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Bericht Von der Mitgliederversammlung im Dezember 2021

Mit über 160 Mitgliedern haben wir bei unserer Online-Mitgliederversammlung am 11./12. Dezember die ersten zwei Jahre unserer BAG-Geschichte gemeinsam ausgewertet und über die schwierige Situation der LINKEN diskutiert. Wir haben einige Beschlüsse gefasst, zu aktuellen Themen wie der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze, und zu unserer Arbeit im nächsten Jahr. Wir haben einen neuen Koordinierungskreis und erstmals auch Bundesparteitagsdelegierte gewählt. Und wir haben, nach Festlegung auf einen Arbeitsschwerpunkt Verkehrswende, vertiefende Vorträge z.B. von Winfried Wolf und Sabine Leidig gehört und in Arbeitsgruppen erste Schritte verabredet.

Wir bedanken uns bei allen, die sich eingebracht haben. Besonderer Dank gilt den Mitgliedern, die in den letzten zwei Jahren zum Aufbau der Bewegungslinken beigetragen haben und nun nicht mehr Mitglieder des Ko-Kreises sind: Alexander Jüschke, Felix Pithan, Irene Köppe, Hannes Draeger, Nora Schmid und Mizgin Ciftci. Es war eine besondere und schöne Zeit. Nun widmen wir uns der Zukunft, die Herausforderungen sind riesig!

Hier findet ihr die beschlossenen Anträge:

Gern könnt ihr auch den Rechenschaftsbericht des Ko-Kreis für 2020/21 nochmal nachlesen.

In den neuen Ko-Kreis wurden Aram Ali (Niedersachsen), Violetta Bock (Hessen), Katharina Dahme (Niedersachsen), Inva Halili (Berlin), Dennis Klora (Baden-Württemberg), Rhonda Koch (Berlin), Jule Nagel (Sachsen), Raik Ohlmeyer (Sachsen-Anhalt), Maria Rüthrich (Thüringen), Jan Siebert (Nordrhein-Westfalen), Ben Stotz (Berlin) und Daniel Weidmann (Berlin) gewählt. Bundesparteitagsdelegierte sind Katharina Dahme (Ersatz: Sabine Leidig) und Christian Arnd (Ersatz: Martin Günther).

Gedanken zur LINKEN nach der Bundestagswahl 2021

von Katharina Dahme, Mitglied im Ko-Kreis der BAG Bewegungslinke

Die Wahlniederlage hat viele Ursachen. Es ist oft gesagt worden: Externe Gründe gehören auch dazu, die meisten sind jedoch hausgemacht. In dem Haus DIE LINKE wohnen viele und das Fundament ist stabiler als manche nach den 4,9 Prozent befürchten. Rissig ist es trotzdem, weil die Gemeinsamkeiten, die nun wieder viele einfordern, in Frage gestellt wurden und auch weiterhin nicht von allen akzeptiert werden. Und weil zu wenige – um im Haus-Bild zu bleiben – das eigene Zimmer aufräumen und Gewissheiten in Frage stellen wollen, weil es keine Fehlerkultur in unseren Reihen gibt. Ein paar halbwegs geordnete Gedanken:

1. Trotz Einbruch der LINKEN ist das Ergebnis der Bundestagswahl kein Rechtsruck, sondern eine Linksverschiebung, zumindest dem Wähler:innenwillen nach, unabhängig davon, was nachher auf dem Koalitionspapier steht. Die FDP profitiert von der Krise der CDU ebenso wie von ihren Social-Media-Skills und der Hoffnung einer Pandemie-gebeutelten jungen Generation auf ein Leben ohne Einschränkungen, bei dem der Klimawandel technologisch gelöst werden kann (Stichwort: Freiheit statt Verbote). Die SPD war vor wenigen Monaten angesichts des miserablen Rückhalts unter jungen Leuten schon fast tot und profitierte am meisten von taktischen Wähler:innen, aber eben auch von einer nach außen einigen Partei, die mit einer – im besten Sinne sozialdemokratischen – Kampagne und gesetztem Kanzlerkandidaten ihr Potenzial ausschöpfen konnte. Die Grünen sind zwar angesichts der zwischenzeitlichen Kanzlerin-Träume enttäuscht, haben aber von der Klimawahl-Stimmung massiv profitiert und ein gutes Ergebnis eingefahren.

2. Ob SPD und Grüne wegen der Ampel wirklich viele Wähler:innen enttäuschen, bleibt abzuwarten. Und auch hinter der ewig vorgetragenen Gewissheit (auch von mir selbst), dass die SPD eh nicht umsetzt, was sie plakatiert hat, ist ein Fragezeichen zu setzen: Ein Viertel der neuen Abgeordneten der SPD sind Jusos, die Olaf Scholz zusammen mit der Parteiführung gehörig unter Druck setzen können. Das, plus die Dynamik, dass Erfolg anzieht und sich die Gewinne bei den Wahlen auch mit Blick auf kommende Umfragen verfestigen dürften, sind klare Signale an uns, dass es nicht reichen wird, die bessere SPD zu sein. Das Entscheidenste aber ist: Die Chance, von einer Ampel-Koalition enttäuschte Wähler:innen (zurück) zu gewinnen, haben wir eh nur, wenn wir selbst wieder eine attraktive Alternative werden.

3. Unser Wahlkampf war nahezu komplett auf soziale Themen ausgerichtet. Wer öffentlich das Gegenteil behauptet, hat irgendeine Rechnung zu begleichen, die auf Kosten der Partei gehen muss. Die Themen und Forderungen waren solide, haben den Konsens nach vorne gestellt. Rückblickend kann man aber feststellen, dass unsere Kampagne nicht geeignet war, sich von der inhaltlich wie gestalterisch guten Kampagne der SPD abzusetzen. Ein expliziteres Plakat zur Klimagerechtigkeit oder das klarere Aufzeigen von Alternativen, die an die Eigentumsverhältnisse rangehen, wären schön gewesen – ob es aber auch zu besseren Ergebnissen geführt hätte, weiß ich nicht. Auch warum mehr Radikalität bei den Forderungen schwankende Wähler:innen überzeugt hätte, uns statt Grüne oder SPD zu wählen, leuchtet nicht direkt ein. (Was nicht heißt, dass es nicht trotzdem zum Teil richtig sein kann, wir sollten nur nicht so tun, als wäre das die Lösung unserer Probleme.)

