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Von der KPÖ lernen? 

Erst einmal: Herzlichen Glückwunsch nach Salzburg! Nach den Mut machenden Ergebnissen der KPÖ-Genoss:innen bei den Salzburger Gemeindewahlen beginnt zurecht auch hier die Debatte darüber, was man aus ihrem Erfolg nun für Schlüsse ziehen kann. Sicher ist, dass Salzburg nicht als 1 zu 1 Blaupause für unsere Partei dienen kann, allein schon deswegen nicht, weil wir hier um die Ausrichtung einer Bundespartei ringen. Und doch lässt sich vieles lernen. Nicht zuletzt, dass wir nur eine Chance bekommen werden, wenn wir als Linke nach außen weitgehend einheitlich kommunizieren und aufhören, unsere Positionen in der Öffentlichkeit streitend auszuhandeln versuchen. Nach innen muss hingegen um die Ausrichtung der Partei gerungen werden. Hier unsere Vorschläge:

  1. Diäten für die Mandatsträger:innen stärker begrenzen

Bei der KPÖ geben die Mandatsträger:innen alles oberhalb von einem sogenannten Facharbeiter-Durchschnittsgehalt in einen Sozialfonds. Ihnen bleiben dann 2300 Euro netto im Monat übrig. Das hat gleich zwei Effekte: Nach Innen etablieren sie eine Parteikultur, in der es um die Sache und nicht um Posten geht. Nach außen zeigen sie deutlich, dass ihre Politik nicht die Politik des Establishments ist. Sondern wortwörtlich im Dienste der Gesellschaft steht. Welche Höhe wir in unserer Partei auch immer festlegen mögen: Statt der vielen unterschiedlichen Regelungen in Bund und Ländern bzw. auf EP-Ebene wollen auch wir eine einheitliche Lösung für alle (außer kommunale Mandatsträger:innen) und deutlich höhere Abgaben als bei einem Großteil der Mandatsträger:innen aktuell anfallen. Wir wissen, dass viele auch über die geregelten Abgaben hinaus spenden. Das wird auch immer so bleiben. Bei einem Großteil der Diäten sollte es aber nicht die individuelle Entscheidung der Abgeordneten sein, ob und wohin gespendet wird, sondern eine kollektive Entscheidung der Partei und im Idealfall unterstützt es Menschen in finanziellen Notlagen und/oder beim Aufbau von Gegenwehr.

  1. Sozialfonds auflegen

Durch die Begrenzung der Diäten kann ein Sozialfonds aufgelegt werden, aus dem Menschen in finanzieller Not unbürokratisch Hilfe bekommen können. Ein solcher Sozialfonds kann ein quantitativer und qualitativer Riesenschritt nach vorn sein gegenüber den vielen kleinen Fraktionsvereinen bei uns. Für die KPÖ ist er identitätsstiftend – zentraler Bestandteil ihrer Öffentlichkeitsarbeit. So könnte es bei uns dann klingen: Die Linke, das ist die Partei, deren Leute es als Privileg empfinden, hauptamtlich Politik zu machen und Menschen helfen zu können, die dabei einen Großteil der Diäten konkret umverteilen an Menschen, die Unterstützung brauchen. Das müssen die Wähler:innen spätestens im Sommer 2025 verstanden haben. Vor Ort bietet der Sozialfonds die Chance, Menschen, die uns in den Linke-hilft-Strukturen begegnen, zu unterstützen.

  1. Nebeneinkünfte abgeben

Die Linke ist die einzige Partei, die keine Spenden von Unternehmen annimmt. Viel zu wenige wissen das. Wir sollten das bekannter machen und noch einen Schritt weiter gehen: (Vollzeit-)Abgeordnete, die neben ihrem Einsatz als gewählte Vertreter:innen noch anderen Aufgaben nachgehen und dabei Nebeneinkünfte haben, sollten diese in den Sozialfonds geben. (Begründete Ausnahmen bestätigen die Regel. „Ich muss mein Haus abzahlen“ gehört aber nicht dazu.)

  1. Sozialberatungen anbieten

In einigen Linke-Büros werden seit Jahren (in vielen Fällen muss es leider heißen: wurden vor Jahren) Sozialberatungen angeboten. Etwa zu Mietrecht, Asylrecht oder eben auch zu Bürgergeld. Viele trauen sich diese Beratungen nicht zu, weil sie rechtlich nicht fit genug sind. Jedoch gibt es im Umfeld die Möglichkeit zu Schulungen und oft ist den Menschen schon geholfen, wenn ihnen jemand hilft, Formulare zu verstehen oder weiß, wo noch bessere Hilfe vermittelt werden kann. Ziel muss sein, diese Angebote flächendeckend auszubauen. Die Gründung der BAG Linke hilft ist dabei hoffentlich ein guter Zwischenschritt. Im Parteivorstand haben wir zudem beantragt, für die Unterstützung von Linke-hilft-Strukturen Stellenanteile zu schaffen. Was die KPÖ uns hier noch lehrt: Auch die Mandatsträger:innen persönlich bieten Sozialberatungen an. Dadurch wächst ihre Authentizität enorm. Politiker:innen sitzen nicht nur in Parlamenten oder schwingen Reden auf Demos, sie packen konkret mit an, sind interessiert an jedem einzelnen Schicksal. Und die, die Beratung suchen, fühlen sich doppelt gewertschätzt.

  1. In die Viertel, zu den Menschen hin!

Das alles wird nur helfen, wenn Die Linke nicht nur in wenigen Leuchtturm-Kreisverbänden, sondern in einer Größenordnung eine Praxis umsetzt, bei der unsere Genoss:innen in die Stadtteile gehen, wo Menschen wohnen, die im Durchschnitt stärker von Armut und schlechten Lebensbedingungen betroffen sind. Dort müssen wir unsere Büros ansiedeln, Infostände machen, Sozialberatungen bekannt machen und durchführen, im besten Fall an die Haustüren gehen. „Mit dem Gesicht zu den Menschen“ darf nicht mit großen Social-Media-Reichweiten verwechselt werden (auch wenn dagegen ebenfalls nichts einzuwenden ist).  

  1. Parteistrukturen schaffen, die für Arbeiter:innen attraktiv sind 

Wir haben tausende Neumitglieder in den letzten Monaten begrüßen dürfen. Das ist toll und eine Herausforderung, weil viel zu viele noch nicht den Andockpunkt gefunden haben. Und nach wie vor rekrutieren wir häufig unseresgleichen, junge Leute gewinnen junge Leute. Wir werden als Partei nur stärker, wenn wir Menschen aller Altersklassen und insbesondere auch lohnabhängig Beschäftigte besser einbinden können. Menschen, die viel arbeiten und dann womöglich auch noch eine Familie mit Kindern oder pflegebedürftigen Eltern haben, können sich nur sehr begrenzt einbringen. Unsere Parteistrukturen sind selten darauf ausgelegt. Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein dafür und zeitlich überschaubare Treffen bzw. niedrigschwellige Angebote für alle, die ihren Beitrag zum Aufbau einer stärkeren Linken leisten wollen.

  1. Keine politischen Blumensträuße, aber auch keine falsche Verkürzung

Lernen bedeutet auch zu differenzieren. Denn während es den Salzburger Genoss:innen möglich war, sich politisch zentral auf die Mietenproblematik zu konzentrieren, werden wir das als Bundespartei jenseits gut entwickelter Kampagnen nicht machen können. Um auf bundespolitischer Ebene ein Akteur sein zu können, müssen wir uns auch zu anderen aktuell verhandelten Fragen verhalten. Natürlich ist es richtig, an unserem Markenkern festzuhalten: d.h. die soziale Ungleichheit – oder einfacher gesagt – Klassenpolitik – ins Zentrum zu stellen. Die Triggerpunkte-Studie hat aber erst wieder gezeigt: Die Mehrheit der Menschen aller Einkommensgruppen macht sich Sorgen um den Planeten, manche von ihnen entwickeln sogar Klimaangst. Wer glaubt, die Linke können in diesen Fragen schweigen, übersieht die Sorgen und Ängste der Klasse. Was wir schaffen müssen ist, unsere Klimapolitik anders zu kommunizieren, nämlich als Ausdruck einen Ungleichheitskonflikt. Denn gestritten wird nicht darüber, ob der Klimawandel eine Bedrohung darstellt, sondern darum, wie und bei wem die Transformation ansetzen sollte und vor allem in welcher Geschwindigkeit. 

Abschließend: Wenn wir so stark und dominant in der Partei wären, wie manche gerne behaupten, würden wir das alles längst so machen. Spoiler: Sind wir aber gar nicht. Wer das ändern möchte, kann gerne bei uns mitmachen: www.bewegungslinke.org/mitmachen

Verteilungsfragen wieder politisch machen

Foto: Created with DALLE•E, an AI system by OpenAI

Diskussion um das LINKE Europawahlprogramm

Die Europäische Integration hatte immer das Ziel den Wettbewerb zwischen Menschen und Staaten zu intensivieren.  Als Folge verschwinden Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen aus der politischen Debatte. Dies ist kein Zufall, sondern strukturell in den Europäischen Verträgen angelegt. DIE LINKE muss das Wahlprogramm zuspitzen und einen denkbaren Plan zur Überwindung der aktuellen Europäischen Verfassung präsentieren. Eine Blaupause dafür ist das „Manifest für die Demokratisierung Europas“ von Thomas Piketty und anderen Wissenschaftler*innen.

