Kategorie: Debatte

Zum Angriff auf die Ukraine

Gastbeitrag von Rolf Schümer

Zunächst das Wichtigste: Wir alle stimmen überein in der Überzeugung, dass wir für Frieden und Abrüstung eintreten, uns imperialistischen Kriegen und ihrer Vorbereitung entgegenstellen und so auch die russische Aggression auf das Schärfste verurteilen. Aber diese Grundhaltung allein reicht nicht aus, um in der aktuellen Situation klare Positionen zu beziehen.

Wie sieht die gesamte internationale Lage aus?
In einer Zeit knapper werdender Ressourcen durch fortgesetzten Raubbau und den zunehmenden Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel verschärfen sich die Widersprüche und die Konkurrenz zwischen imperialistischen Staaten, die die aggressivsten von ihnen auch mit kriegerischen Mitteln lösen wollen. Es war deutsche Imperialismus, der mehrfach diese Rolle spielte. Von 1945 bis 2014 waren es die USA. Heute heißt der gefährlichste und aggressivste Imperialist Russland, morgen kann es China sein.
Für viele von uns eine bittere Erkenntnis. Viele haben gehofft, sich gewünscht oder geglaubt, dass ein Land wie Russland, das mit Millionen Toten die Hauptlast bei der Zerschlagung des Hitlerfaschismus trug, niemals zu einem Aggressor werden würde.
Und noch etwas gehört zur bitteren Erkenntnis:
Russlands Politik hat nichts mehr mit einem antifaschistischen Kampf zu tun, im Gegenteil seine Führung unterstützt und finanziert Rechtspopulisten und Neonazis in vielen Ländern. Und in keinem anderen europäischen Land klafft die Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinander, gibt es mehr soziale Ungerechtigkeit als in Russland. Auch die staatlichen Repressionen gegen Andersdenkende belegen den europäischen Spitzenplatz.
Die Durchsetzung imperialistischer und geostrategischer Interessen von den Herrschenden in kapitalistischen Ländern stimmen niemals mit den Interessen der Völker überein. Als Internationalisten treten wir imperialistischer Politik entgegen, ganz gleich, ob sie von Russland, China, den USA oder der EU betrieben wird. Es gilt der Satz von Karl Liebknecht: Der Hauptfeind steht im eigenen Land.
Wenn ein Volk, wie jetzt das der Ukraine, Opfer eines imperialistischen Überfalls wird, dann stehen wir solidarisch auf seiner Seite, dann muss das Blutvergießen so schnell wie möglich beendet, als erster Schritt ein umfassender Waffenstillstand vereinbart werden. Die Erzwingung eines Waffenstillstandes ist nur möglich, wenn der Aggressor seine Ziele nicht verwirklichen kann und daher muss er maximal geschwächt werden. Dem Waffenstillstand würden keine Friedensverhandlungen, sondern ein langwieriger Guerillakrieg folgen, wenn die Ukraine komplett besetzt wäre und nicht als souveräner Verhandlungspartner am Tisch sitzen kann. Um das zu verhindern, reichen Sanktionen nicht aus, die nur die russische Führung und die Oligarchen treffen. Viele Beispiele in der Geschichte zeigen, dass eine Bevölkerung, die zunehmend unter den Kriegslasten leidet, sich gegen die jeweilige Regierung stellt.

Lesen wir die aktuellen Stellungnahmen von linken Parteien und Organisationen aus Lateinamerika, so fällt auf, dass hier viel öfter auf die Mitverantwortung von USA und Nato an der entstandenen Lage hingewiesen wird als in Stellungnahmen der Linken in osteuropäischen Staaten. Das ist auch nicht verwunderlich. Während die einen mehrfach erleben mussten, wie sich die USA mit Organisieren von Militärputschen und offenen Interventionen gegen die Interessen der lateinamerikanischen Völker stellten, ihre Länder als den eigenen Hinterhof einstuften, fühlen sich in Osteuropa, auch wegen historischer Erfahrungen, die Menschen von russischem Großmachtstreben bedroht.

Die Mitgliedschaft in der Nato als Schutz davor zu verstehen, ist in der aktuellen Lage ebenso verständlich wie verhängnisvoll. Niemand ist als Spielball geostrategischer Interessen auf Dauer sicher, weil sie mit Aufrüstung und Militarisierung künftige Kriegsgefahren beinhalten. Unsere Position zur Auflösung sämtlicher Militärbündnisse bleibt richtig, dauerhaften Frieden kann es nur in einer entmilitarisierten Welt geben. Auf dem Weg dahin können Schritte durchgesetzt werden, die uns diesem Ziel näher bringen. Zum Beispiel ein Verbot der Stationierung von Soldaten und Waffen außerhalb des eigenen Landes, was weltweit die Abschaffung aller Militärstützpunkte zur Folge hätte, egal von welchen Staat oder Bündnis sie betrieben werden.
Auch eine dauerhafte und friedliche Lösung des aktuellen Konfliktes sollte so aussehen, dass es für alle Seiten schwieriger wird, geostrategische Ziele in Europa durchzusetzen, indem nicht weniger, sondern mehr Staaten sich der Neutralität verpflichten. Dabei kann die Ukraine den Anfang machen. Wie sich das im Einzelnen gestaltet, ist Aufgabe und Inhalt der hoffentlich baldigen Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland.
Die Ukraine hat eine bürgerlich-demokratische Regierung, der auch Rechtsextremisten angehören. Das ist leider so, aber das macht aus der Ukraine keinen faschistischen Staat. Den Einfluss von Nazis und Nationalisten zurückzudrängen, die rechtsradikalen Verbände wie das Asow-Bataillon aufzulösen, das muss das Ziel der Linkskräfte in der Ukraine sein, wenn wieder Frieden herrscht und dabei haben sie unsere uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung.
In der aktuellen Lage, im Widerstand gegen den Aggressor, sind solche Forderungen schwer umzusetzen. So richtig wie es ist, das Vorhandensein solcher faschistischen Kräfte ist zu benennen und zu verurteilen, es darf aber nicht zur unkritischen Übernahme russischer Propaganda führen oder so wahrgenommen werden können. Auch in der aktuellen Lage den Schwerpunkt auf die Mitschuld der Nato zu legen, würden viele in der Friedensbewegung als Verharmlosung der russischen Aggression oder sogar als indirektes Partei ergreifen für Putin missverstehen und wir uns isolieren.
Es solidarisieren sich Millionen Menschen in der ganzen Welt mit dem Verteidigungskampf des ukrainischen Volkes. Die Bourgeoisie versucht daraus Kapital zu schlagen, indem sie diesen Kampf zu einer Auseinandersetzung zwischen „Freiheit und Demokratie“ auf der einen Seite und „Autokratie und Diktatur“ auf der anderen darstellt. So will sie die Zustimmung einer Bevölkerungsmehrheit für Militarisierung der EU und beschleunigte Aufrüstung erreichen. Es liegt auch uns, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Denn in der Folge eines neuen Wettrüstens zwischen imperialistischen Staaten wächst nicht nur die weitere Vergeudung von Rohstoffen und Energie, sondern auch die Gefahr eines nuklearen Weltkrieges.
Alte und neue Kalte Krieger sprechen von einer „Zeitenwende“, die gar keine ist. Es handelt sich nur eine beschleunigte und offenere Fortsetzung der alten Politik als Teil des Nato-Bündnisses.
Und wer stärker an die Öffentlichkeit tritt, sind die Befürworter einer hochgerüsteten EU, die in der Lage wäre, Kriege zu führen, auch ohne Unterstützung durch die USA. Sie repräsentieren den aggressivsten Teil des europäischen Kapitals, das von einer eigenen Geostrategie und ihrer Durchsetzung träumt.

Was die Folgen der Sanktionen gegen Russland für die Bevölkerung Europas und anderer Kontinente betrifft, da fordern wir soziale Gerechtigkeit, es dürfen nicht die Ärmsten die Zeche zahlen, weder im eigenen Land noch anderswo. Wer viel hat, kann auch viel abgeben. Das gilt auch für die Auswirkungen von Importstopps von russischem Gas, Öl oder Kohle.
Wir fordern, die notwendigen Maßnahmen bei Klima- und Umweltschutz zu beschleunigen, dafür die 100 Milliarden zu verwenden anstatt für Aufrüstung.
Anstatt Kohlekraftwerke länger laufen lassen zu wollen oder Atomkraftwerke wieder in Betrieb nehmen zu wollen, müssen die erneuerbaren Energien schneller entwickelt werden.
Wenn trotzdem Energieeinsparungen erforderlich sind, was wahrscheinlich ist, dann sollten als erstes die Rüstungskonzerne ihre Produktion einstellen und dann die Betriebe, die nicht nachhaltig und ökologisch produzieren, solche, die Waren herstellen, die keine echten Bedürfnisse befriedigen oder auf der Ausbeutung von Menschen, Rohstoffen und Natur in anderen Kontinenten basieren.
Es wäre auch der Zeitpunkt für eine Verkehrswende, die die Zulassung von Kraftfahrzeugen für den Individualverkehr deutlich herunterfährt, den öffentlichen Nahverkehr zum Nulltarif ausbaut, nicht einen einzigen weiteren Autobahnkilometer realisiert.

