Grünen die negative Korrelation zur AfD teilen. Auch unter den kleinen Parteien – mit Einschränkungen für die Piraten – bestehen wechselseitig hohe Korrelationswerte, sie bilden ein lückenloses Cluster. Die Piraten sind positiv, aber weniger stark mit den anderen Parteien des grün-linken Clusters korreliert, aber auch mit der SPD. Ihre noch verbliebene soziale Basis ist also meist zwischen SPD und dem grün-linken Cluster verortet.
  • In den TOP 20 Großstädten finden Grüne, DIE LINKE und die kleinen Parteien Volt, Die PARTEI, Diem25 und in geringerem Maße die Rest-Piraten in stark überlappenden, grün-linken Wähler*innengruppen ihren Rückhalt. Alle genannten Parteien teilen Habitus und kulturelle Prägungen der „neuen Arbeiterklasse“ und auch einen Katalog an groben politischen Positionen zu Klima und Umwelt, sozialer Verantwortung, Geschlechterrollen und sexueller Orientierung, Rassismus und Antifaschismus, so dass die Hypothese nicht weit her geholt scheint, das grün-linke Cluster sei nichts anderes als der wahlstatistische Fussabdruck einer sich formierenden „neuen Arbeiterklasse“ – die freilich weitergehender Untersuchungen bedürfte.

III Ausdifferenzierung des grün-linken Clusters

Die EU-Wahl 2019 mit bundesweit 20,5 % der Stimmen war ein Erdrutschsieg für die Grünen. Die PARTEI, Volt, Piraten und Diem25 in Deutschland erzielten zusammen 4,0% und 4 Mandate. In den TOP20 Städten erzielten diese Parteien zwischen 4,4% (Essen) und 8,3% (Leipzig). Zum Vergleich: DIE LINKE erhielt 5,5% und gewann 5 Mandate (-2). Bei den Kommunalwahlen 2019 in Freiburg erzielten die „kleinen“ Parteien sogar 19% und in Köln 2020 11,5%. Ebenso wie die EU-Wahl signalisieren solche Daten eine fortschreitende Ausdifferenzierung des grün-linken Clusters, die das schnelle Wachstum der Grünen nun zu begleiten scheint.

Bei der Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg wendete sich das Blatt etwas. In den Städten gab es einen weiteren Erdrutsch zugunsten der Grünen, mit bis zu 46% (Konstanz), während die Stimmen der „kleinen“ Parteien gegenüber 2019 zurückgingen. Der Kampf um die Führung in der Landesregierung polarisierte zugunsten der Grünen – und der LINKEN! Denn in den Städten – nur dort – konnte sie hinzugewinnen: Freiburg 12,2%, Tübingen 9,6%, Karlsruhe 6,8%, Stuttgart 6% – Werte die in Baden-Württemberg noch nicht gesehen wurden. Dieser kleine, aber hoffnungsvolle Erfolg wurde allerdings vor der Nominierung von Sahra Wagenknecht als Spitzenkandidatin in NRW und der Veröffentlichung ihres Buches erzielt.

Solange es den Grünen gelingt, mit weiteren Erdrutschgewinnen – vergleichbar dem „Genossen Trend“ der SPD in den 60er Jahren – und mit einer Kanzlerinnenkandidatin Baerbock zahlreiche bisherige Wähler*innen von CDU/CSU und SPD zu sich rüber zu ziehen, können sie Verluste am linken Rand leicht verschmerzen. Für DIE LINKE ist die Situation nicht so komfortabel. Ein Rudel halb erfolgreicher Kleinparteien in ihrem Revier kann schnell den Unterschied machen zwischen Sein und Nichtmehrsein.

IV

Grün-links-liberale Vielfalt als Ausdruck eines gesellschaftlichen Suchprozesses

Seit 2005 haben sich nach und nach mehrere kleine, bundesweit agierende Parteien im grün-links- liberalen Spektrum formiert. Die Dynamik der Parteigründungen und die Volatilität der resultierenden Wahlergebnisse sind Indikatoren eines gesellschaftlichen Suchprozesses, in dem die „neue Arbeiterklasse“ (Riexinger) auf dem Hintergrund anhaltender sozialstruktureller Veränderungen sich politisch umgruppiert. Dieser ist zugleich praktische Kritik, in erster Linie der Grünen, wo ein Großteil der Wähler*innen der Kleinparteien herkommen, aber auch der LINKEN, die deren Wähler*innen auch keine attraktive Alternative zu bieten scheint.