Von Jan Siebert

Kürzlich hat der Vorstand der Partei DIE LINKE den Entwurf für das Wahlprogramm zur Wahl des 10. Europäischen Parlamentes vorgelegt. Auf über 80 Seiten präsentiert die Partei, wie sie sich ein solidarisches, ökologisches und gerechtes Europa vorstellt. Viele der konkreten Forderungen haben eine Gemeinsamkeit: Sie lassen sich unter Einhaltung der aktuellen Europäischen Verträge nicht umsetzen.

In die Europäischen Verträge ist eine wirksame Barriere gegen eine gemeinsame, abgestimmte Sozial- und Steuerpolitik fest eingewebt. Eine gemeinsame europäische Steuerpolitik müsste einstimmig im Ministerrat entschieden werden. Unabhängig von der Einwohnerzahl reicht die Stimme eines Mitgliedlandes, um eine gemeinsame Steuerpolitik zu verhindern. Die Steuerparadiese Irland oder Luxemburg können bspw. ein koordiniertes Vorgehen gegen Steuerdumping auch dann verhindern, wenn alle anderen 26 Mitgliedsländer geschlossen dafür wären. 

Eine koordinierte Steuerpolitik als Antwort auf die wachsende Ungleichheit hat innerhalb dieses Reglements keine Chance auf Umsetzung. Als Konsequenz hat eine gemeinsame Sozial- und Steuerpolitik in der Diskussion auf europäischer Ebene nie eine große Rolle gespielt. Zeitgleich stehen sich die Mitgliedsstaaten in starker Konkurrenz auf dem gemeinsamen Binnenmarkt gegenüber. Das schwächt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer und Gewerkschaften, was das Lohnwachstum im Vergleich zum allgemeinen Wachstum deutlich bremste. Im Wettkampf stehen auch die nationalen Steuer- und Abgabensysteme. Die Besteuerung des Kapitals und die Besteuerung der mobilen, gebildeten Oberschicht, ist stark zurückgegangen. Der Spielraum für Umverteilung auf nationaler Ebene hat abgenommen. Als Folge verabschiedet sich diese Diskussion um sozialen Ausgleich und Umverteilung von der öffentlichen Bühne.

Wo jedoch über Sozial- und Steuerpolitik nicht diskutiert werden kann, weil jeder Fortschritt unmöglich erscheint, entzünden sich andere Diskussionen. Wo vor Jahren noch zwischen „mehr Gerechtigkeit“ auf der einen und „mehr Freiheit“ auf der anderen Seite diskutiert wurde, entspannt sich die Debatten heute zwischen den Polen Liberalkonservativ und Nationalkonservativ. Linke, sozialistische Positionen kommen nur noch am Rand der Debatte vor. Dies gilt auf europäischer Ebene, aber betrifft auch immer mehr Mitgliedsstaaten.

Die Partei DIE LINKE darf vor dieser Situation nicht kapitulieren, indem sie sich einer der dominanten Pole anschließt. (Wobei es in der LINKEN sowohl Vertreter*innen gibt, die die nationalkonservative Seite stärken wollen, als auch Vertreter*innen, die die liberalkonservative Seite stärken wollen. Beides wäre falsch.) Stattdessen muss DIE LINKE klar sagen welchen Weg sie gehen will und gehen muss, wenn sie am Ziel des demokratischen Sozialismus festhalten will. Dieser Weg führt an einer Überwindung der aktuellen Europäischen Verträge nicht vorbei. Es gibt keine Abkürzungen.

Der Entwurf für das LINKE Europawahlprogramm lässt auch keinen Zweifel daran, dass die LINKE neue Europäische Verträge will. Sie hat diese Erkenntnis jedoch auf Seite 70 des Programmentwurfs versteckt. Es scheint, als wolle die Partei sich und ihre Wähler*innen vor der unbequemen Wahrheit schützen. Es gibt sicher Gründe für diese Aufteilung im Wahlprogramm. Niemand in der Partei will die plumpe Diskussion aus dem Jahr 2019 wiederholen. Zum anderen will die Partei den Eindruck vermeiden, jeder sozialen Verbesserung in Europa müssen die Vertragsänderungen zwingend vorrausgehen. (Dieser Eindruck wäre falsch und muss tatsächlich unbedingt vermieden werden. Schon jetzt bieten sich zahlreiche Stellschrauben mit denen Europa sozialer und ökologischer gemacht werden kann. Es braucht nur eine Partei, die den Willen hat, sie zu drehen.) 

Wer jedoch – nicht weniger – als neue Europäische Verträge will, tut gut daran dies den potenziellen Wähler*innen nicht erst auf Seite 70 zu verraten. Ein Hinweis auf das Ziel die alte Europäische Union zu überwinden, gehört direkt zu Beginn in die Präambel des Wahlprogramms.

DIE LINKE darf im Wahlkampf keinen Zweifel daran lassen: Die ökonomischen Verhältnisse der Arbeitenden haben sich nicht trotz, sondern wegen der Europäischen Verträge verschlechtert. 

Hoffnung machen

Doch DIE LINKE ist eine Partei, die die Verhältnisse nicht nur beklagen will. DIE LINKE muss auch den Willen und die Kompetenz haben die Dinge zu ändern. Nur wenn ein anderes Europa möglich ist, macht es Sinn, wählen zu gehen und sich bei Protesten zu engagieren. Kann eine Klimapolitik, die den Klimawandel verhindert, eine humane Fluchthilfe, eine demokratische Union, eine progressive Wirtschaftspolitik und vor Allem eine gerechte Verteilungspolitik innerhalb der Europäischen Union gelingen?

Dazu muss festgestellt werden: Die Verhältnisse in der Europäischen Union sind nicht in Stein gemeißelt. Die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, dass die EU sich wandelt, wenn der Druck groß genug ist. Eurokrise, Coronakrise, Klimakrise und zuletzt während der Energiekrise: Wenn der Druck groß ist, wandelt sich die EU und verstößt auch gegen ihre eigenen – vorher für sakrosankt gehaltenen – Regeln. Es spricht also nichts dagegen einen hoffnungsvollen Plan zur Überwindung der aktuellen Europäischen Union zu präsentieren, auch wenn zu dessen Erfüllung noch viel passieren müsste. Um Hoffnung zu geben, ist es wichtig, dass es einen denkbaren Plan gibt. Bislang präsentiert der Entwurf für das LINKE Wahlprogramm lediglich die Forderung nach Einberufung eines neuen Verfassungskonventes. Wie der Konvent zustande kommen soll oder wie das Einstimmigkeitsprinzip umgangen werden kann, dazu schweigt der Programmentwurf.

Hoffnungsvoller und denkbarer ist das „Manifest zur Demokratisierung Europas“ von Thomas Piketty und anderen Wissenschaftler*innen. Es kann als Blaupause für den Aufbau eines demokratischen, gerechten Europas dienen. Obwohl der Plan schon in die Jahre gekommen ist und als Antwort auf den Brexit gedacht war, ist es nach wie vor der klügste Plan zur Überwindung der aktuellen, undemokratischen Verfassung der Europäischen Union. Der Plan sieht vor, dass eine Gruppe williger Staaten vorweg geht und eine Parlamentarische Europäische Union gründet. Indem eine neue Union innerhalb der alten Europäischen Union gegründet wird, wird das – eigentlich vorgesehene – Prozedere der Einstimmigkeit umgangen.

In der Parlamentarischen Europäischen Union sollen dann etwa Steuerfragen nicht mehr vom Ministerrat, sondern von einer zweiten, europäischen Kammer entschieden werden. 

Das Ziel ist es, die Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen wieder zum Objekt der Politik zu machen. Eine breite, europäische Öffentlichkeit soll darüber streiten und entscheiden (!), wie eine gerechte Verteilungspolitik aussehen kann. So könnten etwa als wirksames Mittel gegen die steigende Ungleichheit eine europäische Einkommenssteuer für große Einkommen, eine europäische Vermögenssteuer und ein europäisches Finanztransaktionsregister eingeführt werden. Der zermürbende Steuerwettkampf zwischen den Nationalstaaten könnte so beendet werden.

Bislang verhindert dies die Einstimmigkeitsregel im Ministerrat bei Steuerfragen. Der Entwurf für das LINKE Wahlprogramm spricht sich immerhin dafür aus, die Einstimmigkeitsregel zu streichen (S.29). Es reicht jedoch nicht aus die Einstimmigkeitsregel einfach zu streichen. Dann wären noch immer die nationalen Minister*innen und Minister in der Verantwortung. Diese vertreten dann weiterhin ihre nationalen Interessen. Eine breite Diskussion in der europäischen Öffentlichkeit wäre so noch immer unwahrscheinlich.

Die andere naheliegende Lösung scheint es zu sein, die Steuerpolitik in die alleinige Verantwortung des Europäischen Parlamentes zu geben. Hiervon raten jedoch Piketty und Co ab. Die Steuer- und Sozialpolitik, die sich im 20. Jahrhundert in den Nationalstaaten entwickelt haben, gehören zu den größten sozialen Errungenschaften. Den nationalen Parlamenten diese Kompetenz einfach zu entziehen, würde der gewachsenen Struktur nicht gerechtet.