Wir müssen zu denjenigen gehören, die eine wirkliche Zeitenwende definieren:
Zu einer dauerhaften und weltweiten Friedensordnung gehört ein Wirtschaftssystem, das unserem Planeten nur so viele Rohstoffe entnimmt, die Natur nur so weit belastet, wie die Erde selbst regenerieren kann. Ob wir das als Abschaffung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse so benennen oder nicht, es ergibt sich aus der Notwendigkeit, den Weg des Wachstumswahn zu verlassen und klimaneutrale und sozial gerechte Alternativen durchzusetzen. Der dafür zur Verfügung stehende Zeitraum ist klein. Die wichtigsten Kippelemente werden in den nächsten zehn Jahren überschritten. Auch das verlangt neue Überlegungen für unser Handeln. Die wichtigste Frage dabei lautet: Wie können wir beitragen, im Bündnis mit welchen Kräften, eine sogenannte kritische Masse in der Gesellschaft in diesem Zeitraum zu bilden, die in der Lage ist, „die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen“(Karl Marx).

Für viele der innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten gibt es Ursachen, die sehr lange zurückliegen und es wird auch Zeit brauchen diese Differenzen zu überwinden, weil dazu viele geduldige Debatten nötig sind und nicht das Fordern den Ausschlusses des jeweils anderen oder seine öffentlichen Ausgrenzung.

Wir brauchen eine Taktik und Strategie, durch die wir nicht nur als sich in den grundsätzlichen Fragen einige Partei wahrgenommen werden. Dazu brauchen wir neue politische Projekte, die der politischen Landschaft und Auseinandersetzung im Land emanzipatorischen Auftrieb geben.

Nein zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine!

Nein zu dem größten Rüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik! – Milliarden für Klimaschutz und Soziales nicht für Aufrüstung und Krieg!

Beitrag von Christine Buchholz, Karolin Guhlke (SDS Bundesvorstand), Achim Kessler, Ferat Ali Kocak (MdA Berlin), Ulrich Wilken (MdL Hessen)

Auf Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin führt die russische Armee Krieg gegen die Ukraine. Moskau behauptet, eine Friedensmission durchzuführen. Das ist eine Lüge. Putin geht es darum, die russische Vorherrschaft über die Ukraine und die Region wiederherzustellen. Der Krieg um die Ukraine reiht sich ein in eine Serie russischer Militärinterventionen unter Putin und ist zugleich deren katastrophaler Höhepunkt. Dieser Angriffskrieg Russlands ist zu verurteilen. Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine.
 
Die alleinige Verantwortung für diesen Angriffskrieg liegt bei der russischen Regierung. Gleichzeitig gibt es eine Vorgeschichte. Seit 2014 ist die Ukraine zu einem Spielball der Auseinandersetzung zwischen der Nato und der EU auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite gemacht worden. Wir halten fest: Die Nato ist kein Verteidigungsbündnis demokratischer Werte; sie ist ein Militärbündnis, das weltweit den Kampf um Rohstoffe, Märkte und politische Macht der westlichen Mächte unter Führung der USA anheizt. Ob Moskau, Washington oder Berlin: Schluss mit dem Militarismus. Die Welt wird nicht friedlicher, wenn es ein neues Wettrüsten gibt. 
 
Im Kern handelt es sich um einen Konflikt zwischen dem mächtigsten imperialistischen Block auf der Welt, den Vereinigten Staaten mit seinen europäischen Verbündeten einerseits, und Russland, einer ökonomisch schwächeren aber militärisch starken, ebenso brutalen imperialistischen Macht, andererseits. Dieser Kampf um Einflusszonen bringt die Welt an den Rand eines Krieges, der die Menschheit auszulöschen droht. Deshalb ist Deeskalation das Gebot der Stunde. Die russischen Truppen müssen aus der Ukraine und die Nato-Kräfte von der russischen Grenze zurückgezogen werden. Menschen dürfen nicht zum Spielball der Großmächte gemacht werden – nicht in der Ukraine und nirgendwo. 
 
Wir kritisieren Forderungen nach Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine. Diese Waffenlieferungen gießen Öl ins Feuer und heizen die Spirale des Wettrüstens weiter an.
 
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Ukraine wird in diesem Stellvertreterkrieg von allen Seiten instrumentalisiert. Lohnabhängige, Bauern, Studierende oder Arbeitslose und ihre Familien haben nichts von der Entfesselung des Nationalismus und Militarisierung in ihrem Land. Die acht Jahre dauernden Kämpfe in der Ostukraine haben bereits über 14.000 Menschen das Leben gekostet. Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Auch jetzt flüchten Millionen Menschen, um ihr Leben und das ihrer Familien zu schützen. Die ukrainische Bevölkerung braucht keine weiteren Armeen, weder die Russlands, noch der Nato! Wir fordern stattdessen den Erlass der 113 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden der Ukraine sowie schnelle humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine. 

Wir stehen an der Seite der demokratischen Kräfte in der Ukraine, die sich für eine unabhängige Ukraine einsetzen, und der Anti-Kriegsbewegung in Russland, die gegen diesen Angriffskrieg kämpft. Wir erinnern daran, dass es eine Tradition des Antimilitarismus in Russland gibt: 1989 gab es nach dem über zehnjährigen Krieg der Roten Armee in Afghanistan – mit einer Millionen Toten unter der afghanischen Bevölkerung und über 50.000 Toten und vielen Verletzten unter den russischen Besatzungstruppen – in Moskau und vielen anderen russischen Städten Demonstrationen von betroffenen Müttern, deren Söhne in Afghanistan getötet oder verletzt wurden. 
 
Solidarität mit der Anti-Kriegsbewegung in Russland bedeutet hierzulande auch die Zurückweisung der Sanktionen des Westens, denn sie treffen nicht nur Putin und die Oligarchen, sondern auch die russische Bevölkerung. Dabei sind sie Wasser auf Putins Propaganda-Mühlen und helfen ihm, die Bevölkerung hinter sich zu sammeln. 
 
Wir verurteilen die von der Bundesregierung geplante massive Aufrüstung der Bundeswehr. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr bereitstellen sowie die jährlichen Militärausgaben auf das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erhöhen und Kampfdrohnen für die Bundeswehr beschaffen. Es ist das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik. In Zeiten weltweiter Armut, Klimakrise, Niedriglöhnen und maroder Infrastruktur in Schulen und Krankenhäusern oder fehlenden bezahlbaren Wohnungen ist das fatal. Die Lohnabhängigen und ihre Familien werden wieder einmal den Preis für diese Politik der Militarisierung und des Krieges bezahlen. Die Welt wird nicht friedlicher, wenn es ein neues Wettrüsten gibt. Gleichzeitig sind die CO2-Emissionen des Militärs enorm. Abrüstung muss Thema auch der Klimapolitik werden! 
 
Wir rufen auf, gemeinsam auf die Straße zu gehen und eine Protestbewegung gegen den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und gegen die Pläne für ein neues Wettrüsten der Bundesregierung aufzubauen.
 
Wir fordern von der Bundesregierung: 
– Diplomatische Bemühungen für einen sofortigen Waffenstillstand, mit dem Ziel, dass Russland die Truppen abzieht. 
– Keine Erhöhung des Bundeswehretats: 100 Milliarden für Klimaschutz und Soziales – nicht für Aufrüstung und Krieg.
– Grenzen auf für Geflüchtete – Abschiebungen stoppen.
– Solidarische Aufnahme von Kriegsdienstverweigerern aus Russland und der Ukraine.
– Keine Waffenlieferungen von Deutschland an die Ukraine.
– Erlass der 113 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden der Ukraine, sowie schnelle humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine. 
– Nein zu den Sanktionen der EU und Deutschlands gegen Russland.
– Keine Entsendung von Truppen der Bundeswehr im Rahmen der schnellen Eingreiftruppe der NATO.
– Keine Ausweitung der NATO.

„Die Waffen nieder“ reicht nicht: Wo linke Antworten auf den Krieg ansetzen können

Beitrag von Moritz Warnke

Wir erleben eine politische Zäsur in Deutschland, die die Handlungsbedingungen aller Akteure im kommenden Jahrzehnt maßgeblich prägen wird. Worin besteht die Zäsur? Nicht darin, dass es Krieg in Europa gibt. Den gab es bekanntlich bereits in den 1990er Jahren in Jugoslawien (bzw. seinen Nachfolgestaaten) und auch schon die letzten acht Jahre im Osten der Ukraine. Dennoch erleben wir ein 9/11-Moment, weil der politische Diskurs einer Großverschiebung unterliegt. Außenministerin Annalena Baerbock spricht im Bundestag von einer Wende der deutschen Außenpolitik „um 180 Grad“ und die Ampel-Koalition hat am Sonntag unter Führung von Olaf Scholz  beschlossen, dass das massive Aufrüstungsprogramm in Form des 2%-Ziels der NATO bereits dieses Jahr erfüllt und dafür eine Sonderkreditaufnahme in Höhe von 100 Milliarden Euro vorgenommen wird.