4. Viele Menschen verbinden uns mit dem Thema der sozialen Gerechtigkeit und finden uns sogar glaubwürdiger als die SPD. Auch ist vielen jungen FFF-Anhänger:innen bekannt, dass DIE LINKE das ambitioniertere Klimaprogramm hat als die Grünen. Uns wird aber die Durchsetzung nicht zugetraut. Zum Teil gibt es berechtigtes Misstrauen, dass wir mitregieren würden, wenn es rechnerisch möglich ist. Von verschenkten Stimmen war in unserem Wahlkampf manchmal die Rede. Stattdessen wolle man die Grünen in einer egal wie gearteten Koalition möglichst stark machen oder mit der Wahl der SPD den Laschet verhindern. Die von Teilen unserer Partei geführte Kommunikation #CDUrausausderRegierung half an der Stelle nicht, von der Wahl der LINKEN zu überzeugen. Nun finde ich es falsch, sich aus der Regierungsdebatte rauszuhalten, zumal die nicht von Parteiführungen angestoßen, sondern uns immer aufgedrückt wird, wenn es rechnerisch möglich ist. Deswegen: Ja, wir wollen den Politikwechsel, und zwar mit konkreten Forderungen und den Wendepunkten, wie im Wahlprogramm beschlossen, die Aussicht geben auf grundlegende Veränderungen. Das haben wir zu wenig rübergebracht. Stattdessen gaben wir das Bild eines Auswechselspieler am Rande des Spielfeldes ab, der wild mit der Hand wedelt um ins Spiel gebracht zu werden. Und um im Bild zu bleiben: Die Partei muss sich für eine eventuelle Regierungsbeteiligung kollektiv warmmachen, statt kalt erwischt zu werden, sonst droht ein verletzungsbedingter langer Ausfall. Und im Training gibt man alles, um zu überzeugen, und stellt nicht schon vorher in Aussicht, nur 50 Prozent abzurufen, weil sonst vielleicht der Mitspieler beleidigt ist und nicht mehr mitspielen will. (Genug der Fußballvergleiche, ich kann sowas eigentlich nicht leiden.) Im Wahlkampf muss die Partei die eigenen Stärken betonen und folgerichtig nicht nur CDU und FDP angreifen, sondern auch Unterschiede zu SPD und Grünen deutlich machen.

5. Ich hielte es trotzdem für falsch zu behaupten, dieses Vorgehen hätte uns am meisten geschadet oder Stimmen gekostet. Die Erfahrungen aus unseren Gesprächen am Infostand oder an Haustüren waren, dass uns mindestens ebenso viele (wenn nicht gar mehr) Menschen nicht glaubten, dass wir überhaupt bereit wären, Kompromisse einzugehen. Manche meinten, es wäre gut, nicht schon im Wahlkampf einzuknicken. Das stimmt zweifelsohne. Insbesondere bei jungen Menschen ist die Verzweiflung angesichts des Klimawandels jedoch groß und das Verständnis dem gegenüber gering, an der Haltung zu ihnen eher lebensfremden NATO-Fragen festzuhalten. Nicht selten werden unsere außenpolitischen Vorstellungen (und Abgeordnete, die sie damit in Verbindung bringen) als Grund genannt, uns nicht zu wählen. Nun darf es nicht darum gehen, allen Menschen nach dem Mund zu reden und die eigenen Vorstellungen über Bord zu werfen, wohl aber zu überlegen, welcher Teil der Kritik richtig sein könnte oder wo wir in der Vermittlung unserer Forderungen noch Luft nach oben haben.

6. DIE LINKE konnte weder in Bezug auf die sozialen Bewegungen der letzten Jahre profitieren, noch in Bezug auf die Corona-Pandemie und -Maßnahmen durchdringen. Das ist keine Naturgewalt, sondern Folge einer nicht einheitlichen Linie und Kommunikation. Es ist auch die Folge davon, dass manch Abgeordnete zwar laut und wahrnehmbar verbreiten, DIE LINKE erreiche Arbeiter:innen nicht mehr, selbst aber sehr leise und unsichtbar werden, wenn es konkret darum geht, Streikposten und Kundgebungen von Beschäftigten zu besuchen. Nicht wenige bekommen es nicht mal hin, in diesen Zeiträumen die Arbeit von Gewerkschafter:innen durch eigene Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen. Das muss Teil des politischen 1×1 einer/eines jeden Abgeordneten sein bzw. werden.

7. Die Krise der Partei löst man nicht, indem man auf die Herausforderungen unserer Zeit mit dem Personal von 2009 antwortet. Im Gegenteil: Es braucht nun integratives Personal, das für einen Neuanfang steht und das bereit ist, die Gemeinsamkeiten, die es in dieser Partei gibt, zu vertreten. Einzelne können in bestimmten Fragen anderer Meinung sein und auf Parteitagen um andere Mehrheiten ringen. Die öffentlichen Angriffe auf die Partei müssen aber enden – und von Fraktions- und Parteivorständen darf zurecht erwartet werden, dass sie entsprechend auf handelndes Personal einwirken. Genosse Sören Benn, mit dem ich sicher nicht in allem einer Meinung bin, hat es in seiner Wahlauswertung gut zusammengefasst, als er schrieb: „Wenn es einen Weg gibt, widerstreitende Positionen künftig so zu verhandeln, dass im Ergebnis nicht öffentlich aufeinander eingeschlagen wird, sollte dieser Weg endlich gegangen werden. Wenn es diesen Weg mit Sahra Wagenknecht und einigen anderen nicht gibt, bleibt zur Wiederherstellung eines konsistenten und wiedererkennbaren Politikentwurfes der Partei nur Unterwerfung oder Ablösung.“