Stattdessen schlagen die Wissenschaftler*innen vor eine zweite Kammer auf europäischer Ebene für die grundsätzlichen Fragen einzurichten. Sie schlagen vor eine Europäische Versammlung bestehend aus den Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und den Mitgliedern der nationalen Parlamente einzuberufen. Das Konzept gleicht in etwa dem der Bundesversammlung. Die Wissenschaftler*innen lassen die Frage nach dem Verhältnis von Mitgliedern des EPs und der nationalen Parlamente ebenso offen, wie die Frage mit welcher Gewichtung die einzelnen Nationen vertreten sein sollen. Sie weisen lediglich darauf hin, dass der Anteil der Mitglieder des EPs den Anteil der nationalen Parlamentarier nicht übersteigen sollte, um der historisch gewachsenen nationalen Struktur der Steuer- und Sozialpolitik gerecht zu werden. In dieser neuen Versammlung sollen dann nationale Parlamentarier und Europaabgeordnete gemeinsam darüber beraten und entscheiden, welche Maßnahmen weiterhin national geregelt sein sollen und für welche Situationen eine europäische Lösung Sinn ergibt.

Piketty und Co sind sich darüber im Klaren, dass der Plan ein Bruch der alten Europäischen Verträge bedeutet. Die Staaten, die bereit wären diesen Weg zu gehen, müssten zum Äußersten bereit sein. Das Äußerste wäre der Bruch mit der alten EU. Es könnte aber auch ganz anders ablaufen. Wenn die Gruppe der Staaten groß genug ist, müssten die anderen mitziehen. Auch wenn dann kleine Steueroasen vor den Europäischen Gerichtshof ziehen würden, ist unklar wie dieser entschiede. In der Vergangenheit hat sich das Gericht oft sehr pragmatisch im Umgang mit Krisen gezeigt.

Ob das „Manifest für die Demokratisierung Europas“ nun die Abschaffung der alten EU oder nur eine grundlegende Reform der EU bedeutet, ist nicht absehbar. Entscheidend ist, dass das Manifest einen denkbaren Plan zur Überwindung der aktuellen Verhältnisse in der EU bietet. Es kann der ablehnenden Haltung gegen die jetzige EU Ausdruck verleihen und bietet gleichzeitig einen hoffnungsvollen, konstruktiven Umgang damit an.

DIE LINKE sollte sich den Forderungen des Manifests für die Demokratisierung Europas in Ihrem Wahlprogramm anschließen oder dort zumindest aufzeigen, dass es denkbare Wege raus aus dem Status Quo der EU gibt.

Die Zukunft ist jetzt!

Die Welt ist im Wandel. Die Krisen, die wir als Gesellschaft durchleben, überschlagen sich. Wir befinden uns am Beginn einer tiefen Rezession. Die Kipppunkte im Klimasystem werden erreicht und die Klimakatastrophe wird mit jedem Tag sichtbarer. Zeitgleich sterben täglich Menschen beim Krieg in der Ukraine, die Gefahr einer weiteren Eskalation bis hin zum nuklearen Ernstfall wächst. Neofaschistische Parteien erfahren europaweit starken Zuwachs. Steigende Kosten führen zu Massenverarmung. 

DIE LINKE muss angesichts dieser Konflikte und anstehender Verteilungskämpfe ihren Platz finden, als einzige linke Oppositionspartei jenseits der Ampel auf der einen Seite und als antifaschistisches Bollwerk gegen die autoritär-nationalistische AfD auf der anderen Seite. Sie muss konkrete Antworten liefern, wie sie die ökologische Frage und die Klassenfrage verbindet, wie ihr friedens- und außenpolitisches Projekt der Zukunft aussieht und wie sie den Kampf gegen Faschisten erfolgreich führen will. Unsere Aufgabe als Bewegungslinke innerhalb der Partei ist, daran aktiv mitzugestalten, Initiativen für eine organisierende Linke in der Partei zu stärken, die Partei als ernsthafte Partnerin gewerkschaftlicher wie sozialer Bewegungen weiter aufzubauen. Das alles zusammen mit den Kräften in der Partei, die den Willen haben, mit der LINKEN aufkommende gesellschaftliche Konflikte aufzugreifen. 

Gelingt uns das, dann hat die LINKE eine Zukunft. Die Alternative wäre ein schmerzvoller Untergang, der nachhaltige katastrophale Auswirkungen für die gesamte gesellschaftliche Linke haben würde. Doch trotz aller innerparteilichen Konflikte und gesellschaftlichen Herausforderungen haben wir Hoffnung und wollen mutiger vorangehen. In den vergangenen Jahren haben sich uns viele Genoss:innen angeschlossen. Mit über 1000 Mitgliedern bringen wir als Bewegungslinke viele Erfahrungen und Ideen mit, die helfen können, uns durch schwere Zeiten zu manövrieren. Natürlich müssen auch wir besser werden und weiter lernen, aus Erfolgen, aber vor allem auch aus Fehlern. Wir sind entschlossen, DIE LINKE zu einer organisierenden, verbindenden und politisch zuspitzenden Kraft zu machen. Das setzt voraus, die inneren Spaltungen zu überwinden. 

Sozial-ökologische Transformation statt marktorientierte Wende

Extreme Trockenheit, Überschwemmungen und Hitze sind die Vorboten der Klimakatastrophe. Statt erneuerbare Energien auszubauen und stärker zu fördern, setzt die Ampel-Koalition auf fossile Ressourcen durch den Import von Fracking-Gas, verlängert die Laufzeit der Atomenergie und schaut zu, wie der ÖPNV vor die Hunde geht. Statt den Nahverkehr auszubauen und das 9-Euro-Ticket wie zum Beispiel in Spanien durch eine Übergewinnsteuer weiterlaufen zu lassen, wird nun ein 49-Euro-Ticket eingeführt, das für die wenigsten eine bezahlbare Alternative darstellt. Die wenigen klimapolitischen Maßnahmen, die die Bundesregierung tätigt, werden nicht durch Vermögensabgaben oder Reichensteuern finanziert, sondern sollen von denjenigen bezahlt werden, die am wenigsten zur CO2-Belastung beitragen. Die Einmalzahlung zur Gasrechnung im Dezember spricht für sich: Die Reichen dürfen weitermachen wie bisher, obwohl das reichste 1 Prozent doppelt so viele Emissionen verursacht wie die ärmsten 50 Prozent der ganzen Weltbevölkerung. Der grüne Kapitalismus – die Mär davon, dass Markt, Wachstum, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz miteinander vereinbar seien – führt nicht nur zu mehr globaler Ungerechtigkeit, sondern spielt auch den Rechten und Klimaleugnern in die Hände. Die Klimakrise muss daher ein Schwerpunktthema für die LINKE sein. Für uns als Bewegungslinke ist dabei entscheidend, dass linke Antworten die Klassenfrage ins Zentrum stellen, ohne bei der Klimafrage Abstriche zu machen. In der kommenden Zeit sollten wir dafür kämpfen, den Energiesektor in öffentliches Eigentum zu überführen, ohne für die Altlasten von RWE und Co aufkommen zu müssen. Wir sollten für den Ausbau eines guten öffentlichen Nahverkehrs kämpfen, in dem wir die “9 Euro weiterfahren Kampagne” fortsetzen und diese sukzessive in Bündnisse zur Begleitung der kommenden Tarifauseinandersetzung im Nahverkehr überführen. Wird die Ampel die Atomkraft nicht nur verlängern, sondern wieder einführen, werden wir helfen, eine neue Anti-Atombewegung auf die Beine zu stellen. Wird die Ampel Fracking in Niedersachsen auf den Weg bringen, werden wir als LINKE mit zu den Protesten gehen. Werden die Beschäftigten in der von den industriellen Umbrüchen betroffenen Branchen nicht sozial abgesichert, werden wir an ihrer Seite dafür kämpfen. 

Der Krieg in der Ukraine – gemeinsam Auswege suchen

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat bereits zahlreiche Menschenleben gekostet. Für uns als internationale LINKE wirft der Krieg viele Fragen für die Zukunft auf, auf die wir Antworten finden müssen: Wie kann eine anti-imperialistische, öko-sozialistische Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit aussehen, angesichts einer nicht vorhersehbaren Eskalationsdynamik, sich abzeichnender neuen Blockkonfrontation, verstärkter Konkurrenz um Energie auf dem Weltmarkt, Aufrüstung sowie dem Erstarken von Nationalismus und der transnationalen, neo-faschistischen Rechten?