Welche Inhalte werden bei den Kleinparteien präsentiert, die sich so bei Grünen und LINKEN nicht oder nicht so glaubwürdig finden?

• Die Piraten traten seit 2008 bei Wahlen an und erzielten mit dem Einzug in die Landtage/Bürgerschaften von Berlin (2011), Saarland, Schleswig-Holstein und NRW (alle 2012) ihre größten Erfolge. Kritik des Urheber- und Patentrechts, digitale Demokratie und Datenschutz – das sind die Themen, für die die Piraten stehen. Es handelt sich dabei heute um zentrale Fragen wirtschaftlicher und politischer Macht. Steht das Wissen der Menschheit mit Hilfe des Internet allen zur Verfügung, oder nur denen, die zahlen können? Ist das Internet ein Medium demokratischer Kommunikation oder Instrument staatlicher Überwachung? Inzwischen haben Grüne und LINKE den Ball aufgenommen, doch insbesondere DIE LINKE hat da außer ein paar Expert*innen wenig Profil.

  • Die PARTEI trat erstmals mit der Bundestagswahl 2005 zu einer Wahl an. 2019 konnte sie mit 2,4% bundesweit zwei EU-Mandate gewinnen. Dabei war sie vor allem in Großstädten erfolgreich, z.B. Leipzig mit 5,7%. Es ist nicht leicht, einer zynischen Spaßpartei ernsthafte Absichten zuzuschreiben. Anders als bei den „5 Sternen“ in Italien, die auch schon mal mit den Rechtspopulisten koalieren, vertritt Die PARTEI einen Antifaschismus, der sich an verbaler Radikalität durch keine andere Partei übertreffen lässt.
  • Volt ist eine europäische Partei, deren deutsche Sektion 2018 gegründet wurde und die hier und bisher nur hier 2019 einen Sitz im EU-Parlament erzielte. Seither gewann Volt etliche Sitze in Stadt- und Gemeinderäten, u.a. in Frankfurt, Mainz, München, Darmstadt, Wiesbaden, Düsseldorf, Köln und Bonn, und beteiligt sich auch an kommunalen Mehrheitsbildungen. Volt vertritt eine nach allen Seiten anpassungsfähige sozial-liberale Politik und gibt sich ein junges Image. Das wichtigste Markenzeichen, das viele junge Menschen anspricht, ist aber die proeuropäische Orientierung.
  • Diem25 ist eine weitere proeuropäische Partei, die bisher in Deutschland nur zur Europawahl antrat und mit 0,3% kein Mandat erringen konnte. Diem25 ist linksozialistisch geprägt, mit vielen namhaften internationalen linken Intellektuellen verbunden und steht inhaltlich DIE LINKE sehr nahe. Diem25 will die neoliberalen EU-Verträge durch ein Europa-weites Referendum überwinden und vertritt eine linke Version des Green New Deal in Europa. Die Partei ist organisatorisch schwach und bei Wahlen erfolglos. Ihre Bedeutung auf dem deutschen Spielfeld besteht darin, dass sie Qualitäten aufweist, die der LINKEN fehlen: Ein demokratisches Programm für Europa und eine Strategie dazu sowie ein internationales intellektuelles Netzwerk.
  • Mit den Klimalisten ist bereits das nächste Parteigründungs-Projekt auf dem Weg. In zahlreichen Kommunen bestehen inzwischen lokale Klimalisten, etwa in Köln, Düsseldorf, Erlangen, Kempten, Leverkusen, Nottuln, Witten, die auch bei Kommunalwahlen schon einzelne Ratssitze gewinnen konnten. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz traten 2021 erstmals bei Landtagwahlen Klimalisten an, mit bescheidenem Erfolg. Doch dass diese Listen überhaupt zustande kamen, ist ein ernster Warnhinweis für die Grünen. Auf kommunaler Ebene haben auch zahlreiche, von den Grünen unabhängige Grün-Alternative Listen überlebt. Weitere lokale Gruppen, bisweilen mit Fokus auf die Interessen der Jugend oder der Frauen bis hin zur in München schon lange existierenden Rosa Liste oder Listen, die die Interessen von Behinderten und andere, die mit lokalen Geschmacksrichtungen des grün-links-liberalen Spektrums experimentieren, und so das Wortes von der „Mosaik-Linken“ (Urban) illustrieren. Grüne und LINKE sind in diesem Blickwinkel natürlich auch wechselseitig Inkarnationen der Kritik am jeweils anderen.