8. Die Krise der Partei löst man auch nicht, indem man auf die Herausforderungen unserer Zeit mit einer Rückkehr zum Programm von 2009 reagiert. Insbesondere neben einer wieder erstarkten SPD wird es nicht ausreichen, sich auf das Thema soziale Gerechtigkeit zu reduzieren (man könnte meinen, unsere Wahlkampagne ist Beleg genug dafür gewesen). Das ist auch nicht originell, sondern rückwärtsgewandt und DIE LINKE würde bei Verfolgen einer solchen Strategie weiter geschwächt. Die vielen Mitglieder der Partei, insbesondere die neuen und jüngeren, die immer öfter für die aktive Basis vor Ort stehen, ist da viel weiter, wenn sie DIE LINKE als Partei für soziale UND Klimagerechtigkeit definiert. Ganz aktuell hat Klaus Dörre eindrücklich für eine solche Ausrichtung geworben: „Weltweit fällt die Klimaungerechtigkeit noch weit drastischer aus. Um es ganz deutlich zu sagen: Nur die zumeist erzwungene Tatsache, dass die unteren Klassen ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen enger schnallen müssen, ermöglicht den Oberklassen ihre verschwenderischen Lebensstile. Deshalb ist der Kampf gegen Klimawandel und ökologische Zerstörung stets auch einer zugunsten der Armen und Benachteiligten. Dies allerdings nicht in einem Sinne, der soziale Gerechtigkeit zu einer Vorbedingung von Nachhaltigkeit machen würde, ohne die zerstörerische Wirkung ökologischer Destruktivkräfte wirklich ernst zu nehmen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Klimawandel und Ressourcenverschwendung müssen bekämpft werden, um die Lage der Ärmsten nicht noch unerträglicher zu machen.“

9. Weniger festgelegt, eher suchend – und doch relativ sicher bin ich, dass die Krise der LINKEN im Osten nicht gelöst wird, indem man wieder stärker das Profil der Partei des Ostens pflegt. Der selbstbewusste Ansatz von Aufbruch Ost, der die Zuschreiben der Ossis als Wendeopfer abzulösen versucht hat, ist mir sympathisch und in Verbindung mit häufiger werdenden betrieblichen Auseinandersetzungen sicherlich ein Fortschritt, auch weil er aus Objekten handelnde Akteure macht und das Gefühl vermittelt, dass es sich zu kämpfen lohnt. Unsere Kommunikation entspricht dem aber nicht oder mit unklarem Ausgang: „Nehmt den Wessis das Kommando!“ ist eine schöne Spitze im Kabarett-Programm, aber keine Ansage einer sozialistischen Partei, wie sie sich Eingriffe in Eigentumsverhältnisse eigentlich vorstellt. Vielleicht bin ich da auch zu engstirnig oder nicht locker genug, aber ich konstatiere als junge Frau mit Ost-Hintergrund und großer soziokultureller Identifikation, dass mich die Versuche meiner Partei in den Ost-Ländern bisher nie abgeholt und eher abgeschreckt haben. Mein Gefühl sagt mir (das ist zugegeben keine Wissenschaft), dass es für verlorene Wähler:innen nicht wahlentscheidend ist, deswegen zurückzukehren und dass jüngere das sogar mehrheitlich altbacken empfinden. Vielleicht liege ich aber falsch, das bringt mich zum nächsten Punkt:

10. Wir brauchen eine andere Diskussionskultur in der Partei, insbesondere eine Fehlerkultur, die uns – das wird nach diesem schlechten Wahlergebnis besonders deutlich – komplett abhanden gekommen zu sein scheint. Es wäre jetzt wichtig, über Kritik und Fehler zu reden, weil wir nur besser werden, wenn wir aus dem Wahlkampf etwas lernen. Stattdessen: Still ruht der See seit dem 26.09., und das nicht, weil die Kritik nicht existent wäre, sondern weil jede und jeder befürchten muss, dass aus Eingeständnissen von Fehlern politisches Kapital im innerparteilichen Machtkampf geschlagen wird. Oder anders formuliert: Da gibts eine ganze Reihe von Leuten, die jetzt den Bundesgeschäftsführer oder Parteivorsitzende abschießen wollen, aber bevor dann die Luft auch für die Fraktionsspitze dünner wird, verhält man sich lieber (erstmal!) ruhig, um die eigenen Posten nicht zu gefährden. Es droht also munter so weiterzugehen in der Fraktion, wie es aufgehört hat: mit dem Hufeisen. Auf der Strecke bleibt dabei die Partei.

11. Wir brauchen eine systematische Bearbeitung der strukturellen Schwächen der LINKEN – im Osten, wo wir von Wahl zu Wahl weiter einbrechen, und im Westen, wo wir in den letzten Jahren nur punktuell zulegten, zum Teil stagnierten, und jetzt erstmalig auch stark verloren haben. Parteiaufbau kann nicht nur das Werk unermüdlicher Aktiver vor Ort und von unten sein, sondern muss Chef:innensache in den Landesverbänden sein. Jede:r Abgeordnete muss sich auch daran messen lassen, wie sich Aktivitäten und Mitgliederzahlen im eigenen Kreisverband entwickeln, ob die Partei sichtbar und erlebbar ist, ob sie Anlaufpunkt für Bürger:innen und Bündnispartner ist, Hilfe zur Selbsthilfe gibt, usw.