Die Partei hat den russischen Angriffskrieg und den Versuch, Grenzen und Einflusssphären zu verschieben, klar verurteilt. Seit Jahren betreibt Putin eine expansive Politik, die darauf abzielt, Macht zu akkumulieren und den russischen Einflussbereich gegenüber der NATO zu erhalten und auf Kosten vormaliger GUS-Staaten zu vergrößern. Hierbei ist die Ukraine bereits seit den Maidan-Protesten und der Annexion der Krim 2014 auch Schauplatz geopolitischer Konflikte imperialistischer Mächte. Der jüngste Überfall Russlands hat über die Grenzen der Ukraine hinaus eine besorgniserregende Entwicklung verschärft, unter anderem durch neue Aufrüstungsprogramme in vielen europäischen Ländern. Für unser politisches Handeln ist es wichtig, den Charakter der Auseinandersetzung zu erfassen: Der imperialistische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist sowohl ein Krieg zwischen beiden Ländern als auch ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Nato, der schon länger andauert. Die Ukraine wurde von Russland in einen alternativlosen Verteidigungs- und Unabhängigkeitskrieg gezwungen, der noch Jahre dauern kann. Für uns ist klar:  Angriffskriege erfordern internationale Solidarität mit den Überfallenen. DIE LINKE steht nicht auf der Seite der Herrschenden, weder im Lager Russlands oder der NATO. Wir kämpfen für eine Welt jenseits der Spaltung in imperialistische Lager, wir sind an der Seite derjenigen, die sich für Selbstbestimmung und demokratische Souveränität stark machen. Dabei ist es mit Blick auf die Ukraine wichtig, auch auf Probleme wie Oligarchenherrschaft und aggressiven Nationalismus hinzuweisen. Die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, mit den Menschen, die desertieren oder in Russland gegen den Krieg protestieren, sind für uns zentral. 

In Übereinstimmung mit dem Beschluss des BPT stellen wir uns gegen Rüstungsexporte und Waffenlieferungen und für die Ausschöpfung nicht-militärischer Möglichkeiten. Es braucht Verhandlungen und wirtschaftlichen wie diplomatischen Druck auf Russland. In diesem Sinne plädieren wir für eine Versachlichung der Debatte über Sanktionen. Wirtschaftssanktionen sind ein nicht-militärischer Weg Druck auszuüben, um Russland zu einem Truppenabzug und/oder Friedensverhandlungen zu bewegen. Gezielte Sanktionen schränken mittelfristig die finanziellen und wirtschaftlichen Kapazitäten Russlands ein, Krieg führen zu können. Dazu macht DIE LINKE Druck auf die Bundesregierung und die EU, um auch China und Indien für einen Frieden in der Ukraine zu gewinnen. Russland versucht seine wirtschaftlichen Verluste über neue Handelsabkommen mit Indien und China zu kompensieren. Für eine schnellstmögliche Verhandlungslösung braucht es daher auch diplomatischen Druck Chinas und Indiens auf Russland.

Die bloße Forderung nach Verhandlungen – ohne jegliche Druckmittel – würde uns als LINKE unglaubwürdig machen, und wäre de facto eine Entsolidarisierung mit den Menschen in der Ukraine. Gleichzeitig setzen wir uns für eine zielgerichtete Diskussion über Sanktionen ein. In Europa und dem Globalen Süden leiden viele Menschen unter den Folgen des Krieges und des Wirtschaftskriegs zwischen dem Westen und Russland. Deswegen wenden wir uns gegen Sanktionen auf Lebensmittel und lebenswichtige Güter wie zum Beispiel Energie – egal, ob sie vom Westen oder durch Blockaden Russlands ausgelöst werden. Wir wenden uns darüber hinaus gegen Maßnahmen, die den Austausch zwischen den Menschen in den Machtblöcken erschweren wie VISA-Restriktionen oder den Boykott von Kultur- und Austauschveranstaltungen. Dem aufkommenden Nationalismus gegenüber Ukrainer:innen und Russ:innen stellen wir uns entschieden entgegen.

Um den steigenden Energiepreisen entgegenzuwirken, fordern wir die Einführung einer Übergewinnsteuer für Mineralölkonzerne und Stromproduzenten, genauso wie die Stärkung der energiepolitischen Unabhängigkeit von Russland, Saudi-Arabien, Katar oder der USA. Eine einfache Rückkehr zur Abhängigkeit vom russischen Gas darf es nicht geben. Neue langfristige Abhängigkeiten vom Fracking-Gas in den USA sind in Zeiten des aufsteigenden Autoritarismus auch keine akzeptable Option.

Die LINKE muss als einzige Friedenspartei die Gefahr eines Atomkriegs klar benennen und sich gegen die gefährliche Eskalationsdynamik stellen, die wir derzeit erleben. Bemühungen für Verhandlungen mögen auf den ersten Blick aussichtslos wirken – Versuche, die Eskalation nicht weiter zu befeuern, sind trotzdem richtig. Ein zeitgemäßer Internationalismus von unten müsste den Ruf nach Friedensverhandlungen mit einer klaren Kritik des Putin-Regimes, der Forderung nach einer europäischen (und globalen) Energiewende, einer gerechten Finanzierung der Wiederaufbaukosten, Armutsbekämpfung und der Enteignung der Oligarchen (in Russland wie der Ukraine) verbinden. Derzeit müssen wir realistisch sehen, dass eine solche europäische Friedensbewegung nicht in Sicht ist. Umso wichtiger ist es, als LINKE den Dialog zu suchen und Vorschläge für gemeinsame Perspektiven zu entwickeln. Dazu gehört auch, konkreter darzulegen, wie wir eine internationale Friedens- und Sicherheitsordnung erreichen wollen, für die wir werben. Im Verlauf des Krieges wurden die Rufe von Liberalen und Konservativen im Land immer lauter, dass Deutschland nun auch eine militärische Führungsmacht werden solle. Das lehnen wir entschieden und auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ab. Wir kämpfen für Abrüstung statt Aufrüstung und wollen 100 Milliarden in unsere Zukunft, für die sozial-ökologische Transformation, investieren.

Genug ist genug – an der Seite der Klasse und nicht vergessen: Kein Fußbreit dem Faschismus

Wir befinden uns am Beginn einer tiefen Rezension. Im September dieses Jahres lag die Inflationsrate bei 10 Prozent. Der Verbraucherpreisindex für Energie bei 43,9 Prozent, für Nahrungsmittel bei 18,7 Prozent. Das bedeutet Verarmung für große Teile der Bevölkerung. Jeder Sechste in Deutschland verzichtet aktuell auf eine Mahlzeit am Tag, weil die Lebensmittel zu teuer geworden sind. Die steigenden Preise führen bei vielen Menschen zu Angst, Frust und punktuell auch zu Protest. Die hohen Preise treffen vor allem Lohnabhängige, Millionen Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, Student:innen und Rentner:innen. Kampagnen wie #ichbinarmutsbetroffen zeigen eindrucksvoll, wie in einem der reichsten Länder der Welt Menschen trotz Unterstützung hungern und frieren müssen. 

Gerade jetzt braucht es eine LINKE, die soziale Wut auf die Straße und auch in die Parlamente bringt. Die derzeitigen und kommenden Tarifauseinandersetzungen in der Metall- und Elektrobranche sowie im Öffentlichen Dienst sind und werden harte Auseinandersetzungen. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit wird es sein, die Tarifauseinandersetzungen zu unterstützen und sie im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Entlastungsbewegung mitaufzubauen. In diesem Sinne verstehen wir „Genug ist Genug“ als eine vielversprechende Bündnisformation, in welcher wir neben anderen als LINKE aktiv sind: organisatorisch wie inhaltlich. Denn Inflation heißt nicht nur steigende Preise, Inflation heißt auch Verteilungskampf von unten nach oben. Hohe Preise sind zugleich auch hohe Gewinne für viele Konzerne, die sich an der Not der Menschen bereichern. Unsere Aufgabe besteht darin, unsere Forderungen wie etwa die konsequente Besteuerung von Vermögen oder die Einführung einer Übergewinnsteuer zu popularisieren. 

Aber wir nehmen auch wahr, dass große Teile des Protests – insbesondere im Osten der Bundesrepublik – reaktionäre, nationalistische Antworten auf die Krise geben. So profitiert die AfD derzeit am meisten von den Entwicklungen. Der Aufbau starker, linker Sozialproteste ist daher auch notwendig gegen das Wiedererstarken der Rechten. Unsere Aufgabe muss dabei sein, deutlich zu machen, dass rechte Propaganda, Verschwörungstheorien oder Putin-Sympathien nichts auf unseren Kundgebungen und Protesten zu suchen haben. Die LINKE kann in der kommenden Zeit stärker werden, wenn sie es schafft, organischer Teil der Proteste zu werden und gleichzeitig überzeugende Antworten gibt, wie die Verarmung großer Teile der Bevölkerung verhindert werden kann: Kriegsprofiteure zur Kasse, Energieversorgung in öffentliche Hand, Fortsetzung des 9-Euro-Tickets, schnelle unkomplizierte Hilfen im Winter. Wir sind die einzige Partei, die schnelle und realisierbare Antworten auf die Krise hat, die zugleich sozial gerecht und ökologisch nachhaltig sind. Wir halten es für falsch, subtil Offenheit in das AfD-Wähler:innenlager auszustrahlen. Nicht die Grünen, sondern die AfD ist die gefährlichste Partei im Bundestag. 