• DIE LINKE steht mehr als die Grünen für die Interessen der arbeitenden Klasse, den Sozialstaat und für konsequenten Antimilitarismus und Friedenspolitik. Dennoch konnten in den letzten Jahren die Grünen, die noch bei der Bundestagswahl 2013 weniger Stimmen erhielten, DIE LINKE weit hinter sich lassen. Die Absicht der Linken, Umwelt- und Klimafragen konsequent und zulasten des Kapitals sowie Solidarität mit den Geflüchteten und Antirassismus kommen in der Öffentlichkeit oft nicht klar rüber.

• Den Grünen wird mehr als der LINKEN bei Umwelt- und Klimafragen Sach- und pragmatische Lösungskompetenz zugetraut. Die Radikalität, mit der DIE LINKE stets fordert „Die Reichen müssen zahlen“ wird als nicht hinreichend, möglicherweise sogar als hinderlich zur Gestaltung praktischer Problemlösungen wahrgenommen. Den Grünen gelingt es auch besser, sich als Anwältin der Geflüchteten und als Gegenpol zur AfD zu positionieren, während DIE LINKE eher als Gegenpol zur von vielen als weniger gefährlich wahrgenommenen CDU fungiert.

In Deutschland ist bisher keine feministische Partei erfolgreich. Dies deutet auf ein hohes Integrationspotential der vorhandenen Parteien hin. DIE LINKE hat da aber zumindest in Westdeutschland noch unerschlossenes Potential, wie schon der relativ geringe Frauenanteil an den Mitgliedern zeigt.

Im Bundestagswahlkampf geben sich die Grünen nun alle Mühe, sich den DGB-Gewerkschaften anzunähern und Kompetenz auch zu sozialen Themen wie etwa die Überwindung von Hartz IV zu demonstrieren. Links blinken vor der Wahl, wie von der SPD altbekannt? Es wird sich erweisen.

V Schlussfolgerungen für DIE LINKE

DIE LINKE ist heute in den größten Städten Ausdruck der antikapitalistisch orientierten Teile des grün-linken Spektrums, und nicht etwa die bessere SPD, wie es der Denkgewohnheit der älteren Kader entspräche. Der Stimmanteil der Parteien des grün-linken Clusters liegt heute in den Großstädten zwischen 30% und 50% und wächst, woran DIE LINKE aber aktuell nur selten teilnimmt. Ihre wichtigsten Wettbewerber sind die Grünen und die grün-linken Kleinparteien. Sowohl der Aufstieg der SPD in den 60er und 70er Jahren als auch der aktuelle Aufstieg der Grünen gingen von den Großstädten aus. Gewiss, in Ostdeutschland sowie in den alten Industrieregionen an Ruhr und Saar und auf dem Land greifen teilweise noch die alten Spielregeln. Doch die zugrundeliegenden sozialökonomischen Trends (Ausweitung von Service- und Wissensarbeit, wachsendes Bildungsniveau, Feminisierung der Erwerbsarbeit) sind auf dem Weg (vgl. Kahrs 2021) und kein noch so entschiedener Blick zurück in die 70er Jahre wird sie aufhalten.

Deshalb ist es für DIE LINKE ein massives Problem, dass die Klimabewegung und die Ausdifferenzierung des grün-linken Potentials bisher an ihr vorbeigeht und Kleinparteien sich in ihrem engsten Wähler*innenpotential umtun.