12. Ich nehme in der Partei ein verzerrtes Bild wahr, was Bewegungsorientierung bedeutet (nicht nur bei denen, die dagegen wettern, mitunter auch bei Bewegungsorientierten selbst): Bewegungsorientierung heißt weder, dass die Partei Bewegung sein soll, noch setzt sie bedingungslose Folgschaft voraus. Bewegungsorientierung bedeutet, die Kämpfe unserer Zeit als Ausdruck von Auseinandersetzungen um Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft ernst zu nehmen. Eine bewegungsorientierte Partei zu sein, ist Grundvoraussetzung, selbst Akteur im Ringen um Kräfteverhältnisse zu sein, es ist aber nicht alles. Selbstverständlich braucht es auch die Ansprache derjenigen, die sich nicht in Bewegungen organisieren oder repräsentiert sehen. Nur darf es nicht beim Appell bleiben. Abstrakte Debatten darüber, wen wir alles nicht mehr erreichen, schaden uns, wenn darauf keine konkreten Ideen folgen und die Erfahrungen, die beispielsweise bei Haustürgesprächen gemacht werden, nicht ausgewertet und ernst genommen werden. Insbesondere mit Blick auf die Verankerung in Betrieben und Gewerkschaften sind konkrete Ansätze gefragt.

Wer will, dass die Partei bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt

„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“ – Gefängnishefte, H. 3, §34, 354f.

DIE LINKE befindet sich in einer Krise, und das katastrophale Wahlergebnis der Bundestagswahlen ist auch Ausdruck dieser Krise unserer politischen Kraft. Wenn wir die Krise mit Gramsci als ein Zwischenstadium zwischen dem alten, das stirbt, und dem neuen, das noch nicht zur Welt kommen kann, begreifen, führt uns dieses Eingeständnis nicht zuerst zu kleinteiliger Plakat- und Manöverkritik, sondern stellt uns vor grundlegende Fragen: Was war die alte Partei, von der wir uns verabschieden müssen? Wie sieht die Partei der Zukunft aus, was blockiert ihre Entstehung und wie können wir ihr helfen, “zur Welt zu kommen”, bevor wir an den Krankheitserscheinungen des Übergangs eingehen?

Diesen grundlegenden Fragen wollen wir uns hier zuwenden. Das Wahlergebnis und die politische Lage werfen noch weitere Fragen auf, die wir in den nächsten Wochen offen, kritisch und selbstkritisch diskutieren wollen. Einige davon benennen wir am Ende dieses Textes.

(1) Das Gründungshoch der LINKEN: Ostdeutsche Volkspartei und Sammlungsbewegung der SPD-Enttäuschten

In der innerparteilichen Wahrnehmung werden unsere gesellschaftliche Verankerung und Wahlergebnisse oft an einem idealisierten Bild der Gründungsphase der Partei gemessen, das sich am ehesten im Bundestagswahlergebnis von 2009 widerspiegelt. DIE LINKE erreichte 11,9 % der Stimmen, war in Brandenburg und Sachsen-Anhalt stärkste Kraft und gewann in allen West-Bundesländern komfortabel über 5% der Stimmen. Diese Stärke ergab sich aus einer Kombination der seit den 90er Jahren aufgebauten Verankerung im Osten mit einer Sammlung von SPD-Enttäuschten im Westen. Allein zwischen den Bundestagswahlen 2005 und 2009 gewann DIE LINKE gut eine Million Stimmen von der SPD. Doch in den Details des fulminanten Erfolgs zeichnen sich zumindest im Rückblick schon die Anfänge des Niedergangs ab: Mit Abstand die besten Ergebnisse (und die größten Zugewinne) erreichten wir in der Altersgruppe der 45-60-Jährigen, also einer Generation, die inzwischen in Teilen im Ruhestand und weniger in betriebliche oder gewerkschaftliche Netzwerke eingebunden ist. Während viel darüber gesprochen und geschrieben wurde, was DIE LINKE in den Jahren nach ihrem großen Anfangserfolg tat (sich öffentlich streiten), kommt selten die Sprache auf das, was versäumt wurde: die Grundlagen dieses Erfolgs zu erneuern, um sie erhalten zu können.

Die von einer breiten Verankerung in der Gesellschaft getragene Volkspartei im Osten ist absehbarerweise ein Teil unserer Parteigeschichte geworden, weil den Genoss:innen, die diese Arbeit über viele Jahre getragen haben, viel zu wenige aus jüngeren Generationen nachfolgten. Im Westen haben wir vielerorts erst gar keine ausreichenden Parteistrukturen und gesellschaftliche Verankerung aufgebaut, um Menschen zumindest als Wähler:innen dauerhaft zu halten oder neue Wähler:innen zu gewinnen. Als die Enttäuschung über die Agenda-Politik mit den Jahren in den Hintergrund rückte, die SPD ihre Bindung zum Gewerkschaftsapparat weitgehend wieder herstellen konnte und die AfD und die gesellschaftliche Rechte erfolgreich eine politische Agenda setzten, in deren Rahmen sich ein Teil der Enttäuschten nicht mehr automatisch bei uns wiederfand, schlugen diese Versäumnisse durch.

Ausgangspunkt einer ehrlichen Analyse der aktuellen Krise ist also, dass DIE LINKE von 2009 nicht mehr ist und auch nicht zurückkommen würde, wenn wir noch einmal mit dem Programm, den Plakaten oder dem Personal von 2009 in den Wahlkampf zögen.

Was aber ist die neue Partei, die noch nicht zur Welt kommen kann, und warum hängen wir in diesem Zwischenstadium fest?

(2) Die neue LINKE: Klassenkämpfe in den 2020er Jahren verbinden und gewinnen

Die neue Partei lebt durch die Mitglieder, die in den letzten Jahren wieder in größerem Umfang eingetreten sind. Sie sind oft jung und ein Abbild der aktivsten Bewegungen und Kämpfe unserer Zeit: Beschäftigte in der Pflege, Klimaaktivist:innen und Aktive aus antirassistischen Bewegungen. Sie bringen Erfahrungen und Enthusiasmus aus der Bewegungspolitik mit, die wir brauchen, um DIE LINKE als verbindende Partei wieder aufzubauen, als Partei, die die Anliegen der Arbeiter:innenklasse so aufgreift und zuspitzt, dass ein großer Teil der Klasse sich darin wieder erkennt. Eine Partei, die viele selbst aktiv werden lässt und so die politischen Kräfteverhältnisse zu Gunsten der Arbeiter:innenklasse verschieben wird.