Von passiven zu aktiven Mehrheiten 

Wenn wir als Partei in Zukunft eine Rolle spielen möchten, müssen wir unser Profil als linkssozialistische Kraft schärfen. Wir wollen eine Partei sein, die gesellschaftliche Opposition stärkt und den Widerstand organisiert, eine Partei, die den demokratischen Sozialismus anstrebt. Diese LINKE, an der wir seit 2012 arbeiten, verbindet unterschiedliche Klassenmilieus und ist daher schon immer herausgefordert, verschiedene Anliegen in einem politischen Projekt, der LINKEN, zu bündeln. Als Bewegungslinke wollen wir über die Formulierung der Wendepunkte zeigen, an welchen Kernfragen diese Anliegen und Interessen zusammenkommen, aber auch wo sie durchsetzbar sind. Unsere Wendepunkte formulieren legitime Erwartungen und Ansprüche auf ein glückliches und gesundes Leben, die mehrheitlich geteilt werden, hinter denen also mindestens passive Mehrheiten stehen. Unsere Aufgabe ist es, im Dialog und im Bündnis mit Bewegungen, Gewerkschaften, Basis-Initiativen und all jenen, die noch nicht organisiert sind, aktive Mehrheiten aufzubauen. So können wir als LINKE parlamentarisch und außerparlamentarisch ausstrahlen, dass es uns um eine echte Veränderung und Verbesserung im Hier und Jetzt, mit Perspektive einer sozialistischen Zukunft, geht: Mit einem echten Mietenstopp, einer konsequenten Verkehrswende, dem Verbot von Waffenexporten oder der Abschaffung der Fallpauschalen ließen sich Anliegen bündeln und eine relevante gesellschaftliche Kraft erschaffen.

In diesem Sinne muss die LINKE Widerstands- und Oppositionspartei sein, nicht allein, um Verschlechterungen zu verhindern, sondern auch, damit Lust und Energie für einen wirklichen politischen Aufbruch entstehen können. Dazu müssen wir auch deutlich machen, dass wir dieses Land rebellisch regieren wollen – im Konflikt mit den Herrschenden, im Bündnis mit allen, die auf ein besseres Leben hoffen und dafür kämpfen wollen. Die LINKE, die wir aufbauen wollen, diskutiert auf Augenhöhe mit den Leuten, nicht über sie – sie versucht jene zu organisieren und zu unterstützen, die das Leben jeden Tag besser machen: Betriebs- und Personalräte, Aktive in der Geflüchtetenarbeit, Aktive in Mieter:inneninitiativen oder Klimaaktivist:innen. Und sie wendet sich offen an die, die schwanken und nach Alternativen suchen. 

Mit denen, die die Partei aufbauen wollen

Der Weg der LINKEN war auch ein schwerer: Wir haben viel gestritten, sind aber auch immer wieder zusammengekommen. Heute ist nicht allen mehr an einem gemeinsamen, pluralen linken Projekt gelegen. Ein Teil der Partei geht seit 2016 einen eigenen Weg, gründete Konkurrenzprojekte wie Aufstehen, agiert seit Jahren gegen Programmatik und Parteitags- und -vorstandsbeschlüsse und kokettiert damit, eine neue Partei zu gründen. Lange Zeit wurde um Kompromisse und gegenseitige Absprachen gerungen, wie etwa gemeinsame Beschlüsse zur Migrationspolitik von Parteivorstand und Bundestagsfraktion belegen. Heute ist offensichtlich, dass die Gräben unüberwindbar sind. In allen gesellschaftlich kontrovers diskutierten Fragen seit 2016 hat es aus der LINKEN widersprüchliche Antworten gegeben, weshalb sie mittlerweile als völlig beliebig wahrgenommen wird und in alle Richtungen an Zustimmung verliert. Wer heute den Kritiker:innen von Wagenknecht Spaltung vorwirft, dem sei entgegnet: Wagenknecht und alle, die Programme und Beschlüsse der LINKEN ignorieren, betreiben die Spaltung der eigenen Mitgliedschaft und Anhänger:innen seit Jahren, indem sie bei den Themen Migration, Klima, Corona und dem Angriffskrieg Russlands nicht die Positionen der Partei nach außen vertreten, sondern mitunter das Gegenteil. Dass viele unserer früheren Wähler:innen uns nicht mehr wählen, ist selbstverständlich auch die Folge davon, dass prominent und wiederholt verkündet wurde, DIE LINKE vertrete die Interessen der Beschäftigten nicht mehr. Selbst wenn dies so wäre, was wir bestreiten, wäre es die Aufgabe der Parteimitglieder, sich für eine entsprechende Schärfung eines solchen Profils einzusetzen, statt öffentlich die eigene Partei zu diskreditieren und Teile ihrer Mitglied- und Anhängerschaft als Lifestyle-Linke zu beleidigen. 

Wir haben kein Verständnis mehr für solch parteischädigendes Verhalten und keine Angst vor einer Abspaltung von einem Teil der Bundestagsfraktion. Die Partei hat sich wiederholt und mit großen Mehrheiten für eine klassenorientierte, internationalistische, feministische, antifaschistische und ökologische Programmatik entschieden. An diejenigen, die als harter Kern nur noch gegen die Partei Politik machen wollen, werden wir uns nicht klammern. Wir kämpfen um jede:n enttäuschte:n Genoss:in, um mit uns in der Partei zu bleiben und werben dafür wieder in DIE LINKE einzutreten.

Das heißt auch: Wir unterscheiden zwischen denen, die sich längst gegen eine solche LINKE entschieden haben und über alternative Projekte nachdenken und denen, die anderer Meinung sind als wir, womöglich auch Anhänger:innen von Wagenknecht sind, aber nach wie vor Interesse daran haben, diese LINKE wieder auf die Beine zu bringen und gemeinsam mit uns dafür streiten wollen. Wir laden alle Genoss*innen ein – spektren- und strömungsübergreifend – mit uns den Weg eines solidarischeren Miteinanders und des Aufbruchs zu gehen. Wir sind überzeugt, dass es eine Partei links der Ampel braucht und vertrauen darauf, die Kraft aufbringen zu können, die LINKE wieder zu einer starken sozialistischen Partei aufzubauen.

Ko-Kreis der Bewegungslinken

November 2022

Das gesamte Papier als PDF.

Die Zukunft der LINKEN muss heute beginnen oder es wird keine Zukunft geben

Stellungnahme des Ko-Kreis der Bewegungslinken

Wenn die Bundestagswahl für uns ein Blick in den Abgrund war, dann haben spätestens der russische Angriff auf die Ukraine sowie die Berichte zu #linkemetoo und sexistischen Übergriffen jedem Mitglied gezeigt, dass sich DIE LINKE dringend verändern und erneuern muss. 

Klar ist: Es muss jetzt eine Vision für die Zukunft der Partei entwickelt werden oder es wird keine Zukunft geben. Nach den verheerenden Wahlniederlagen brauchen wir ausgehend vom Bundesparteitag eine Verständigung, wofür die LINKE geschlossen, entschlossen und unverrückbar steht und wie die vergiftete Kultur der letzten Jahre überwunden werden kann. 

Inhaltlich braucht es dazu eine klare Funktionsbeschreibung. Dazu haben wir aus verschiedenen Landesverbänden „Wendepunkte“ identifiziert. Sie betonen unsere Alleinstellungsmerkmale und sind dennoch für große Teile der Gesellschaft anschlussfähig – sie sind gewinnbar, obwohl es nur DIE LINKE will. Sie drücken eine Offensivhaltung aus und sind parlamentarisch wie außerparlamentarisch gut zu bearbeiten. Sie sind integrierend und auf der Höhe der Zeit. Alle Spektren und Strömungen unserer Partei können sich mit ihnen identifizieren.

Zur Arbeit an den Wendepunkten braucht es kein neues Grundsatzprogramm, sondern einen Richtungsentscheid für die Praxis. Es kommt darauf an, was wir draußen tun, wenn in den kommenden Jahren alle großen Zukunftsfragen verhandelt werden. Wir sind davon überzeugt, dass DIE LINKE nach der kräftezehrenden Pandemie wieder den Kopf heben kann – bei der Klimawende mit den Beschäftigten, bei Frieden und Abrüstung, beim Deckeln der Mieten und bei Pflege und Entlastung im Gesundheitswesen.

Wir werben mit den Wendepunkten für eine neue und ehrliche Funktionsbeschreibung der LINKEN, die motivierend ist und die alle Mitglieder erklären und erzählen können. Die Grundlage für eine verbindliche Schwerpunktsetzung ist und bis zur Bundestagswahl mit konkreten Schritten und Konzepten für die Praxis verbunden wird. In diesem Sinne werden wir uns zu den Leitanträgen beim Bundesparteitag einbringen.

Für die Zukunft der LINKEN braucht es zweitens Personen, die Verantwortung übernehmen: Wir begrüßen die Entscheidung des Parteivorstandes, neben wichtigen programmatischen Beschlüssen auf dem Juni-Parteitag auch den Parteivorstand neu zu wählen. Zugleich ist völlig klar, dass eine Neuwahl des Parteivorstandes nur dann neuen Schwung bringen kann, wenn auch in der Fraktion Verantwortung übernommen und eine Neuaufstellung ermöglicht wird. Es ist überlebenswichtig, dass Partei- und Fraktionsführung künftig gemeinsam statt gegeneinander agieren und abgestimmte Botschaften senden.