Es werden unangenehme Zeiten und plötzlich liegt für alle, die daran Zweifel hatten, auf der Hand, warum es eine politische Kraft im Bundestag braucht, die links von SPD und Grünen steht. Mit dem von der Ampel eingeschlagenen Kurs ändert sich die politische Konstellation im Land und auch für die Linke. Der allgemeine Wunsch nach Frieden, die Parole ‚Die Waffen nieder’ und die allgemeine Forderung zur Bekämpfung der Ursachen von Konflikten und Gewalt in der Welt können dabei konkrete Antworten auf den Konflikt nicht ersetzen. Möchte die Linke mit ihren Antworten überzeugen, kann sie nicht am konkreten Konflikt vorbeisprechen. Sie muss die Menschen davon überzeugen, dass der Umgang mit dem Konflikt bei der Linken besser aufgehoben wäre, wäre sie in der Position, das Handeln bestimmen zu können. Nach Lage der Dinge umfasst die Strategie der Bundesregierung in der aktuellen Krise Antworten in (mindestens) diesen vier Bereichen, auf die es von links konkrete Antworten braucht.

1. Aufrüstung

Zunächst muss man die Größenordnung des beschlossenen Aufrüstungsprogramms verstehen. Es geht um 100 Milliarden als Sondervermögen und die Bekräftigung des Versprechens, zukünftig dauerhaft 2 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung ins Militär zu stecken. Zum Vergleich: Die Corona-Sonderzahlung für Pflegekräfte hat ein Volumen von 1 Milliarde. Raul Zelik wies in einem Beitrag auf Twitter darauf hin, dass sich mit dieser Summe der Hunger auf der gesamten Welt bis 2030 abschaffen ließe und somit viel Leid verhindert werden könnte.

Das Aufrüstungsprogramm ist auch deshalb wenig überzeugend, weil es komplett wirkungslos gegenüber der gegenwärtigen oder vergleichbaren Situationen in Zukunft ist. Es ist eine Scheinlösung, an der vor allem Rüstungskonzerne verdienen. Der deutsche Militärhaushalt ist bereits jetzt der siebtgrößte der Welt. Dirk Hierschel, Chef-Ökonom bei ver.di, weist darauf hin, dass die Militärausgaben der NATO-Staaten jetzt schon mehr als 17 mal so hoch wie diejenigen Russlands sind. Und trotzdem hat dies Putin nicht von dem Angriff auf die Ukraine abgehalten.

Die finanzpolitische Konstruktion der Ampel für das Aufrüstungsprogramm ist einen näheren Blick wert. Es handelt sich bei den 100 Milliarden Sondervermögen einerseits und dem Einhalten des 2-Prozent-Ziels andererseits nicht wie zunächst von vielen angenommen, um zwei getrennte Vorgänge. Stattdessen wird das kreditfinanzierte Sondervermögen benutzt, um die Einhaltung des 2-Prozent-Ziels bereits ab diesem Jahr zu sichern. Die Summe von 100 Milliarden erklärt sich so: aktuell liegt der Bundeswehretat bei 50,3 Milliarden (seit 2014 bereits ein Aufwuchs um 55 Prozent, von 32,4 auf 50,3 Milliarden). Nimmt man das BIP 2021 als Grundlage (3.570,6 Milliarden Euro BIP) zur Berechnung des 2-Prozent-Ziels, dann hieße das, dass der Verteidigungshaushalt auf über 71,4 Milliarden anwachsen muss (dies entspräche einer Erhöhung um 41,9 Prozent zum aktuellen Niveau). Es entsteht also eine jährliche „Deckungslücke“ von rund 20 Mrd. Diese soll nun, wie Scholz laut Süddeutscher Zeitung am Dienstag den völlig überrumpelten Fraktionen im Bundestag erläuterte, aus dem kreditfinanzierten Sondervermögen in den nächsten fünf Jahren gedeckt werden. Warum fünf Jahre? Das ist der Zeitraum der allgemeinen Haushaltsplanung des Bundestags. Damit sichern Scholz und Lindner ab, dass das Aufrüstungsprogramm nicht zum finanzpolitischen Problem für die Ampel wird – denn die Finanzierung des 2-Prozent-Ziels passiert gewissermaßen außer der Reihe, über Kredite, die parallel zur Schuldenbremse ermöglicht werden. Die Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag müssen damit nicht zurückstehen, womit politischer Druck von der Koalition genommen wird. Doch wie wird eine solche Kreditaufnahme trotz Schuldenbremse möglich? Die Antwort ist: indem sie als gleichrangiges Ziel in die Verfassung aufgenommen werden soll. Deshalb muss auch die CDU ins Boot geholt werden. Da das Sondervermögen in fünf Jahren aufgebraucht sein wird, steht die nächste Bundesregierung ab 2027 vor dem Problem, das 2-Prozent-Ziel aus dem regulären Bundeshaushalt zu finanzieren. Damit dürfte einerseits ein wichtiges Thema für den Bundestagswahlkampf 2025 gesetzt sein, andererseits haben sich die Chancen für ein rot-rot-grünes Reformbündnis unter diesen Bedingungen deutlich reduziert. Denn auch wenn linke Ökonom*innen zurecht darauf hinweisen, dass dies kein Naturgesetz ist, so ist unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen und Handlungsbedingungen (Schuldenbremse) damit zu rechnen, dass dieses Aufrüstungsprogramm langfristig (ab 2027) zu Einsparungen an anderer Stelle führen wird. 

Eine linke Antwort in dieser Auseinandersetzung liegt auf der Hand: Erstens keine Aufrüstung und zweitens muss die Schuldenbremse fallen, nicht zuletzt um die notwendigen Klimainvestitionen (auch ohne Schattenhaushalte) zu ermöglichen.

2. Waffenlieferungen

Für einige wird es bei der Frage nach Waffenlieferungen bereits komplizierter. Aus guten Gründen war es bisher Teil der deutschen Außenpolitik, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu liefern. Die einzige Ausnahme war eine Waffenlieferung an die Peschmerga zur Bekämpfung des IS, um dessen brutales Abschlachten eines Teils der Bevölkerung verhindern zu können. Die jetzige Situation ist nicht vergleichbar. Gregor Gysi argumentiert in seinem öffentlichen Brief an Sahra Wagenknecht und weitere Abgeordnete, dass sich Waffenlieferungen aus Deutschland aufgrund unserer Geschichte verbieten, gegen Waffenlieferungen aus anderen Nationen könne man jedoch nichts einwenden, ohne das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine in Frage zu stellen.

Das Problem, dass dem Land durch die Hochrüstung eine Perspektive wie Syrien droht, das nach über zehn Jahren Bürgerkrieg weitgehend zerstört ist, kann jedoch nicht einfach vom Tisch gewischt werden. Denn die Waffenlieferungen in die Ukraine, um die es geht, werden den Krieg vielleicht verlängern, aber sicher nicht die militärische Überlegenheit Russlands brechen. Je länger gekämpft wird, desto mehr Schaden wird in der Ukraine angerichtet, desto mehr Zivilist*innen werden ihr Leben verlieren, desto mehr wird Kiew am Ende wie Grozny aussehen. Jan van Aken argumentiert, die Waffenlieferung funktionierten eher auf einer symbolischen Ebene für die westliche Öffentlichkeit, als „Politik-Ersatz“, um sich „ein gutes Gewissen zu erkaufen, statt das zu tun, was der Moskauer Elite wirklich wehtun würde“. Effektiver wären ökonomische Sanktionen, die allerdings auch für die westlichen Ökonomien einen Preis hätten. Ein Teil der klassischen Friedensbewegung lehnt auch wirtschaftliche Sanktionen ab. Diese Position kann sich auf eine Reihe von ökonomisch-politischen Argumenten berufen. Bernd Riexinger argumentiert, warum er sie dennoch für zwingend notwendig hält, wenn die LINKE in der öffentlichen Debatte eine glaubwürdige Position einnehmen möchte.

3. Sanktionen

Von den bisher erlassenen Sanktionen sind vor allem diejenigen gegen die russische Nationalbank von Bedeutung, weil sie eine hohe Effektivität haben. Hierbei geht es um die Sperrung der Gold- und Devisenreserven. Insgesamt besitzt Russland eine gut gefüllte Schatztruhe in Form von rund 630 Milliarden Dollar Devisenreserven, etwa die Hälfte davon liegt im Ausland, beispielsweise bei der Bundesbank. Es dürfte Teil von Putins Kalkulation gewesen sein, dass er damit ökonomische Sanktionen „aussitzen“ kann. Die Reserven reichen aus, um die gesamten Importe Russlands über ein Jahr lang zu bezahlen. Die Sperrung dieser Reserven trifft den russischen Staat und die russische Wirtschaft entsprechend hart. Der Rubel ist bereits abgestürzt, die russische Notenbank musste ihren Leitzins auf einen Schlag auf 20 Prozent heraufsetzen und damit mehr als verdoppeln. Die langfristige Wirkung dieser Maßnahmen bleibt abzuwarten. Der Kurssturz bei russischen Staatsanleihen könnte laut Finanzexpert*innen für den russischen Staat auch eine günstige Gelegenheit sein, die ausgegebenen Anleihen zu den eingebrochenen Kursen in großem Stil zurückzukaufen und sich damit günstig zu entschulden – so wie es dem Kreml 1998 gelang. Sicher scheint bisher: Der Einbruch des Rubels wird die Inflation anheizen und die Situation der breiten Bevölkerung verschlechtern. Ob die damit zu erwartende steigende Unzufriedenheit sich gegen Putin richten wird, ist ungewiss. Festhalten lässt sich, dass die Sanktionen gegen die russische Nationalbank nach derzeitiger Lage effektiv, aber wenig zielgenau sind. 