Die neue Partei drückt sich aus in unseren Kampagnen zur Pflege- und Mietenpolitik , die eingreifen in die Arbeitskämpfe von Krankenpfleger:innen und in die zuletzt im Kampf um Mietendeckel und Enteignung zugespitzte Mieter:innenbewegung. Sie ist dabei keineswegs nur eine Partei von oder für Bewegungsaktivist:innen. Wo wir als diese neue Partei in Erscheinung treten, erleben uns Mieter:innen und Arbeiter:innen als ihre Partei, die oft nichts mit dem Klischee der urbanen Mittelschicht zu tun haben.

Die neue Partei findet sich dort, wo immer mehr Menschen bemerken, dass wir die konsequentesten und gerechtesten Antworten auf die Klimakrise hervorbringen, weil wir es wagen, den fossilen Automobilkapitalismus in seinen Grundlagen in Frage zu stellen. All diese Klassenkämpfe brauchen eine moderne sozialistische Partei, die gewappnet ist, diese Auseinandersetzungen an der Seite aller Beschäftigten, der Klima-Aktivist:innen und der Bewegungen für Bleiberecht zu führen. Das geht nur mit organisierenden Ansätzen und unteilbarer Solidarität.

(3) Damit das neue zur Welt kommen kann

Wir können nicht auf eine günstige politische Konjunktur warten, in der zugleich Gerechtigkeitsfragen in den Kern gesellschaftlicher Debatten rücken und anderen Parteien nicht zugetraut wird, sie zu lösen. Wir müssen den Aufbau einer solchen, neuen Partei jetzt vorantreiben, und wir müssen die Blockaden lösen, die das neue daran hindern, zur Welt zu kommen. Diese Blockaden bestehen ganz profan in der oft unausgesprochenen Überzeugung, so wie wir immer schon Politik, Wahlkampf und Parteileben gestaltet hätten, sei es doch früher auch gegangen und daher auch für die Zukunft richtig. Diese Überzeugung ist so falsch wie gefährlich – die 2020er Jahre sind nicht die 2000er, und nur, wenn wir bereit sind, aus dem Schatz aller Erfahrungen, Erfolge und Niederlagen der gesellschaftlichen Linken zu lernen und die besten Wege und Methoden auszuprobieren, zu erfinden und verbessern, können wir den Machtstrukturen der Herrschenden den entscheidenden Schritt voraus sein.

Wir müssen die Partei erneuern, offener für neue Mitglieder gestalten, ein Parteileben organisieren, dass für viele Menschen in verschiedenen Lebenslagen attraktiv ist und Beteiligung ermöglicht und in dem wir immer wieder die Gelegenheiten suchen, im Betrieb, vor dem Werkstor, in der Fußgängerzone und an der Haustür Menschen anzusprechen, die der Wind der Geschichte nicht von allein auf die Veranstaltungen einer sozialistischen Partei getrieben hat.

Doch die Blockaden bestehen nicht nur in unserem Kopf, sondern auch in unseren Strukturen. Unsere Partei leistet sich noch immer eine Beitragstabelle, die sich an der Finanzierung durch eine ausscheidende Generation festklammert, statt zukunftsfähige Grundlagen für die kommenden Mitgliedergenerationen zu legen. Wir leisten uns eine Bundestagsfraktion, die mit ihren erheblichen Ressourcen wenig dazu beiträgt, die Erneuerung und Verankerung linker Politik in der Breite des Landes, in Gewerkschaften, Bewegungen und Nachbarschaften voranzutreiben. Die zu wenig dafür getan hat, zentrale Kampagnenthemen der Partei mit ihren Möglichkeiten zu begleiten. Viel zu oft folgen wichtige Entscheidungen der Vorstellung, gesellschaftliche Weichenstellungen ließen sich durch markige Worte wichtiger Politiker:innen vom Redepult des Reichstagsgebäudes oder im SPIEGEL-Interview entscheiden, statt durch hunderte, tausende Gespräche mit Menschen, die wir Schritt für Schritt für linke Politik gewinnen.

Wenn wir die Blockaden in unseren Köpfen und Strukturen lösen, und der neuen Partei ermöglichen, zur Welt zu kommen, muss uns weder vor der Zukunft noch vor der nächsten Bundestagswahl bang sein.

Erneuere mit uns die Partei, sie braucht es.

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Sicherlich gibt es über diese grundlegende Einschätzung hinaus viele Fragen, die wir angesichts des Wahlergebnisses diskutieren müssen. Wir freuen uns auf eine klare und solidarische Auseinandersetzung darüber und stellen als erste Fragen in den Raum:

Was lernen wir aus diesem Wahlkampf? Warum haben wir über eine Million unserer Wähler:innen an SPD und Grüne verloren, und hunderttausende, die gar nicht mehr oder Kleinstparteien wählen?

Welche Vorschläge und Strategien gibt es, Verankerung in den Betrieben und der Gewerkschaftsbewegung (wieder) aufzubauen?

Was lernen wir aus unserer Mitgliederentwicklung, warum gibt es welche regionale Differenzen?

Wie viel oder welchen Streit müssen wir uns leisten, um Widersprüchlichkeiten in unserem öffentlichen Auftreten aufzulösen?

Braucht die neue Partei prominente Führungspersonen? Wenn ja, welche Rolle müssen diese ausüben und wie bauen wir sie weiter auf?

Wo setzen wir morgen an, um im Kreisverband die neue Partei entstehen zu lassen? Wie machen wir unsere Aktiven für die anstehenden Herausforderungen fit?