Wir empfehlen daher ein Votum des Bundesparteitags auch für die neue Fraktionsspitze und werden mit unseren Mitgliedern und Delegierten darüber beraten, ob die kursierende Idee einer zeitlich begrenzten Partei- und Fraktionsführung mit identischem Personal „aus einer Hand“ eine geeignete Konstellation bis zur nächsten Bundestagswahl sein kann, um DIE LINKE aus der Krise zu führen.

Für die Zukunft der LINKEN braucht es drittens wirksame Verfahren bei sexistischen Übergriffen: Uns schockieren die Berichte zu #linkemetoo und wir setzen uns dafür ein, dass diese Fälle schnell und unabhängig aufgeklärt werden. Sexismus in der Partei und eine (Un-)Kultur des Herabwürdigens waren und sind für uns Motivation für die Gründung und Arbeit der Bewegungslinken. 

Wir sind solidarisch mit allen Betroffenen von sexualisierter Gewalt, sexueller Belästigung oder auch sexistischen Anfeindungen. Dass die Partei nicht frei von diesen Formen der Unterdrückung ist, überrascht uns nicht. Gleichwohl ist es richtig, von ihr einen entsprechenden Umgang zu erwarten. Wir begrüßen daher die Beschlüsse des Parteivorstands, erwarten aber auch von den Gliederungen auf Landes- und Kreisebene, die eigenen Strukturen selbstkritisch zu überprüfen und Vorkehrungen zu schaffen, um weiteren Fällen präventiv entgegenzutreten. 

Zu den Vorkommnissen gilt es ebenso festzuhalten, dass Beschuldigte noch keine Täter:innen sind und wir dem Anspruch unabhängiger Aufklärung nur dann gerecht werden können, wenn Vorwürfe, in den dafür vorgesehenen Kommissionen statt über die Medien (das schließt die Kommentierung von noch nicht geklärten Fällen über die Medien ein), von unabhängigen Stellen und frei von machtpolitischen Interessen überprüft werden. Persönlichkeitsrechte müssen dabei gewahrt werden. 

Wir weisen die Darstellung, in der Partei stünde sexualisierte Gewalt an der Tagesordnung, zurück. Sehr wohl sind aber Herabstufungen aufgrund des Geschlechts weit verbreitet, sodass dafür überall vor Ort sensibilisiert und um einen bewussten und respektvollen Umgang gerungen werden muss. Wir wollen dazu beitragen und im Sinne unserer Gründungserklärung eine Kultur schaffen, „die Lust aufs Mitmachen macht“ und in der sich Genossinnen auf allen Ebenen sicher und ermuntert fühlen, für die Linke im Land Verantwortung zu übernehmen.

Für die Zukunft der LINKEN braucht es viertens eine andere Parteikultur: Wir werben für einen Kulturwandel, der nicht nur den persönlichen Umgang einschließt, sondern auch die Diskussionsatmosphäre. Diese hat sich in den vergangenen Jahren stetig verschlechtert und auch Mitglieder der Bewegungslinken waren nicht immer vorbildlich unterwegs. Wenn wir unter Genoss:innen aber das Interesse am Gegenüber und ihren/seinen Argumenten verlieren, werden wir nicht klüger, sondern dümmer. Wir lernen nicht im Diskussionsprozess, wir lernen nicht von anderen. 

Wir arbeiten deshalb an einer Kultur, in der Fehler gemacht werden können, um besser zu werden. Wir streiten für eine Partei, in der Erfahrungen ausgewertet werden, anstatt Schuldige zu suchen. Angesichts des Krieges in der Ukraine ist es doch beispielsweise nachvollziehbar, dass viele Menschen, auch Mitglieder der LINKEN, über Waffenlieferungen nachdenken, um die Ukrainer:innen nicht ihrem Schicksal zu überlassen. 

Als Bewegungslinke finden wir diese Schlussfolgerung falsch, aber werben dafür, einander mit geduldigen Argumenten zu überzeugen, statt Genoss:innen pauschal als Kriegstreiber:innen zu bezeichnen. Andersrum ist es ebenso daneben, denjenigen, die gegen Waffenlieferungen und teils auch gegen Sanktionen sind, zu unterstellen, sie seien damit für die Kapitulation der Ukrainer:innen oder gar putinfreundlich.

In einer Diskussionsatmosphäre, die so vergiftet ist, begegnen wir uns längst nicht mehr als Genoss:innen und schon gar nicht mehr auf Augenhöhe. Dies ist aber unabdingbar, wenn die einzige linke Partei in diesem Land eine Zukunft haben soll. Dafür gilt es beim kommenden Parteitag die Weichen zu stellen.

Wir brauchen einen neuen linken Grundkonsens

Beitrag von Raul Zelik und Harald Wolf

Die LINKE befindet sich in einer tiefen Krise – nicht ihrer ersten, aber doch eine ihrer schwersten. Innerparteiliche Konflikte wurden in der Vergangenheit nicht gelöst, auf Konfliktlinien, die sich seit 2008 neu herausgebildet haben, nur ungenügend reagiert. Das Ergebnis ist ein disparates Erscheinungsbild der Partei, die Wahrnehmung der LINKEN in der Bevölkerung oftmals durch sich widersprechende prominente Vertreter*innen bestimmt.

Vor diesem Hintergrund fordern einige in unserer Partei eine Programmdiskussion, um uns neu über unsere Grundlagen zu verständigen. Unbestritten – wir brauchen einen neuen linken Grundkonsens. Aber wir sind der Ansicht, dass eine allgemeine Programmdebatte ein denkbar schlechtes Instrument ist, um die Krise zu überwinden. Die Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm würde die Kräfte für einen langen Zeitraum nach innen richten und weniger in eine zielgerichtete Intervention in gesellschaftliche Konflikte.

Statt uns in zahllosen Detailfragen aneinander abzuarbeiten, sind wir der Auffassung, dass es darauf ankommt, jene wenigen, aber zentralen Fragen zu klären, in denen es tatsächlich einen politischen Dissens gibt. Unserer Ansicht nach sind dies vor allem folgende Punkte:

1/ Linke Außenpolitik: für einen anderen Internationalismus. Am sichtbarsten sind unsere Defizite in der Außenpolitik. Dabei geht der Vorwurf, in der LINKEN sammelten sich „Putin-Versteher“, an der Sache vorbei. Die Wahrheit ist, dass unsere Partei das „System Putin“ eben nicht verstanden hat. Gegenüber den postsowjetischen Ländern und China hat die LINKE auf jene politisch-ökonomische Gesellschaftsanalyse verzichtet, die bei uns ansonsten unwidersprochen als Voraussetzung jeder Politik gilt. Genau dieses Fehlen einer Analyse hat zu einer dramatischen Fehleinschätzung der internationalen Lage geführt.

Was bedeutet das nun für eine außenpolitische Neubestimmung? Wir sind nicht der Ansicht, dass die LINKE ihre ablehnende Haltung zur NATO oder ihre antimilitaristische Grundhaltung aufgeben sollte. Was wir stattdessen radikal infrage stellen müssen, ist unser Internationalismus-Begriff. Teile der Partei ordnen die Welt entlang einer „Staaten-Solidarität“. Dieses Lagerdenken war schon zu Zeiten des Blockkonflikts fragwürdig und ist heute, in Zeiten konkurrierender kapitalistischer Mächte, ganz einfach nur noch falsch. Um die internationale Situation wieder besser zu verstehen, müssen wir die innergesellschaftlichen Widersprüche und Herrschaftsverhältnisse in den Blick nehmen. Im geopolitischen Wettstreit zwischen den kapitalistischen Supermächten USA und China haben Linke nichts zu gewinnen; unser Platz ist an der Seite all jener politischen Bewegungen und Parteien, die für Solidarität, Gleichheit und demokratische Grundrechte in ihren Ländern kämpfen. Unsere Solidarität und Loyalität gilt nicht Staaten, sondern streikenden chinesischen Wanderarbeiterinnen und den unabhängigen Gewerkschaften in Hongkong, der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA, den antiautoritären Menschenrechtsgruppen und Kriegsgegner*innen in Russland…

2/ Das System Putin ernst nehmen. Für die aktuelle Debatte bedeutet das, sich von jenen Erklärungsmustern zu verabschieden, die den russischen Militarismus in erster Linie aus der Politik von USA und NATO ableiten und damit indirekt legitimieren. Wir sollten ernst nehmen, was uns antiautoritäre Linke aus postsowjetischen Gesellschaften schon lange sagen: Nach dem Ende der UdSSR hat sich in Russland ein kleptokratisches Regime etabliert, das einen aggressiven Nationalismus und offene Gewaltausübung nach innen und außen miteinander verbindet.  Nach 1991 machten sich Vertreter der alten sowjetischen Elite, sprich: Partei- und Staatsfunktionäre sowie Geheimdienstoffiziere, den Staat zur Beute, und aufstrebende Oligarchen kaperten sich die privatisierten Betriebe.  Eine spezifische Verflechtung von Politik und Wirtschaft entstand: Der Staatsführung gegenüber loyale Oligarchen können sich ihre Pfründe sichern; denjenigen, die Loyalität vermissen lassen, droht der Verlust von Geld und Freiheit. Korruption und Machtmissbrauch gehören dabei zum Alltag.