Demgegenüber zu priorisieren wären Sanktionen, die Putins Machtbasis (die reichen Oligarchen des Landes) treffen, statt die russische Bevölkerung. Die Sanktionspolitik der EU packte gerade hier jedoch zunächst die Samthandschuhe aus. So sorgte Italiens Präsident Draghi dafür, dass bestimmte italienische Luxusgüter wie Produkte von Gucci von den Sanktionen ausgenommen werden, die belgische Regierung sorgte dafür, dass die Diamanten-Industrie nicht Teil der Sanktionen wird.

Thomas Piketty argumentiert, wie effektive Sanktionen aussehen könnten und was ihnen derzeit im Weg steht. Piketty schlägt vor, russische Vermögen im Westen von mehr als 10 Millionen Euro einzufrieren und mit einer harten Besteuerung von jährlich 20 Prozent zu belegen (damit würde man 0,02 Prozent der russischen Bevölkerung treffen). Die Aussicht auf den Totalverlust dieser Vermögen in wenigen Jahren würde, so seine Einschätzung, für genügend politischen Druck in Russland sorgen, um Putin zu einer Kurskorrektur zu zwingen. 

Auch der Ökonom Paul Krugman argumentiert in diese Richtung und schrieb in einem Kommentar in der New York Times: „Die fortgeschrittenen Demokratien haben eine weitere, mächtige Finanzwaffe gegen das Putin-Regime, wenn sie bereit sind, diese einzusetzen: Sie könnten sich den riesigen Übersee-Reichtum der russischen Oligarchen krallen, die Putin umgeben und ihm helfen, an der Macht zu bleiben“. Die Grundalge für diese Form von Sanktionen sind also die enormen Vermögen russischer Oligarchen in Europa, die in verschiedenen Formen vorliegen. Während Geldvermögen häufig auf Schweizer Konten liegen, wo sie sicher sein dürften, geht es auch um immobiles Vermögen wie etwa Luxusyachten, Luxusvillen in teuren Skigebieten oder Investments in Immobilien auf dem gesamten Kontinent. Und tatsächlich kommt etwas Bewegung in die Sache. So lässt sich im Focus lesen: „Am Wochenende kündigten die EU, Großbritannien, Kanada und die USA eine „transatlantische Task Force“ an, um Vermögenswerte reicher Russen ermitteln und einfrieren zu können. „Wir werden ihre Yachten, ihre Luxuswohnungen, ihr Geld (…) jagen“, sagte ein Vertreter der US-Regierung.“ Während Putins Yacht „Graceful“ offenbar in Erwartung solcher Sanktionen bereits Mitte Februar „Hals über Kopf“ die Werft in Hamburg verließ, wurde offenbar heute (3.3.2022) Morgen in Hamburg die Yacht des russischen Multi-Milliardärs Usmanow beschlagnahmt (Kaufpreis: 600 Millionen Dollar). Auf dem Mittelmeer werden mittlerweile auffällige Schiffsbewegungen gemeldet, weil offenbar aus ganz Europa Luxusyachten Leinen los machen und in Richtung Malediven oder in andere Häfen außerhalb der EU aufbrechen. Aus Angst vor entsprechenden Sanktionen erklärte auch Roman Abramowitsch inzwischen, seinen Fußballclub FC Chelsea samt Stadion verkaufen zu wollen. 

All das zeigt, dass man versucht, die bisherigen Routinen des Lifestyles in Saus und Braus für die mit Putin assoziierten Oligarchen zu unterbrechen. Andererseits gibt man ihnen offenbar genügend Zeit, um zumindest ihre mobilen Vermögen in Sicherheit zu bringen. Aber es gibt noch einen wichtigen Grund, warum dies nicht ausreicht: Diese Sanktionsversuche drohen zur spektakulären „Show“ zu verkommen, wenn man über diese Lifestylegüter (Yachten, teure Autos, Luxusvillen) hinaus nicht versucht, auch an das tatsächlich wohl sehr viel bedeutsamere geschäftlich geparkte Vermögen heranzukommen. Hier geht es nicht zuletzt um Millionen und Milliarden, die auf dem gesamten Kontinent auf dem Immobilienmarkt investiert sind – häufig diskret über Briefkastenfirmen. In „Londongrad“ ist die (spekulative) Präsenz der Oligarchen auf dem Immobilienmarkt besonders ausgeprägt, aber auch in Kontinentaleuropa sind enorme Summen investiert und tragen ihren Teil zur Mietpreisspirale bei. Die Münchner Luxusimmobilie „Opern-Palais“ wird über eine Offshore-Konstruktion von russischem Geld finanziert, der russische Investor Monarch baut am Berliner Alexanderplatz aktuell eines der höchsten Hochhäuser der Stadt mit der Aussicht auf eine Millionenrendite. Das ist aber ganz sicher nur die Spitze des Eisbergs. Wie groß der Anteil von russischem Kapital in deutschem Betongold und dem Mietpreiswahnsinn in deutschen Metropolen tatsächlich ist, weiß niemand so genau. Denn dafür bräuchte es mehr Transparenz auf dem Immobilienmarkt auch gerade mit Blick auf Briefkastenfirmen. Dafür gibt es in Folge einer EU-Regel eigentlich seit 1.1.2020 das so genannte Transparenzregister, in dem die wirtschaftlich Berechtigten von Unternehmen hinterlegt sein müssen. Wie eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigte, verfehlt das Transparenzregister bisher jedoch seine Funktion, weil es offenbar niemanden gibt, der wirksam auf eine Einhaltung dringt und die Korrektheit der Angaben durchsetzt. Notwendig wären hier etwa hohe Geldstrafen für Falschangaben und eine öffentliche Zugänglichkeit, da es in den letzten Jahren vor allem Journalist*innen waren, die durch ihre Recherchen Missstände aufgedeckt hatten. Ob die Bundesregierung die Strukturen zur Vermögensverschleierung und Geldwäsche so reformieren wird, dass man über die plakative Beschlagnahme von Luxusyachten hinauskommt, darf bezweifelt werden – auch wenn vereinzelte Stimmen innerhalb der Koalition, wie etwa die grüne Finanzexpertin Lisa Paus, sich redlich um Fortschritte in diesem Kontext bemühen.

Insgesamt gilt: Wer wirksame und zielgenaue Sanktionen durchsetzen möchte, braucht mehr Transparenz darüber, wer in Europa zu den Superreichen gehört und welche Vermögenswerte er oder sie besitzt. Dazu müsste das gesamte etablierte und „gut geölte“ System der Vermögensverschleierung, etwa durch Briefkasten- bzw. Offshore firmen aufgesprengt werden. Und genau hier liegt das Problem: Diese Transparenz wollen auch die nicht-russischen Superreichen nicht. Das ist skandalös, gehört auf die Tagesordnung der aktuellen Debatten und in jede Talkshow. Denn hier kann man die Leute nachhaltig treffen, auf die Putin hören wird, wenn ihnen die Kriegskosten, die sie selbst zahlen müssen, zu hoch werden. 

4. Energiepolitik

Die Energiepolitik erhält angesichts der Situation eine neue Bedeutung. Für die Bundesregierung gilt nun: „Energiepolitik ist Sicherheitspolitik“ (Habeck). Hintergrund: Die USA und EU zahlen jeden Tag 350 Millionen Dollar an Russland für importiertes Öl und 250 Millionen für importiertes Gas. Im Jahr 2020 kaufte die EU für 60 Milliarden Euro Erdöl, Gas und Kohle von Russland, wobei Deutschland der größte Abnehmer ist, wie von der FAZ vorgerechnet wird. Das sind 164 Millionen jeden Tag. Damit finanziert Putin den Krieg. Die Abhängigkeit von fossiler Energie führt zu politischen Problemen, was im Grunde genommen keine neue Sache ist, sondern man auch mit Blick auf Saudi-Arabien schon kennt. Die Bundesregierung hat diese Achillesferse mit Blick auf Russland erkannt. Ihr Lösungsversuch scheint aber eher von einem bunten Blumenstrauß von Lobbyinteressen geprägt zu sein. Es zeichnet sich ab, dass Energiepolitik eben nicht deckungsgleich mit Klimapolitik ist.

Statt dem russischen Erdgas, möchte man nun auf Fracking-Gas (LNG) aus den USA setzen, das ganz erhebliche Umweltprobleme mit sich bringt. Die Neuorientierung auf LNG-Gas wird zur Lösung der aktuellen Krise nicht viel beitragen, das LNG-Terminal in Stade etwa ist laut Betreiber auch frühestens 2026 fertig.