The Time is now: die Gelegenheit ergreifen! Warum eine Regierungsbeteiligung 2021 das Ziel der Linken sein muss

von Anne Trompa

Dies ist ein Diskussionsbeitrag zum Call for ideas: Die Bewegungslinke stellt sich die/der „Regierungsfrage“. Er spiegelt die Position der Autorin/des Autors wider, nicht der Bewegungslinken insgesamt. Wir freuen uns auf eine kontroverse, solidarische und lebendige Debatte. Wenn du Widerspruch, eine andere Perspektive oder Ergänzungen zum Beitrag hast, melde dich gerne zu Wort!

„Lassen Sie uns etwas tun, während wir die Chance haben… An diesem Ort, in diesem Moment, ist die ganze Menschheit wir, ob es uns gefällt oder nicht. Lassen Sie uns das Beste daraus machen, bevor es zu spät ist! (…) Was sagst du? “ (Samuel Beckett: Warten auf Godot)

In seiner Rede vor dem Kongress zur Vorstellung eines rund 2,4 Billionen Dollar schweren Investitionspakets sagte der amerikanische Präsident Joe Biden am 29.05.2021 einen Satz, der nicht weniger als eine ideologische Kehrtwende illustriert: „Trickle-down economics has never worked.“ Die anwesenden Demokraten im Kongress erhoben sich und applaudierten. Nicht ohne Grund: Die von Biden aufgelegten Programme in Höhe von 1,3 und 2,4 Billionen Dollar sind größer als Roosevelts New Deal. Sie haben schon jetzt dazu geführt, dass die real verfügbaren Einkommen der Amerikaner:innen trotz über 10%ger Arbeitslosigkeit gestiegen sind. Aber die Qualität der Programme geht über ihre bloße Höhe hinaus. Die Kehrtwende besteht in der Abkehr von der jahrzehntelang dominierenden, neoliberalen Vorstellung eines deregulierten Marktes, der den Wohlstand der Reichsten irgendwann auch bis nach ganz unten spülen soll. Stattdessen setzt Biden ganz auf die Aufnahme hoher Staatsschulden und staatlich gelenkte Umverteilung in Form von höheren Steuern für große Konzerne und gezielte Investitionen in die Infrastruktur, auch für mehr Arbeitsplätze und eine bessere Daseinsfürsorge, wie z.B. durch die Einführung eines Kindergeldes.

Diese Entwicklung ist keine amerikanische Besonderheit. Trotz der Inflexibilität und Behäbigkeit, die die große Koalition in der Corona-Pandemie gezeigt hat, gibt es auch in Deutschland deutliche Anzeichen einer Zeitenwende: Das vielleicht größte strukturelle Hindernis für den künftigen Erfolg von progressivem Regieren hier, die seit 2009 im Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremse, wackelt. Kanzleramtschef Helge Braun himself schlug in seinem Gastbeitrag für das Handelsblatt am 27.01.2021 vor, die Begrenzung der Schulden auf 0,35 % des BIP aufgrund der Krise gleich für mehrere Jahre auszusetzen. Auch wenn dieser Vorschlag sich bisher nicht durchgesetzt hat, macht er doch einen diskursiven Raum auf, der einer künftigen Regierung deutlich mehr Spielraum gäbe, in z.B. Bildung, Forschung, Gesundheit und (grüne) Infrastruktur zu investieren.

Sicher: Selbst wenn die Schuldenbremse wieder aus dem Grundgesetz gestrichen würde, sind die Vermögen noch genau so ungleich verteilt wie zuvor. Und natürlich sind die „Bidenomics“ kein Sozialismus: ein Verein freier Menschen bleibt das Ziel der Linken, er wird weder Gemeinschaftsprojekt noch Kollateraleffekt eines progressiven Bündnisses sein. Aber eines zeigt die gegenwärtige Krise des Neoliberalismus doch ganz deutlich: die Zeit der Alternativlosigkeit ist vorbei. Die Stunde praktischer Veränderung ist da. Wohin die Veränderung geht, ist offen, aber sicher ist: die Gelegenheit für die emanzipatorischen Kräfte in der Gesellschaft, die Politik nach links zu treiben, war lange nicht mehr so günstig wie jetzt. Das ist das eine.

Das andere ist: auch die Dringlichkeit der Umsetzung progressiver Vorschläge war nie größer. Um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen und die kommende Klimakatastrophe abzuwenden, ist ein umfassender Umbau der Gesellschaft erforderlich – und zwar sofort. Gerade angesichts der knappen Zeit zur Abwendung einer völligen Eskalation von Klimakatastrophe und Artensterben: Stichwort planetare Kipppunkte. Die Rettung der Welt können wir dabei nicht einem funktionalistischen Vertrauen in die Selbsterhaltungskräfte des Systems überlassen. Denn der Versuch der herrschenden Kapitalfraktionen, mit einer sanften ökologischen Modernisierung das bestehende Geschäftsmodell (auf Kosten der Ärmeren) zu stabilisieren, wird die Krisen nicht lösen. Zudem wird sie bekanntermaßen soziale Verwerfungen in hohem Ausmaß mit sich bringen. Es bleibt also dabei: Alles muss man selber machen. Die Rettung der Welt vor dem Kapitalismus ohnehin, die Rettung der Welt im Kapitalismus aber leider auch. Zumindest solange eine grundsätzliche Alternative zu ihm nicht auf der Tagesordnung steht. Und seien wir ehrlich: Das tut sie gerade leider nicht. Die Aufgabe der nächsten Jahre ist daher erstmal ein umfassender, sozial-ökologischer Umbau der Gesellschaft. Für die Linke ist das mehr als ein notwendiges Übel, für uns bedeutet es immerhin die Chance für ein besseres Leben für alle Menschen.