Die Aufgabe der LINKEN, die aktuell auch keine andere Partei leisten kann, ist es jetzt, die linken, gewerkschaftlich orientierten Kräfte der alten Arbeiterklasse mit der jungen Generation der „neuen Arbeiterklasse“ samt ihrem ökologischen und identitätspolitischen Antikapitalismus zu einer zeitgemäßen und wachstumsfähigen linken Kraft zu vereinen.

Wenn es zu einer schwarz-grünen Bundesregierung kommt, wird die Absetzbewegung am linken Flügel des grünen Wähler*Innenpotentials Fahrt aufnehmen. Bis dahin muss DIE LINKE zumindest begonnen haben, sich neu zu positionieren, wenn sie diese Kreise für sich gewinnen möchte. Dafür wurden hier folgende programmatische Aufgaben identifiziert:

  • DIE LINKE steht heute in ihren Beschlüssen für eine sozial-ökologische Transformation, Antirassismus und Solidarität mit Geflüchteten. Das ist gut, gilt aber in der Öffentlichkeit als in der Partei umstritten.
  • DIE LINKE muss sich daran machen, gemeinsam mit anderen linken Parteien in Europa eine erfahrbare europäische Linkspartei zu bilden, mit einer Strategie für eine demokratische Alternative zum Neoliberalismus in einem geeinten Europa.
  • DIE LINKE muss auch in dem Sinne eine internationalistische Partei werden, dass sie die Verbindung der globalen Linken („Neue Internationale“) vorantreibt und sich mit linken Intellektuellen weltweit vernetzt.
  • DIE LINKE muss eine Partei werden, die (auch in Westdeutschland) für Frauen sehr attraktiv ist.
  • DIE LINKE braucht eine Strategie für die demokratische Kontrolle der digitalen Prozesse und des freien Zugangs zum gesellschaftlich produzierten Wissen sowie eine Strategie für digitale Souveränität in Europa, in aktiver Verknüpfung mit der Open Source Bewegung.

Warum DIE LINKE wählen und nicht Grüne, Klimaliste oder SPD? Eine konsequente Positionierung in der linken Hälfte des wachsenden grün-linken Potentials bietet klare und überzeugende Antworten, die auch im Rahmen eines progressiven Regierungsbündnisses eine positive Dynamik für DIE LINKE ermöglichen.

Inhaltliche Positionierungen bleiben allerdings bedeutungslos, solange es einer Koalition namhafter Mitglieder mit den privaten Medien gelingt, mit massiv über eben diese Medien verbreitetem Signalen den Eindruck zu erwecken – allen Parteitagsbeschlüssen zum Trotz – , dass DIE LINKE eben doch im Herzen eine altbackene Partei ist, die mit den grün-linken Orientierungen fremdelt. Rechte Arbeitermilieus, beschönigend als „linkskonservativ“ bezeichnet, sind das Revier der Rechtsozialdemokratie, der CDU und der AfD. DIE LINKE mit ihrem progressiven Profil kann diese Milieus heute gar nicht seriös adressieren.

Dieser Keil trennt DIE LINKE seit einigen Jahren vom Wachstum des grün-linken Potentials. Wenn es nicht bald gelingt, ihn auszuräumen, wird DIE LINKE nicht nur nicht an der „grünen Welle“ teilnehmen, sondern möglicher Weise unter ihr begraben werden. Die Zukunft ist offen. Die Konjunkturen kleiner Parteien können schnell vergehen, das gesellschaftliche Potential, das in ihnen nach einem neuen, adäquateren politischen Ausdruck sucht, wird bleiben und falls Grüne und LINKE ihm keine adäquate Heimat bieten, wird es sich eine andere schaffen.

Quellen

Alle Angaben zu Korrelationskoeffizienten beruhen auf von der Statistischen und Wahlämtern der betreffenden Städte im Internet bereitgestellten bzw. auf Anfrage freundlicher Weise zur Verfügung gestellten Wahldaten. Die Korrelationskoeffizienten wurden vom Autor daraus ermittelt.