Außerdem möchte die Bundesregierung, dass Deutschland seinen Strom nun doch bereits 2035 zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien bezieht, was vorher als nicht realistisch eingestuft wurde. Gleichzeitig soll der bisher für 2030 angestrebte Kohleausstieg nach hinten geschoben werden. Es hat seine eigene Ironie, dass diese Option von Anna-Lena-Baerbock an dem Tag ins Spiel gebracht wird, an dem der IPCC seinen neuesten Bericht vorstellt und nochmal eindringlich auf die Gefahren des aktuellen Kurses (geschweige denn einer Verschlechterung) hinweist. Der Grünen Führung ist angesichts der Lage offenbar der Kompass abhandengekommen und es bleibt abzuwarten, wie sich die Partei in Gänze sortiert. Es könnte sein, dass sie bereits mit den jetzigen Beschlüssen in Widerspruch zu einem Teil ihrer gesellschaftlichen Basis geraten. Während Anna-Lena Baerbock eine Verlängerung des Kohle-Ausstiegs als „Preis für die Solidarität mit der Ukraine“ bezeichnet, fordert Luisa Neubauers: „eine Antwort auf den Krieg muss ein radikaler Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas sein.“ Auch die neue Grünen-Chefin Ricarda-Lang stellte sich gegen diese Pläne und stellte klar: „Wenn wir den Kohleausstieg 2030 aufgeben, geben wir das Pariser Klimaabkommen auf.“

Die Linke hat mit FFF einen wichtigen Bündnispartner, um dem lobbygetriebenen Aufwärmen von umweltschädlichen Technologien eine Absage zu erteilen und eine konsequente Priorisierung der erneuerbaren Energien einzufordern. Mit Blick auf die Kostenverteilung im Rahmen der aktuellen Energiekrise ist es notwendig, die Grundbedarfe für Verbraucher*innen zur Not auch mit staatlichen Preisdeckeln sicherzustellen (wie bereits in Frankreich umgesetzt und auch vom Sozialverband VdK oder der Linksfraktion für Deutschland gefordert und jüngst mit Blick auf den Gaspreis etwa vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung durchgerechnet). 

Insgesamt bietet die aktuelle Situation im Bereich der Klima-Transformation die Chance, einen konsequenten Umbau der Gesellschaft zu forcieren. Es dürfte schwer zu argumentieren sein, warum man die Abhängigkeit von russischem Gas reduzieren, jene von z.B. saudi-arabischen Öl (erinnert sei an den völkerrechtswidrigen Krieg im Jemen), aber beibehalten und nicht alle notwendigen Mittel in einen schnellen Ausbau des ÖPNV stecken sollte. Denn die Gigantomanie des aufrüstungspolitischen „Whatever-it-takes“ schafft gehörige Legitimationsprobleme für die vermeintliche Nicht-Finanzierbarkeit der notwendigen Umbaumaßnahmen, um die Pariser Klimaziele irgendwie noch einzuhalten. 

Den Kopf nicht verlieren

Putins Angriffskrieg führt zu einer Zeitenwende, viel spricht dafür, dass Europa gerade sein 9/11 erlebt. In dieser Situation wird es schwierig werden für linke Antworten, denn der Diskurskorridor des Sag- und Diskutierbaren wird kleiner werden. Ein Gefühl dafür gibt der in den letzten Tagen immer wieder in den ARD-Brennpunkten interviewte Professor der Bundeswehrhochschule, Carlo Masala, der bei Markus Lanz einen „mentalen Wandel“ einfordert (ab Minute 27:30). Eine der Aufgaben wird sein, überhaupt gesellschaftliche Debatten außerhalb der zugespitzten Konfliktdynamik möglich zu halten und sich nicht von der militärischen Logik auffressen zu lassen. Diese Herausforderung hat Elsa Koester skizziert. Es gibt wirklich keinen Grund für Optimismus. Zu hoffen bleibt, dass sich die Absage der herrschenden Eliten an eine vermeintliche Nicht-Finanzierbarkeit von Strukturveränderungen, die angesichts der gesellschaftlichen Krisen angemessen wären, durch das aktuelle Milliarden-Paket nachhaltig blamiert hat. 

Die Linke muss sich auf die neue Konstellation einstellen. Die sehr breit geteilte Ablehnung der Aufrüstung kann eine neue Einheit schaffen. Sie bietet die Chance für eine Neuerfindung der Linken für eine neue Zeit – ohne ‚Putin-Versteher’ und ohne einen durch Geopolitik verstellten Blick für konkrete Konflikte, aber mit einem funktionierenden Kompass für Klimaschutz und Menschenrechte, die Eigentumsfrage und mit einem konsequenten Kurs gegen Aufrüstung und für eine nachhaltige Friedenspolitik. Dafür entsteht im politischen Feld aktuell ein neuer Bedarf, der von keiner anderen im Bundestag vertretenen Partei gedeckt wird.

Zuerst erschienen ist dieser Text in LuXemburg Online.

Für wichtige Anregungen in diesem Text danke ich Benjamin Opratko und Fabian Wisotzky.

Russlands Angriffskrieg: Sanktionen sind die falsche Antwort

Beitrag von Sascha Radl

Das Südafrika der Apartheid gilt vielen als prominentestes Beispiel für erfolgreiche Sanktionen. Die Vereinten Nationen setzten in den 1960er Jahren erste Maßnahmen um, die unter anderem den Ausschluss südafrikanischer Sportler:innen von internationalen Veranstaltungen bedeuteten. Erst später, ab Mitte der 1980er, konnte die Antiapartheidsbewegung westliche Regierungen dazu drängen, wirtschaftlichen Sanktionen zuzustimmen. Zwar sah sich die weiße Bevölkerung Südafrikas zunehmend isoliert und war eher geneigt, Verhandlungen zuzustimmen. Aber dies ist nicht allein – nicht einmal hauptsächlich – den Sanktionen zu verdanken: Die südafrikanische Wirtschaft war hart durch Aufstände und Streiks getroffen; Investor:innen zogen sich zurück, unabhängig von Sanktionen. Ebenso schob die Angst vor gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Antiapartheidsbewegung den »Verhandlungsfrieden« an. Sanktionen flankierten den Prozess, waren aber nicht der wesentliche Grund für das Ende der Apartheid.  

2. August 1990: Auf Befehl Saddam Husseins überfiel das irakische Militär Kuwait. George Bush Senior sah die Chance gekommen, einen weiteren Baustein für die »neue Weltordnung« nach Ende des Kalten Krieges zu legen und sendete Truppen gegen Irak. Auf Druck der US-Regierung – und den Erfolg der Maßnahmen in Südafrika vor Augen – veranlassten die Vereinten Nationen massive Sanktionen: Ölverkäufe, die den weit größten Anteil der irakischen Exporte ausmachten, wurden blockiert. Gleiches galt für die meisten Importe, darunter essentielle Güter wie Wasserpumpen oder Kleidung; sogar Medikamente und Nahrungsmittel. Bis heute ist unklar, wie viele Menschen an den unmittelbaren Folgen starben – Schätzungen gehen von mehreren Hunderttausenden aus. Dadurch, und unterstützt von Bombardements, entwickelte sich Irak von einem Land mit vergleichsweise hohen sozialen Standards zu den Schlusslichtern der Region. Hussein, der eigentlich durch den verlustreichen Irak-Irankrieg in den 1980ern unbeliebt war, konnte sich bis zur nächsten US-Intervention 2003 an der Macht halten.

Was lief diesmal anders? In Südafrika forderte eine breite Massenbewegung Sanktionen gegen ein rassistisches Regime; im Irak wurden Sanktionen von oben beschlossen, ohne dass es eine ähnlich starke Bewegung gab. Damit verschob sich das Ziel. Es ging vielmehr darum, die Bevölkerung spüren zu lassen, dass »ihr« Diktator menschenverachtende Politik macht – und sie so auf die Straße zu treiben. Der Plan ging nicht auf. Die Zeit berichtete Ende der 1990er über die Lage im Irak und beobachtete: Für die meisten Iraker:innen »bedeutet Demokratie Wirtschaftssanktionen, Hunger und Verelendung. Mehr nicht. Wie soll unter solchen Vorzeichen eine Opposition gegen den Diktator entstehen?« Wenn Sanktionen ohne Massenbewegungen eine Wirkung erzielen, dann die, dass sie Menschen in die Arme von Diktatoren treiben. Plötzlich leidet die breite Bevölkerung unter den im Ausland beschlossenen Maßnahmen und »starke Männer« finden neues Vertrauen, weil sie sich gegen die folgenschwere Politik äußerer Mächte stellen. 

Der Fall Russland 

Die gegen Russland beschlossenen Sanktionen folgen nicht dem Modell Südafrika, sondern dem Modell Irak. Zwar sind bisher tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen Putin und den Krieg zu demonstrieren – aber eine wirkliche Massenbewegung, die Maßnahmen aus dem Westen fordert, ist (noch) nicht entstanden. Die französische Regierung macht derweil klar, worum es bei den Sanktionen der EU und USA geht: »Wir werden Russland einen totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg liefern. […] Wir führen den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft herbei.« Diese Aussage ist eine Kriegserklärung. Nicht an Putin gerichtet, sondern an die Bevölkerung. 