Was dafür als LINKE zu tun ist, liegt erstmal auf der Hand – und gibt uns ein echtes Alleinstellungsmerkmal: Statt liberaler Symbolpolitik und Sonntagsreden über Freiheit, Vielfalt und Offenheit, können wir die Frage ihrer materiellen Voraussetzungen stark machen. Gegen die Verkürzung des Antirassismus auf Fragen von Diversity, stellen wir die Frage gleicher Rechte nach vorne. Wir wissen: Es geht darum, Klimagerechtigkeit gegen den Markt durchzusetzen und nicht (weiter) von ihm zu erhoffen. Das Streiten für mehr Demokratie können wir als Frage der Verfügung über Eigentum und Reichtum ausbuchstabieren, anstatt als Haltungsfrage. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es versteht sich dabei von selbst, dass das etwas ganz anderes ist als reaktionärer Populismus, weil es darum geht, über die liberalen Verkürzungen von Bewegungen hinaus zu gehen, anstatt dahinter zurück zu fallen. Ein linker Green New Deal muss schließlich per se als grenzübergreifendes Projekt entwickelt werden. Und auch in Bezug auf den Modus ist eigentlich klar, was es braucht: Parteien und Bewegungen, die bereit sind, sich mit den Reichen und Mächtigen wirklich anzulegen. Denn jeder Green New Deal, der etwas taugt, muss gegen massive Widerstände von Vermögensbesitzern, fossilem Kapital und seinen Profiteuren durchgesetzt werden.

Aber halt – da war doch was. Mit „fortschrittlichen Regierungen“ hat die Linke ja tatsächlich einige schlechte Erfahrungen gemacht. Unsere berühmten Haltelinien sind ein Ausdruck des rot-grünen Traumas, dass mit der Modernisierung der Gesellschaft nach 16 Jahren Kohl dann Hartz IV und Kriegseinsätze kamen. Rote Haltelinien klingen vor diesem Hintergrund erstmal gut: Nach klarer Haltung und Prinzipientreue. Gleichzeitig schwingt in ihnen das Misstrauen sich selbst gegenüber mit, die Angst, die eigene Macht tatsächlich zu nutzen und falsche Entscheidungen zu treffen. Wie Odysseus sich an den Mast fesseln lässt, um dem Gesang der Sirenen nicht zu verfallen und das Schiff ins Verderben zu steuern, sollen die roten Haltelinien die Partei auf Kurs halten und ihr strittige Entscheidungen im Voraus abnehmen. Doch ist es – anders als bei Homer – in der Realität wirklich so einfach, die Versuchungen und ihre Folgen eindeutig zu bestimmen? Zumal die Situation heute in mehrfacher Hinsicht anders ist als vor dem rot-grünen Turn zum Neoliberalismus: Einerseits sind die Krisen existentieller und bedrohlicher, andererseits sind die Chancen größer. Bei einer progressiven Regierung geht es heute eher um die Frage, ob es weit genug oder an den entscheidenden Punkten in die richtige Richtung geht.

Endgegner-Beispiel Auslandseinsätze der Bundeswehr: mit oder ohne UNO-Mandat, bewaffnet oder unbewaffnet, das alles macht doch schon einen Unterschied. Zumal die Welt nicht automatisch eine bessere wird, wenn sich Europa einfach aus dem Elend, das es wesentlich mit angerichtet hat, heraus hält. Antimilitarismus heute auf die Formel zu reduzieren, sich nicht an Auslandseinsätzen zu beteiligen, fordert das machtpolitisch Unmögliche und zugleich viel zu wenig. Eine linke Alternative zur Nato-Politik müsste über rote Haltelinien hinausgehen anstatt sich darauf zurück zu ziehen. Und das bedeutet eben nicht, sich Habecks Forderung nach einem Bekenntnis zur Nato zu unterwerfen. Im Gegenteil: Ziel könnte ein praktischer Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik sein, der sich nicht an symbolischen Fragen, sondern an der realen Verteilung von Ressourcen festmacht. Eine linke Außen- und Sicherheitspolitik stünde in diesem Sinne für weniger Polizei und Militär, für mehr zivile Konfliktbewältigung, für Investitionen in Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen und Bildung: Defund the police and the military! Klar: Dabei geht es dann immer um graduelle Entscheidungen, sicher auch um schmerzhafte Kompromisse. Aber es gibt eben keine Versicherung gegen Fehler. Auch wenn der Wunsch danach verständlich ist, ist er eher Ausdruck einer politischen Vollkaskomentalität. Denn eine linke Regierungspraxis, die den Schwerpunkt der Außenpolitik weg vom Primat des Militärischen verschiebt, würde der Kriegspolitik tatsächlich schaden. Zumindest mehr als eine Linke in der ewigen Opposition, die sich wegen prinzipiellen Fragen selbst aus dem Spiel um die Macht nimmt. Denn Haltelinien, die in der aktuellen Offenheit der Situation ein „sich raushalten“ bedeuten, laufen Gefahr, am Ende des Tages vor allem politische Bequemlichkeit zu sein. Das wäre so schlimm nicht, wenn wir ganz viel Zeit hätten. Aber die Zeit haben wir nicht.

Das Warten auf eine vermeintlich bessere Konstellation zum Regieren können wir uns schlicht nicht leisten. Denn nochmal: In weniger als 15 Jahren muss Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land der EU CO2-neutral werden, um das 1,5 Grad-Ziel erreichen zu können. Die Zeit ist knapp. Zu knapp für linke Folklore und Symbolpolitik. Zu knapp für das Warten auf den großen Kladderadatsch. Und leider auch zu knapp dafür, allein auf die langfristige Verschiebung der Kräfteverhältnisse von Unten zu setzen, so wichtig Organisierung im Alltag und Druck von Bewegungen auf der Straße natürlich bleiben. Deswegen bin ich für eine Reformregierung, die die sozialökologische Wende versucht und einen außenpolitischen Paradigmenwechsel einleitet – und das sollte nicht an ein paar Bundeswehrsoldaten im Ausland scheitern. Denn auch wenn sie klein ist: Es gibt die reale Chance, eine grün-rot-rote Regierung zu einer tatsächlichen sozial-ökologischen Reform des neoliberalen Kapitalismus zu bewegen. Natürlich wäre das Ergebnis davon selbst im Erfolgsfall keine Gesellschaft der Freien und Gleichen, allerdings immerhin doch auch schon mal: kein Weltuntergang. Angesichts der aktuellen Lage gäbe es Schlimmeres.