Die in Abb. 1 dargestellten Resultate der Bundestagswahlen seit 1949 beruht auf Angaben in Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl, abgerufen am 09.03.2021

Literatur

  • Glauch, Theo und Gürpinar, Ates Und Köhler, Christian, Wähler*innen & Wahlpotenziale der Linken in München, Ein Ansatz zur Erklärung von Wahlergebnissen und zum Mapping mit der amtlichen Statistik der Landeshauptstadt München, https://www.rosalux.de/news/id/43909/waehlerinnen-und-wahlpotenziale-der-linken-in- muenchen?cHash=11617545eb619781d1b743f3f9da7215 (abgerufen 09.03.2021)
  • Kahrs, Horst, DieWahlenam14.März2021zudenLandtagenvonBaden-WürttembergundRheinland-Pfalz,Wahlnachtbericht und erster Kommentar (15.03.2021)
  • Riexinger, Bernd, Neue Klassenpolitik, Hamburg 2018
  • Vester, Michael et.al., Die Neuen Arbeitnehmer, Hamburg 2007

Call for ideas: Die Bewegungslinke stellt sich die/der Regierungsfrage 

In der Bewegungslinken haben sich Genoss:innen zusammengefunden, die für eine bewegungsorientierte, antikapitalistische Partei streiten. Uns eint die grundlegende Haltung, dass wirkliche gesellschaftliche Veränderungen nur von unten erkämpft werden können. Wir sind uns einig über die Bedeutung der roten Haltelinien, darüber dass Staat und Parlament kein Fahrrad sind (auf das man aufsteigen und einfach in eine andere Richtung fahren kann). Und doch steht die Frage einer linken Regierungsoption im Raum. Als Bewegungslinke wollen wir konkreter werden und laden daher zur Diskussion ein, die sich aus unserer Sicht wie folgt gliedern lässt: 

  1. Think big: Was müsste eine fortschrittliche Regierung leisten? Welche Kämpfe wären dafür zu gewinnen und an welche gesellschaftlichen Auseinandersetzungen müsste ein linkes Agieren in der Bundesregierung anknüpfen? Und andersherum gefragt: Was kann eine Linke ohne Regierungsoption schaffen? 
  2. Die Herausforderung ernstnehmen: Welchen Kräfteverhältnissen stünde eine fortschrittliche / grün-rot-rote Bundesregierung in Medien, Staatsapparat und Klassengesellschaft gegenüber und was ist der plan-to-win, um unter diesen Bedingungen zu bestehen? Welche Punkte müsste so ein Plan adressieren, wie könnte er aussehen?
  3. Die Packungsbeilage: Zu Risiken und Nebenwirkungen
    Was ist aus linker Perspektive in vergangenen Mitte-links-Regierungen schief gegangen? Was macht eine solche Regierungsbeteiligung mit einer linken Partei und sozialen Bewegungen? Welche Gründe haben wir, zu denken, dass es diesmal besser würde? 

Zeitplan: 

  1. Debattenaufruf (Deadline 1. Mai) 
    Unser größtes Anliegen ist es, dass sich möglichst viele Bewegungslinke-Mitglieder beteiligen können. Deswegen fragen wir in der ersten Runde nach losen Ideen und losen Formaten. Schickt uns eine kurze Mail mit eurer Idee: 
  • ich will einen kurzen Text zu der Frage X schreiben …
  • ich würde gerne eine Veranstaltung mit Person X und Y zu der Frage Z organisieren …
  • ich würde gerne Person Z interviewen …
  • ich denke an ein Zoom-Austausch mit …
  1. Redaktionssession (bis 7. Mai) 
    Im Ko-Kreis sortieren wir die Ideen und bringen Genoss*innen in Kontakt, die ähnliche Fragen bearbeiten wollen.  
  2. Präsentation und Diskussion (ab dem 15. Mai) 
    Wir schlagen aber vor, drei feste Debattentermine. D.h. in KW 21, 22, 23 findet eine Debatte im Vorfeld zum Parteitag statt. Ab Mitte/Ende Mai werden die Beiträge auf der Homepage gesammelt. Maximale Länge: 12.000 Zeichen.

Eure Ideen oder Nachfragen schickt ihr an kontakt@bewegungslinke.org. Wir freuen uns auf eure Beiträge!