Zu den wichtigsten Maßnahmen zählt der Ausschluss einiger großer Banken aus dem Zahlungssystem SWIFT. Damit ist das Land vom internationalen Finanzsystem abgeschnitten und russische Unternehmen haben Schwierigkeiten, importierte Güter zu bezahlen. Der Handel droht zu kollabieren. Iran hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Hinzu kommt die Blockade der Devisenreserven der russischen Zentralbank, die größtenteils im Ausland aufbewahrt werden. Zugriff auf die Reserven wäre wichtig, um die Abwertung des Rubels und grassierender Inflation zuvorzukommen. 

Zwar schaden die Maßnahmen auch »Putins Kriegskasse«, die Banken zur Abwicklung der russischen Öl- und Gasexporte – die wichtiger für die Finanzierung des Kriegs wären – sind aber von der Abkoppelung von SWIFT ausgenommen. Es sollen vor allem Aufstände entstehen, indem breite Teile der Bevölkerung von der Grundversorgung abgeschnitten werden. Das Leid der Bevölkerung wird also nicht einfach in Kauf genommen: it’s a feature. Wenn Bernd Riexinger schreibt, dass »die bisherige Haltung ›Sanktionen treffen die Bevölkerung, deshalb sind wir dagegen‹ […] sich nicht durchhalten [lässt], stimmt er dieser verheerenden Logik ausdrücklich zu. Doch genauso wie in Irak, Iran oder Nordkorea wird sie in Russland nicht aufgehen. Die Folgen sind den meisten linken Befürworter:innen implizit bewusst – wenn es um den »eigenen« Imperialismus geht: Niemand hat ernsthaft argumentiert, dass die Kriege in Irak und Afghanistan durch Sanktionen gegen die Bevölkerung in Nordamerika und Westeuropa gestoppt werden müssen. Natürlich hätte dies die Antikriegsbewegung nur geschwächt.

Linke Alternativen? 

So wichtig es ist, dass der Angriffskrieg auf die Ukraine ein Ende findet, sind die beschlossenen Sanktionen gegen Russland kein geeignetes Mittel. Sie werden den Spielraum der Opposition einengen und den Konflikt verhärten. Aber könnte es zielgerichtetere, linke Sanktionen geben? Lukas Oberndorfer denkt in seinem Beitrag für Mosaik darüber nach. 

Dazu gehört etwa die Forderung, die russischen Öl- und Gasexporte zu treffen und im gleichen Schritt die ökologische Transformation Europas voranzutreiben. Doch die Einnahmen aus den fossilen Exporten finanzieren nicht nur den Krieg, sondern auch die Gehälter des öffentlichen Diensts und den Wohlfahrtsstaat – und sind ein Rückgrat der russischen Wirtschaft. Eine ähnliche, fatale Wirkung wie die der bereits beschlossenen Sanktionen wäre also nicht auszuschließen. Ebenfalls prominent steht die Forderung, das Auslandsvermögen von Oligarchen zu beschlagnahmen. Wäre es ein Schritt nach vorne, wenn Oligarchen Putin stürzen würden? Oligarchen sind Kapitalisten, die besonders stark vom russischen Staat abhängig sind und der Regierung große Teile ihres Reichtums zu verdanken haben. Es ist unwahrscheinlich, dass sie ihre Geldquelle riskieren. Falls doch, würde sich die neue Regierung vielleicht eher dem westlichen Imperialismus unterwerfen, wäre aber kaum demokratischer als die alte. Echte Demokratie gibt es nur von unten. Und: Warum diskutieren wir eigentlich über russische Oligarchen, aber nicht über »unsere«? Sind diese weniger für Militarismus und Krieg verantwortlich?  

In Südafrika ging es um ein Regime, das auf der internationalen Bühne fest auf der Seite des Westens stand. Deutschland zählte zu den wichtigsten Finanziers. Margaret Thatcher, damalige Premierministerin Großbritanniens, nannte den African National Congress noch 1987 eine »terroristische Organisation«. Keine westliche Regierung hatte ein ernsthaftes Interesse an einem Sturz. Bei den Sanktionen gegen Russland geht es um Maßnahmen, die Teil eines imperialistischen Konflikts zwischen den NATO-Staaten einerseits und Russland andererseits sind. Sie sind ein Mittel im – erneut in den Worten der französischen Regierung – »totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg«. Die Sanktionen zu unterstützen, hieße auf Seite des westlichen Imperialismus in den Konflikt einzutreten. »Weder Moskau, noch Washington oder Berlin« setzt dagegen, alle Kriegsakte abzulehnen. Die einzige Lösung besteht im (Wieder-)Aufbau der internationalen Antikriegsbewegung. 

Ins Herz der Bestie: Den Druck auf die Besatzungsmacht erhöhen

Beitrag von Matthias Danyeli

Die Invasion der russischen Armee auf die Ukraine hat nicht nur alles in den Schatten gestellt, was die meisten Ukrainer für möglich gehalten haben. Erst Recht wurde die gesamte westliche Linke nicht nur überrascht, sondern viele Analysen, Forderungen, Glaubenssätze und Phrasen wurden über Nacht auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Insbesondere in der ukrainischen Linken gab es einige Stimmen, die leider zuletzt und auch seit Ausbruch des Krieges umso vehementer massives Umdenken eingefordert haben. Die letzten Tage haben eine so unterschiedliche Sicht auf die jetzige Lage in der ukrainischen und nicht unerheblichen Teilen auch der deutschen Linken zu Tage gefördert, dass diese im Sinne einer internationalistischen Position aufzulösen nützlich und geboten erscheint. Dabei wurden sowohl Ursachen, Timing als auch das Invasions-Ausmaß in der ukrainischen Linken teilweise öffentlich vorhergesagt, wie Volodymyr Artiukh mit Verweis auf Rob Lee zeigte. Während unsere hiesige Linke dabei stark auf dem falschen Fuß erwischt wurde, sollten wir uns dem wenigstens jetzt stellen, wo der Krieg in die besonders heiße, potenziell sich verfestigende, massiv gefährlicher werdende Phase übergeht und wie zu zeigen ist, massive Handlungsspielräume für uns bestehen – nicht nur den Krieg zu stoppen, sondern in eine Friedensbewegung gegen die Aufrüstung zu starten, die wir seit Jahrzehnten nicht gesehen haben.

Zunächst sollten wir uns vergegenwärtigen, was eine Invasion des einwohnerstärksten Staats der ehemaligen Sowjetunion auf das zweit-einwohnerstärkste Land konkret bedeutet. Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten, hunderttausende Freiwillige im bewaffneten Kampf auf ukrainischer Seite, Millionen Ukrainer:innen mit kreativen Protestformen gegen die Besatzung und vierzig Millionen Menschen mittendrin gefangen. Und leider ein Tag für Tag verfestigter, erbitterterer Krieg mit inzwischen zunehmend wahllosem Artilleriebeschuss auf Plattenbauten. Teilweise schon jetzt verminte Städte, sodass weder Nahrungsmittelversorgung noch humanitäre Hilfe gewährleistet ist, weil niemand gegen die Kontrolle russischer Truppen herein oder heraus kommt. Im Fall der Niederlage droht eine Besatzungsdiktatur, die angesichts des außerordentlichen ukrainischen Widerstands und Hasses gegen die Besatzungsmacht sich nur durch nackte Gewalt, die Ausschaltung alter Funktionseliten und kritischer Geister sowie nahezu vollständige Organisationsfeindlichkeit etablieren könnte. Und obwohl auf beiden Seiten Staaten mit eigenem offiziellem Militär sind, kann kaum bestritten werden, dass es nicht annähernd dem ersten Weltkrieg gleicht, in dem verschiedene Seiten ähnlich ambitionierter Großmächte sich gegenseitig nur den Miesepeter zugeschoben haben, bis beide Seiten bereitwillig ihre Truppen in die Schützengräben geschickt haben. Vielmehr ist es heute ein Feldzug einer Kolonialmacht gegen seine ehemalige Kolonie mit dem offensichtlichen Ziel einer Besatzungsdiktatur und offener Gewaltherrschaft. Wieso dieser Besatzungskrieg gestoppt werden muss, liegt auf der Hand.

Der mitunter kursierende Vorwurf, Nationalisten in der Ukraine würden die Spaltung des Landes vorantreiben, ist spätestens seit der Besatzung und angesichts des massiven Widerstands in der gesamten Ukraine schlicht anachronistisch und hilft nicht weiter.

Die schon früher verkürzten Kategorien von prorussisch und prowestlich in der Ukraine als Kategorien zur Beschreibung vermeintlich relevanter Bevölkerungsteile in der Ukraine sind schlicht zerstört und haben keine Erklärungskraft mehr. Sogar die russischsprachige Bevölkerung ist fassungslos ob des Invasionskriegs und hat absolut jedes Bedürfnis nach Russlandanbindung verloren – von Ausnahmen wie der Krim abgesehen, von der aber ohnehin niemand und wohl inzwischen nicht mal mehr die ukrainische Regierung erwartet, dass sie wieder Teil des ukrainischen Staates würde.