Für einen Wahlkampf, der Kämpfe verbindet und verstärkt

Die Listenaufstellungen sind „geschafft“, der Bundesparteitag, der das Wahlprogramm beschließen und zugleich Wahlkampfauftakt sein wird, liegt vor uns. Die Ausgangslage, die Partei klassenpolitischer und bewegungsorientierter aufzustellen, ist gut: DIE LINKE hat sich in den letzten Jahren spürbar verjüngt und verbreitert. Eine neue aktivistische Generation, die über die jüngsten Bewegungen gegen Rechts oder für die Rettung des Klimas auf die Straße gegangen ist, prägt vor Ort immer häufiger das Gesicht der Partei.

Die Kämpfe, um dies es uns gehen muss, sind vielfältig und DIE LINKE muss oft keine Verbindungen mehr zwischen diesen Kämpfen herstellen, weil die Akteure das längst getan haben: Neben dem bestehenden „Unteilbar“-Bündnis etabliert sich die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Fridays for Future. Aktivist:innen von „deutsche wohnen und co enteignen“ unterstützen auch in den Pflegebündnissen die Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen und den Volksentscheid für gesunde Krankenhäuser. Die Forderungen für einen bundesweiten Mietendeckel kommen nicht nur von uns als Partei: Auch Gewerkschaften und Sozialverbände positionieren sich mitunter deutlich. Vielerorts war DIE LINKE direkt daran beteiligt, die Kämpfe miteinander zu verbinden. Wir wollen dies aufgreifen und verstärken.

Auch im Wahlprogramm werden Ansätze verbindender Klassenpolitik abgebildet. Gerade angesichts der Corona-Pandemie, in der Klassenunterschiede und die damit einhergehenden Interessen wieder besonders sichtbar geworden sind. Jede und jeder muss mitbekommen, dass DIE LINKE die Partei ist,

  • die nicht nur applaudiert, sondern gemeinsam mit den Kolleg:innen für bessere Arbeitsbedingungen, die Entlastung des Personals und höhere Löhne in der Pflege, im Einzelhandel und im Nahverkehr kämpft;
  • die für Corona-Hilfen in den von der Pandemie besonders betroffenen Branchen streitet, sei es in der Gastronomie, im Tourismus oder für die Kulturindustrie, statt für Konzerne, die mit Staatshilfen Dividenden an Aktionäre auszahlen;
  • die an der Seite von Sozialverbänden und Erwerbsloseninitiativen nicht müde wird, auf die zunehmende Armut hinzuweisen und ein Leben in Würde für alle zu fordern – ohne Sanktionen, mit ausreichender Mindestsicherung und pandemiebedingtem Zuschuss;
  • die daran erinnert, dass Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau diverser gesellschaftlicher Bereiche angesichts der durch die Corona-Pandemie verursachten Kosten nicht weniger dringlich geworden sind;
  • die dabei auch Perspektiven für die in der Industrie beschäftigten Arbeiter:innen aufzeigt, deren Jobs von einem solchen Umbau betroffen sein werden;
  • die immer die Situation auf der Flucht befindender Menschen thematisiert und konkrete Vorschläge für ihre Unterbringung in der gesamten EU macht,
  • die Tag für Tag kleine Verbesserungen durchsetzen will und zugleich die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur grundsätzlich in Frage – und die Alternative eines demokratischen Sozialismus in Aussicht stellt.

Wir setzen uns für einen kämpferischen und konfliktorientierten Wahlkampf ein und für eine Partei, die klar gegen die herrschenden Verhältnisse aufsteht und die Menschen dazu ermutigt, selbst aktiv zu werden. Wir wünschen uns zudem eine Fraktion, die diesen Gestus ab Herbst auch selbst stärker ausstrahlt: Eine Bundestagsfraktion, die ihre Sitzung in einem von Rodung bedrohten Wald abhält oder bei streikenden Kolleg:innen vor Amazon-Standorten. Oder im Bundestag eine Pressekonferenz mit Erntehelfer:innen abhält, die von ihren miserablen Arbeits- und Unterbringungsbedingungen berichten. Oder Bundestagsabgeordnete, die sich auf Fahrräder setzen und mit den Lieferando-Zusteller:innen Essen ausliefern und so auf deren harten Arbeitsalltag hinweisen.

Parlamentarische Arbeit muss mit der Arbeit an der Basis, in den Stadtteilen und „in der Fläche“ in enger Verbindung stehen. Die kommende Fraktion wird die Chance haben, die eigene Arbeit jenseits alter Konfliktlinien neu zu diskutieren. Dafür muss dem Aufbruch und der personellen Neuaufstellung der Partei auch eine Neuaufstellung in der Fraktion folgen. Die Bundestagsfraktion muss den programmatischen Beschlüssen der Partei folgen, sie ist kein Ort, um Dissense in Fragen aufzumachen, die in den von der Parteibasis dazu gewählten Gremien entschieden sind.

Lasst uns die Impulse der Bundespartei für einen neuen, gesprächsorientierten Wahlkampf an den Haustüren aufgreifen, im Wahlkampf neue Mitstreiter:innen und Mitglieder gewinnen und bei der Bundestagswahl für ein gutes Ergebnis sorgen. Wir wissen, dass der Kampf für eine bessere Welt nicht zwischen Laschet und Baerbock entschieden wird. Lasst uns den Wahlkampf außerdem nutzen, um vor Ort Strukturen aufzubauen und zu festigen und so die LINKE zu einer Kraft werden zu lassen, die gewappnet ist für die kommenden Auseinandersetzungen.

Statement vom Ko-Kreis Bewegungslinke, Juni 2021