Russland hat seit dem Ende der Sowjetunion eine Reihe von Kriegen geführt bzw. in bürgerkriegsähnliche Konflikte in den postsowjetischen Republiken interveniert. Der Tschetschenienkrieg, Georgien, die Annexion der Krim und die militärische Unterstützung der Separatistengebiete in der Ukraine, der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, der Transnistrienkonflikt in Moldau, die Niederschlagung des Aufstands in Kasachstan und aktuell der Angriffskrieg auf die Ukraine stehen für eine Kette militärischer Interventionen. Sie alle dienten der Stützung autoritärer Regime bzw. nutzten Nationalitätenkonflikte aus, um Spannungsherde in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu erzeugen und so Einfluss auf deren Politik zu nehmen oder die Länder zu destabilisieren. Dabei geht es dem Kreml darum, seine Einflusssphäre zu sichern und die Etablierung missliebiger politischer und wirtschaftlicher Systeme zu verhindern. Auch die Unterstützung des Despoten Lukaschenko bei der brutalen Niederschlagung des Aufstands in Belarus diente diesem Ziel. Die Intervention in den Syrien-Krieg war eine geopolitische Verlängerung dieser Strategie.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine muss in diesem Sinne auch aus den inneren Bedürfnissen des Systems heraus erklärt werden. Zwar ist die Ukraine keine „oligarchenfreie-Zone“, aber der dort existierende Grad bürgerlicher Freiheiten unterscheidet sie gravierend vom autoritären Regime Putins, das in den letzten Jahren die Repression noch massiv verschärft hat. Eine funktionierende parlamentarische Demokratie mit den damit verbundenen Freiheitsrechten stellt für das System Putin eine große Gefahr – ebenso wie es die Demokratiebewegung in Belarus war.  Es spricht Vieles dafür, dass der russische Angriffskrieg weniger mit der NATO-Expansion als mit der inneren Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft zu tun hatte.

Diese Analyse muss Ausgangspunkt unserer Politik sein. Wir dürfen daraus aber nicht – wie ein Großteil der Öffentlichkeit – den Schluss ziehen, dass sich der Autoritarismus in Russland mit militärischen Mitteln besiegen oder auch nur einhegen ließe. Auf die autoritären  Tendenzen im krisenhaften Kapitalismus gibt es keine simplen Antworten! Die Konfrontation von Nationalstaaten ist kein Instrument zur Demokratisierung. Unsere Verbündeten sind die antiautoritären Bewegungen in den postsowjetischen Gesellschaften selbst – und eben nicht die ebenfalls hochgerüsteten Militärapparate des Westens.

3/ Kein Materialismus ohne Ökologie. Das zweite große Defizit der LINKEN besteht darin, dass wir als Partei den Zusammenhang zwischen sozialer und ökologischer Krise nicht ausreichend verstehen. Häufig wird von zwei voneinander unabhängigen Feldern ausgegangen: auf der einen Seite die „materiellen Interessen von Beschäftigten“, auf der anderen Seite „die Natur“. Doch in Wirklichkeit sind Klassenfrage und ökologische Krise gerade im globalisierten Kapitalismus untrennbar miteinander verschränkt. Die kapitalistische Wirtschaftsweise beruht auf dem Raubbau an Mensch und Natur. Sprich: Konkurrenz, Wachstum und Profitstreben zerstören das ökologische Gleichgewicht und bedrohen die „materiellen Interessen“ der Beschäftigten.

100 Unternehmen sind weltweit für 70 Prozent des Co2-Ausstosses verantwortlich, die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung verursachen mehr als die Hälfte der Emissionen. Umgekehrthaben Extremwetterereignisse (Stürme, Trockenheit, Hitzeperioden und Überschwemmungen) vor allem für die ärmeren und vulnerablen Bevölkerungsgruppen fatale Konsequenzen. Sie sind es, die sich nicht mehr ernähren können, wenn die Lebensmittelpreise aufgrund schlechter Ernten steigen.

  Die materiellen Folgen von Klimawandel und Artensterben werden auch in reichen Industriestaaten wie Deutschland zu spüren sein. Deshalb verteidigen wir nicht abstrakt „die Natur“, sondern vor allem die Lebensperspektiven der einfachen Menschen, wenn wir, wie der Soziologe Klaus Dörre einfordert, für „eine Nachhaltigkeitsrevolution“ eintreten,. Statt die ökologische Transformation zu bremsen, muss die LINKE diese mutig vorantreiben und sozial gestalten, sprich dafür sorgen, dass Konzerne und Reiche (und eben nicht die einzelne Konsument*in) die Transformationskosten tragen.

Angesichts der drohenden Klimakatastrophe hat der Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft u.a. mit dem Übergang zur Elektromobilität und dem Ende der Nutzung von Kohle längst begonnen. Diese Transformation bleibt aber in der kapitalistischen Logik von Standortwettbewerb, Maximierung von Warenabsatz und Profit. Wenn es dabei zum Abbau von Arbeitsplätzen, Standortverlagerungen, Verschlechterungen von Arbeitsbedingungen kommt, so liegt dies nicht am Übergang zu einer ökologischeren Produktion, sondern am fortbestehenden kapitalistischen Verwertungsinteresse! Es ist, wie die Belegschaft des von der Schließung bedrohten Werks von Bosch in München Berg am Laim formuliert hat: „Wir wehren uns gegen diesen Versuch, unser Werk unter dem Deckmantel des Klimaschutzes zu schließen, und fordern den Erhalt unseres Standortes und die Umstellung auf eine klimafreundliche Produktion. Der Versuch, unser Werk nach Nürnberg, Tschechien oder Brasilien zu verlagern, hat nur einen Grund: Man verspricht sich davon größere Profite. Dieser Wunsch und nicht der Klimaschutz steht hinter der Schließung.“ Und: „Es gibt dutzende Industriegüter, die wir angesichts der steigenden Temperaturen dringend brauchen: Wärmepumpen, Busse und Bahnen für den öffentlichen Verkehr, Geräte zur Anpassung an den Klimawandel. Was wir nicht brauchen ist eine Produktion für den Profit.“

4/ Für einen Umbau der Produktions- und Lebensweise. Schon Ende der 1960er Jahre warfen Linke der Sozialdemokratie vor, den Sozialismus auf ein plattes Verteilungsprojekt reduziert zu haben. Dieser Einwand ist heute richtiger denn je.

Der Kapitalismus steuert unserer Überzeugung nach auf eine ökologische und soziale Großkrise zu, in der sich Klimawandel, die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten, die Ressourcenverknappung und Kriege auf unheilvolle Weise gegenseitig befeuern. Vor diesem Hintergrund reicht es nicht mehr, für eine gerechtere Verteilung des Nationaleinkommens einzutreten, während man gleichzeitig dazu beiträgt, „die Wirtschaft am Laufen zu halten“. Die LINKE hat nur eine Zukunft, wenn sie das Bestehende infrage stellt und den sozialen und ökologischen Systemwechsel als ihr Projekt begreift.

Wenn der ökologische, sprich materielle Kollaps ganzer Gesellschaften verhindert werden soll, muss die kapitalistische Produktions- und Lebensweise radikal umgebaut werden. Dafür benötigen wir eine transformatorische Industriepolitik. Das bedeutet: Die unterschiedlichen und sich teilweise noch widersprechenden Anliegen aus Gewerkschaften und Umweltbewegungen müssen aktiv zu einem Projekt des „Guten Lebens für Alle“ zusammengeführt werden. Dieses müsste sich unserer Meinung nach auf fünf Säulen stützen: 1) Eine drastische Reduktion des Stoffwechsels unserer Gesellschaft mit der Natur („Nachhaltigkeitsrevolution“), 2) eine deutliche Verkürzung der Arbeitszeit, 3) eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, 4) die Durchsetzung anderer Formen des Konsums und des Zusammenlebens (mehr öffentliche Infrastrukturen, weniger Ressourcen fressender Individualkonsum), 5) die Demokratisierung der Wirtschaft.

Die LINKE muss hier mehr wagen: Die kapitalistische Krise setzt die Planung als wirtschaftspolitisches Instrument neu auf die Tagesordnung. Beim Umbau der Stromproduktion und der Versorgung Deutschlands mit Gas und Öl erleben wir, dass auch unsere politischen Kontrahenten in schwierigen Momenten keineswegs auf „Marktkräfte“, sondern auf Planung und politische Intervention setzen. Bei der anstehenden (und alternativlosen) Transformation von Industrie und Infrastrukturen werden wir dies noch häufiger erleben. Unsere Aufgabe als LINKE muss es sein, eine Planung ins Gespräch zu bringen, die sich nicht an Profitinteressen, sondern an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientiert. Ein Ansatzpunkt hierfür könnten Transformationsräte aus Gewerkschaften, Konsument*innen, Umweltverbänden, Betrieben und Politik sein, die den ökonomischen Prozess demokratisieren.