Für uns Linke gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das ukrainische Volk wurde in den letzten hundert Jahren wie kaum ein anderes Volk in Europa geteilt, im Holodomor ausgehungert, im Nazifeldzug zu Millionen vernichtet, mit unaufgearbeitetem antislawistischem Rassismus behandelt und bis heute als eines der ärmsten Länder Europas einfach ignoriert. Der massive Widerstand der Ukrainer (sogar linker, liberaler und genuin russischsprachiger Teile der Bevölkerung, sogar in Zentral- und Ostukraine) belegt gerade eindrücklich, dass die Ukrainer ihre Entscheidung gegen eine enge Russlandanbindung sehr deutlich getroffen haben. In voller Gänze und überwältigender Mehrheit wird sich das erst nach einem gewonnenen Krieg zeigen, wenn Umfragen oder Volksabstimmungen erst einmal vollzogen werden. Russland nach der kolonialen Geschichte gegenüber der Ukraine und dem jetzigen Invasionskrieg jetzt ein „berechtigtes Sicherheitsinteresse“ zuzugestehen, welches auf Kosten der Selbstbestimmung der historisch kolonial unterdrückten Ukraine geht und russischen Großmachtsansprüchen sich unterordnet ist schlicht keine linke Position. Insofern überhaupt mit dem Begriff des Sicherheitsinteresses hantiert werden soll, darf dieser nicht ungleich gewichtet werden und das historisch gewachsene imperialistisch-koloniale und aggressive Verhältnis von Russland gegenüber der Ukraine legitimieren. Vielmehr muss zumindest und zuvörderst das bisher kolonialgeschichtlich stets negierte und in westlich-linken Diskursen bisher kaum berücksichtigte ukrainische Sicherheitsinteresse ernst genommen werden. Eine auch militärische Integration Russlands in den Westen wäre zwar ein wünschenswert, ist jedoch kaum mehr wahrscheinlich und angesichts der proaktiven russischen Militärpolitik kaum Hauptaugenmerk einer ernsthaften linken Position. 

Die Hauptangst vieler Linker im Westen ist bisher, dass wir unseren „eigenen“ Block unterstützen würden, wenn wir zum Beispiel härtere Sanktionen fordern würdenz.B. auch Rohstoffimporte einzustellen. Es ist doch bemerkenswert, dass auch manche westliche Linke vielfach vom neuen kalten Krieg sprechen und damit die Regierungserzählung reproduzieren, wonach die Bande zu Russland quasi schon gekappt wären. Entscheidende wirtschaftliche Beziehungen zwischen Russland und westlichen Kernplayern wie Deutschland und den USA dauern fort, als würde gerade nicht der größte Besatzungskrieg in Europa seit dem zweiten Weltkrieg stattfinden.

Vielmehr hilft zum Verständnis des Regimes Putin weiter die wirtschaftliche Rolle Russlands im weltweiten Akkumulationsregime zu verstehen. Putin als Lenker einer 

wirtschaftlich relativ absteigenden Großmacht erfüllt für den Westen trotz der Konkurrenz auch eine durchaus profitable Rolle. Wenn auch mit eigener Großmachtsagenda, die er spätestens seit 2014 durch zunehmend rohe Gewalt durchsetzt.

Russische Rohstoffe werden massiv weiterhin geliefert, damit die westliche Wertschöpfung weiterhin auf Hochtouren läuft und westliche innenpolitische Stabilität hier nicht gefährdet wird durch hohe Preise von Gas (v.a. in Deutschland), Öl (v.a. in den USA) und all den vielen weiteren Exportrohstoffen Russlands. Putins Regime erfüllt für die weltweite westlich dominierte Kapitalakkumulation die Rolle, stabil und unterm Strich günstig Rohstoffe zu liefern und durch die jahrzehntelange Repression jeglicher Opposition auch für den Westen hochprofitable Bedingungen zu bieten. Selbstverständlich ist naheliegend, dass Russlands wohl derzeit zunehmende Orientierung nach China stimmen mag. Jedoch auf Kosten des ukrainischen Volkes derzeit diese China-Orientierung wegen Angst vor Autoritarismus zu verhindern, wie teils aus der Linken gefordert, indem aus Deutschland nur suboptimaler wirtschaftlicher Druck ausgeübt wird, wäre für das ukrainische Volk und die moralische Integrität der Linken ein Bärendienst.

Das Thema Sanktionen wird zu Recht in der Linken mit großer Ernsthaftigkeit bedacht. Dabei muss zwischen Ziel, Zeitpunkt und durchsetzendem Akteur unterschieden werden.  Dass Sanktionen meistens von imperialen Mächten zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen eingeführt, v.a. gegen kleine Länder angewandt werden und blutige Folgen haben, ist kaum zu bestreiten. So ist haben die 12 Jahre langen Sanktionen gegen das abtrünnige und tatsächlich grausame Regime Husseins den Irak grausam ausgehungert, was absolut unverzeihlich ist. Als Beispiel gegen die Nützlichkeit von Sanktionen gegen den Stopp eines Invasionskrieges können die Irak-Sanktionen dennoch nicht gelten, da der Krieg schon militärisch durch Eingreifen vieler Großmächte entschieden wurde und die Sanktionen nur barbarisches Bestrafungs- und Disziplinierungsmittel waren, das kaum überraschenderweise den Haupthass auf den Westen kanalisiert hat. Gleichwohl haben die Sanktionen gegen Südafrika eine nützliche Rolle beim Fall der Apartheid gespielt. Diese Sanktionen kamen aber nicht von ungefähr, sondern waren zunächst jahrelang u.a. von den USA mit Vetos gestoppt worden, wurden z.B. von der Bundesregierung nicht befürwortet und von Schweizer Banken sogar nach deren Einführung regelmäßig ignoriert. Hervorgegangen sind sie erst aus dem enormen Druck der internationalen Anti-Apartheids-Bewegung, die den Druck auf ihre eigenen Regierung hochgehalten hat.

Grundsätzlich gilt: Invasionen sind immer enorm ressourcenaufreibend. Gerade wechselseitige Abhängigkeitsbeziehungen des Invasionsstaates zu anderen Staaten führen für gewöhnlich dazu, dass in der Invasionsplanung mit keinesfalls sofortigen Maximalsanktionen wie Gasembargos zu rechnen ist. Eben dieser Umstand lässt sich ausnutzen: Wie der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung mit täglich hunderten gefallenen russischen Soldaten deren Mütter wie schon 1989 in der afghanischen Besatzung in Protestwut versetzen wird, so können auch Sanktionen, die unerwartet– weil von unten im wirtschaftlichen Partnerland durchgesetzt – hart ins Herz der Ökonomie des Invasionslandes fallen, und damit die innenpolitische Stabilität des Invasors weiter und unerwartet schnell gefährden. Dazu kommt noch, dass der gesamte Kriegsverlauf bisher viel schwieriger für die russischen Truppen war als geplant und Oligarchen schon erste Kritik äußern. 

Das heißt: Eine Kalkulation, die heute noch aufgegangen ist, kann morgen schon für den Invasor untragbar werden, sodass der Invasor seine Truppen zurückzieht. Wie sowohl verschiedene Invasionen Afghanistans als auch die des Iraks gezeigt haben, sind sie zudem für die Besatzungsmacht oft nicht von Erfolg gekrönt. Jedoch diesen Misserfolg der Besatzungen zu beschleunigen oder gegebenenfalls das Zünglein an der Waage im ukrainischen und russischen Widerstand zu sein – darum geht es. Sanktionen sollten wir insgesamt also nicht anders angehen, wie all Jenes, was wir auch im Rahmen des bürgerlichen Staates gegen dessen hegemonialen Block durchzusetzen versuchen. 

Ob Sanktionen gut oder schlecht sind, hängt also davon ab, mit welchem Ziel und entsprechend auch wie lange sie eingerichtet sind, ob sie im Interesse der Herrschenden eingesetzt werden oder von unten gegen diese erkämpft werden. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt auch (wieder) bekämpft werden. Das heißt, ob sie zum Regime Change als Selbstzweck angewandt werden, obwohl schon lange keine zermürbende Besatzung mehr vorliegt und der Ansatz offensichtlich eher kontraproduktiv ist. Oder, ob Sanktionen während eines Invasionskrieges – durch die Tirade von Destabilisierung, Protest, Spaltung und Intrigen in der Elite bis hin zum Coup oder zur Revolution – einen Truppenabzug befördert.

Die bisherige Sanktionspolitik der Halbherzigkeit ist vor diesem Hintergrund kaum überraschenderweise Ausdruck eben dieser bisherigen Partnerschaft.