5/ Gemeinwohl statt Profite. Gemeineigentum stärken. In der deutschen Bevölkerung dürfte es eine deutliche Zustimmung für die Aussage geben, dass eine konsequente Klimapolitik sinnvoll und mehr soziale Gleichzeit wünschenswert wären. Dass dennoch nicht entsprechend gehandelt wird, liegt an den Eigentumsinteressen, sprich an den Gewinnvorstellungen der Konzerne und Kapitalfonds. Die LINKE ist die einzige Partei, die diesen Zusammenhang erkennt: Wer eine ökologische Politik machen will, muss sich mit den bestehenden Eigentumsverhältnissen anlegen.

Wir müssen uns deshalb als politische Kraft profilieren, die dem „demokratischen Gemeineigentum“ zentrale Bedeutung beimisst. Der Vorsitzende der Schweizer Sozialdemokratie Cédric Wermuth und der langjährige Gewerkschaftssekretär Beat Ringger haben diesen Ansatz in einem lesenswerten Buch als „Service-Public-Revolution“ bezeichnet, also als einen politischen Prozess, bei dem das (relativ) gemeinwohlorientierte und (relativ) demokratische Prinzip öffentlicher Dienstleistungen (bei Bildung, Kultur, Gesundheitswesen, Medien etc.) vertieft und auf andere Bereiche, also auch auf Industriebetriebe, ausgeweitet wird. Wir als LINKE haben unter dem Schlagwort „Infrastruktursozialismus“ etwas Ähnliches propagiert. Damit ist nicht gemeint, dass die kommunale Trägerschaft eines Krankenhauses schon die Lösung aller Probleme wäre – wir alle wissen, dass auch öffentliche Einrichtungen vom Neoliberalismus durchdrungen worden sind. Es geht vielmehr um einen Dreiklang, der überall Grundlage unserer Politik sein sollte: Gemeinwohl stärken // Gemeineigentum ausbauen // Öffentliche Einrichtungen und Institutionen demokratisieren.

6/ „Revolutionäre Realpolitik“: Unsere Partei hat sich in der Vergangenheit häufig an zwei gleichermaßen unproduktiven Positionen abgearbeitet. Auf der einen Seite haben sich manche von uns an eine kämpferische, aber für konkrete gesellschaftliche Auseinandersetzungen oft folgenlose Revolutionsrhetorik geklammert, bei der man den radikalen Bruch propagiert, aber kaum Wege aufzeigt, wie die gewünschten Veränderungen auch durchgesetzt werden können. Auf der anderen Seite kam und kommt es immer wieder vor, dass Parteigliederungen und Funktionsträger*innen in Gemeinden und Landesregierungen ihren transformatorischen Anspruch im Alltagsgeschäft aus den Augen verloren, die bestehenden Zustände nur verwaltet und bisweilen sogar neoliberale Politik mitgetragen haben.

Es ist an der Zeit, dass wir an diesem Punkt dazulernen und einen Schritt weitergehen. Wir brauchen auf der einen Seite eine bewegungsorientierte Politik, die gesellschaftlichen Protest mobilisiert, sich dabei aber auch immer die Frage stellt, wie dieser Protest in Erfolge umgemünzt werden kann. Die Kampagne Deutsche Wohnen & Co Enteignen, aber auch die Streikbewegung an den Krankenhäusern sind Beispiele dafür, wie das gehen kann. Auf der anderen Seite benötigen wir eine institutionelle Politik, die ihren Erfolg nicht daran misst, ob die LINKE Minister*innen stellt, sondern ob wir soziale und demokratische Reformen durchsetzen, die es ohne uns nicht gegeben hätte. Dass die Berliner LINKE, obwohl in der Regierung, den Volksentscheid für die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen gegen den Widerstand der Koalitionsparteien SPD und Grüne aktiv unterstützt hat, zeigt, dass man auch in Regierungen als Partei eigenständig und über das jeweilige Regierungshandeln hinausweisend handeln kann. In diesem Sinne wird die Regierungsbeteiligung der LINKEN in Berlin daran gemessen werden, ob es der Partei gelingt, dem Votum der Stadtgesellschaft auch in der Landesregierung Geltung zu verschaffen.  Als Gesamtpartei müssen wir begreifen, dass weder die Regierungsbeteiligung schon für politische Macht sorgt, noch die Oppositionsrolle eine Garantie dafür ist, dass die Partei eine positive Rolle in gesellschaftlichen Kämpfen spielt. Statt weiter abstrakt über Regierung vs. Opposition zu streiten, sollten wir entlang von zentralen Kriterien debattieren: Welche Haltung der LINKEN trägt am ehesten zur gesellschaftlichen Mobilisierung bei? Auf welche Weise entfalten wir am ehesten den institutionellen Druck, um Veränderungen durchzusetzen?

7 / Schluss mit der Milieu-Debatte. Kaum etwas hat uns in vergangenen Jahren so geschadet, wie die Milieudiskussion, die uns –meistens von bürgerlichen Feuilletons und Talkshows – aufgezwungen wurde. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung stand die Kritik des „progressiven Neoliberalismus“, die sich ursprünglich gegen das Establishment der Demokratischen Partei in den USA richtete, in Deutschland am ehesten auf die Grünen und Teile des akademischen Betriebs zutraf, mit der Praxis der LINKEN aber eigentlich wenig zu tun hatte. Die zentrale These in diesem Zusammenhang lautete, die Linke habe sich zu viel mit Minderheitenthemen und Kulturkämpfen beschäftigt und deshalb den Kontakt zu ihrer alten Anhängerschaft verloren.

Diese Debatte geht unserer Meinung nach am eigentlichen Problem vorbei. Dass die LINKE unterschiedliche Milieus zusammenführen soll, war 2007 Gründungsgedanke der Partei. Anders kann es auch gar nicht sein – nur wenn die LINKE gewerkschaftliche, feministische, ökologische, antimilitaristische und antirassistische Positionen aktiv verbindet, also wenn sie Hartz-4-Empfängerinnen, Paketboten, kritische Akademiker, Industriearbeiter, Krankenhausbeschäftigte, solidarisch gesonnene Menschen und diskriminierte Gruppen gleichermaßen anspricht, wird sie Bestand haben. Anstatt Milieus gegeneinander auszuspielen, ist es unsere Aufgabe als LINKE Gemeinsamkeiten zwischen sozialen Wirklichkeiten und Identitäten aufzuzeigen.

Was jenseits der Milieudebatte allerdings zutrifft (übrigens auch in vielen anderen Ländern Europas und Lateinamerikas) ist die Beobachtung, dass die Linke gerade Menschen in den prekärsten Lebenslagen immer schlechter erreicht. Das hat u.a. damit zu tun, dass der Neoliberalismus mit der Prekarisierung der Beschäftigung und seiner gnadenlosen Wettbewerbsideologie den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zerstört hat. Gerade in den ärmsten Teilen der Bevölkerung ist eine rasante Entpolitisierung zu beobachten, gibt es kaum noch Hoffnung, die Lebensverhältnisse politisch verändern zu können.

Diesem Problem muss sich die LINKE stellen! Doch das geschieht eben nicht durch eine ausgrenzende Milieudebatte, sondern durch eine positiv bestimmte politische Arbeit: Wenn die LINKE wieder in Betrieben und ärmeren Stadtteilen Fuß fassen will, muss sie Arbeitskämpfe wie aktuell die Krankenhausstreiks unterstützen, Mieter*innen wie bei den Volksbegehren zur Kommunalisierung von Wohnraum organisieren oder Sozialberatung für Betroffene anbieten, wie dies in vielen Abgeordnetenbüros der LINKEN ja auch schon lange geschieht.

Gefragt sind hier keine Talkshow-Bekenntnisse, sondern echte Empathie, gesellschaftliche Verankerung und Basisarbeit!

8/ Keine individuelle Profilierung auf Kosten der Partei. Ebenfalls schwer geschadet hat uns das Verhalten prominenter Mandatsträger*innen, sich gegen und auf Kosten der Parteilinie zu profilieren. Hier benötigen wir eine innerparteiliche Kultur und auch Mechanismen, um solche Praktiken zu stoppen. Wie diese Mechanismen konkret aussehen können, ist für uns eine offene Frage. Fest steht für uns jedoch: Es muss sich etwas ändern.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich haben auch Abgeordnete das Recht, mit demokratisch getroffenen Mehrheitsentscheidungen unzufrieden zu sein. Doch hier sollte der Grundsatz gelten, dass politische Kontroversen und Debatten in den dafür vorgesehenen Gremien und Diskussionsformaten ausgetragen werden.

Mandatsträger*innen jedoch haben die Aufgabe, die nach Debatten gefassten Entscheidungen und Positionen in ihren öffentlichen Funktionen auch zu vertreten. Immerhin haben sie ihre Mandate vor allem der Tatsache zu verdanken, dass sie von der Partei nominiert wurden und im Wahlkampf durch die Aktivität vieler unserer Mitglieder unterstützt wurden. Sie sind Vertreter*innen der Partei – nicht freischwebende Individuen – in Parlamenten oder anderen Körperschaften. Wer Mandatsträger*in der LINKEN ist, muss sich bemühen, den Parteikonsens sichtbar zu machen. So viel kollektiven Verantwortungssinn sollten wir auch in einer offenen, pluralistischen Partei voneinander erwarten können.