Die Sanktionen gegen die russische Zentralbank schienen auf den ersten Blick durchaus innovativ. Sie hatte für einen Tag wirklich erste Instabilitäten erzeugt, indem sie den Rubel haben abstürzen lassen und die russischen Großbanken einen Bankrun nur durch Abhebesperre verhindern konnten. Die russische Zentralbank konnte durch ihren Konter den Kurs zumindest teilweise stabilisieren: Indem sie russische Exportunternehmen angewiesen hat, ihre in USD und EUR ausgezahlten Deviseneinnahmen zu 80% gegenüber dem Rubel anzubieten hat sie die Nachfrage nach Rubel steigert und Angebot an Fremdwährung gesenkt. Die Achillesferse von Sanktionspolitik, der bisherige Trumpf der russischen Politik und umgekehrt das Potenzial zum Durchbruch liegen also in den unmittelbaren Rohstoffsanktionen. Aber hier kommt das übergeordnete Akkumulationsregime wieder ins Spiel – bisher scheint kaum absehbar, dass die Regierungen des Westens das ohne Druck von unten schnell, wenn überhaupt in absehbarer Zeit, durchsetzen werden. Wenngleich die Zentralbanksanktionen wohl trotz allem erste Wirkungen entfaltet haben, scheint der Vormarsch russischer Truppen gegen den ukrainischen Widerstand bisher trotz allem zu schnell, als dass der russische Widerstand gegen die massive Repression schnell genug ankäme. Zeit ist also entscheidend. Solange wir in Deutschland das moralische Momentum gegen den Putinschen Feldzug nicht in ein umfassenderes Rohstoffembargo lenken, desto besser wird die Bundesregierung ihre Aufrüstungskampagne unter Krokodilstränen über die ukrainische Bevölkerung weiterführen können.

Ergo: Putin ist immer noch sowohl Partner als auch Konkurrent. In wirtschaftlicher Hinsicht war Russland die letzten Jahre in erster Linie Partner, was schon seit dem Zerfall der Sowjetunion durch die eingeflogenen Wirtschaftsberater der Friedman-Schule auch kaum anders geplant war, die das Land maximal auf Ressourcenextraktivismus ohne eigenes wirtschaftliches Vorherrschaftsprojekt zusammengetrimmt haben. Natürlich kann dem Putinregime dennoch keineswegs eine eigene Handlungsmacht abgesprochen werden, wie es sehr deutlich demonstriert hat. Die Aggressionen der letzten Jahre waren bisher für das weltweite wirtschaftliche Akkumulationsregime kaum entscheidend ins Gewicht gefallen und das wird sich in den nächsten Wochen auch nicht von heute auf morgen ändern. Trotz aller Lippenbekundungen und auch tatsächlichen, langfristig angelegten Beschleunigungen wirtschaftlicher und militärischer Umstrukturierungsmaßnahmen im Westen der letzten Tage wird der Bedarf an Ressourcen für den Westen kurzfristig überwiegen. Die russischen Konzerne und Putin ihrerseits werden ihre Rohstoffe gen Westen verkaufen wollen – ganz egal, ob Putin den Krieg gewinnt oder nicht. China wird in den nächsten Monaten, nicht mal in den nächsten Jahren die gesamte Nachfrage des Westens kompensieren können. Die inzwischen nur noch 5%-igen Wachstumsraten Chinas reichen bei Weitem nicht, um plötzlich Exporteinbrüche im Wert von hunderten Milliarden Dollar aus dem Nichts zu kompensieren. Sogar wenn China einige Anteile abkaufen würde, wäre ein massiver Abschlag im Preis vorprogrammiert. Insgesamt dürften wir im Westen eine peinliche, verwerfliche und orwellsche Politik fortdauern sehen.  Militärische Drohgebärden, Aufrüstung und zwar stärkere, aber doch begrenzte Sanktionen werden mit wirtschaftlicher Kooperation in allen Kernbereichen der Ökonomie kombiniert. Ein Schlaraffenland für jeden größeren bürgerlichen Regierungs- oder Konzernchef weltweit.

Hingegen gilt: Umfassende Rohstoff-Sanktionen könnten Zentralbanksanktionen erst zur Wirkungsmacht verhelfen und eröffnen also ein ganz neues Potenzial gegen den putinistischen Feldzug. Dass nebenbei die westlich dominierte, weltweite Wertschöpfungs-Ordnung, die Putin immer noch wirtschaftlich integriert hält, getroffen wird, sollte uns als Linke nicht verunsichern. Immerhin kam Putin erst als Stabilisator der Folgen der vom Westen durchgesetzten Schockdoktrin der 90er überhaupt zur Macht.

Die hiesige Linke plagt derzeit ein weiterer Punkt: Ist Russland nicht aber doch eher Gegner westlicher Staaten und Supermacht wegen seiner Atomwaffen? Und droht nicht durch ökonomische Eskalationen potenziell ein Weltkriegsszenario oder weitere Invasionen? Der Supermachtstatus entspringt nicht aus Atombomben, sonst wäre auch Nordkorea eine Supermacht. Ein Weltkriegsszenario droht nur insofern Putin sich auch selbst vernichten will – was abwegig ist. Die teils verbreitete Angst vor einer nuklearen Apokalypse ist ein vielleicht nachvollziehbarer, aber dadurch nicht besserer Indikator dafür, dass vielerorts im Westen doch eher über die eigene Gefahr nachgedacht wird, anstatt sich zu überlegen, ob es nicht vielleicht doch Potenziale gibt, die akute und zunehmend ohne jegliche Rücksicht auf Zivilisten geführte Besatzungsinvasion zu stoppen. Eine Invasion anderer postsowjetischerLänder ist kaum zu erwarten, da die zentralasiatischen Republiken loyal regiert und das Baltikum mit US-Raketen ausgestattetes Nato-Mitglied ist. Eine Invasion in das kulturell und logistisch stark westintegrierte Finnland wäre das Anfang vom Ende des russischen Regimes – der zermürbende Kriegsverlauf in der Ukraine drohte sich zu wiederholen und eine stabile Besatzungsmacht wäre kaum denkbar. Ganz zu schweigen davon, dass die jetzige russische Operation ganz offensichtlich keineswegs läuft wie erwartet und die russische Armee sogar jetzt schon zentralasiatische Armeen zur Unterstützung hinzuziehen muss. Selbstverständlich kann dennoch niemand vorhersehen, ob Putin nicht zumindest doch überraschende neue Kriege beginnt.  Aber anstatt eher abwegige Kriegsszenarien in der ganzen Welt herbei zu fantasieren, sollten wir nicht vergessen, dass gerade 40 Mio Menschen mit aus jahrehundertelangen Unterdrückungserfahrungen entsprungener Nationalidentität unter Besatzung stehen. 

Insgesamt ist also das nukleare Arsenal Russlands weniger eine Bedrohung an sich, sondern in Kombination mit dem Ressourcenreichtum die perfekte Garantie des russischen Regimes gegenüber der westlichen Welt, sich militärische Aggressionen gegenüber kleineren Nationen zu erlauben, um sich innenpolitisch, geopolitisch und schlussendlich auch wirtschaftlich zu stärken. Der Westen will sicherlich die zumindest softpower-basierte Vorherrschaft über Regionen, die vom russischen Regime invadiert werden, nicht gerne hinnehmen. Dennoch können westliche Regierungen, wenn sie dem Treiben mal wieder nur zuschauen, bisher bequem immer wieder auf die Nuklearwaffen Russlands verweisen und damit legitimieren, dass eben weiterhin Rohstoffe auch von genau diesem Regime gekauft werden müssen, weil es ein anderes dort erst mal nicht geben wird.

Wie steht es nun um das Handlungspotenzial der westlichen, insbesondere deutschen Linken? Hat die westliche Linke eine Möglichkeit, die Besatzung zu schwächen? Und welche Wirkungen ließen maximale Sanktionen ins Herz der Bestie, dem durch wirtschaftlich-innenpolitische Stabilität selbst stabilen Regime Putin, erwarten?

Um die Möglichkeiten zu veranschaulichen, seien drei mögliche Szenarien veranschaulicht:

Szenario 1: Die russische Armee gewinnt den Besatzungskrieg. Eine Besatzungs-Diktatur mit massiver Repression gegen wütende ukrainische Bevölkerung wäre die Folge. Ein riesiges Volk unter Besatzung ohne politische Organisierungsrechte als lebendiges Laboratorium für die Putinsche und weltweite politische Rechte.

Szenario 2: Ein anderes Szenario ist, dass die russische Armee weiter und leider einen langen, zermürbenden Krieg führen wird und am Ende dennoch abziehen muss, weil die Kriegskosten doch zu hoch werden. Materieller Armeeverschleiß paar sich mit innenpolitischen Problemen durch stetig wachsende Gefallenenzahlen und ggf. sanktionsbedingt erzeugte wirtschaftliche Probleme. Ein Sieg für das ukrainische Selbstbestimmungsrecht, zumindest Rudimente politischer Organisierungsfreiheiten in der Ukraine und eine Schwächung für das russische Regime. Die Gefahr, dass ein sich abzeichnendes Szenario 2 (Siegesszenario) doch zu Szenario 1 (Besatzungsszenario) wird, ist leider immer gegeben in den Wirren des Krieges, der seinem Grundcharakter gemäß nie komplett vorhersehbar ist.

Szenario 3: Eine moralisch integere Bewegung in westlichen Ländern – allem voran in Deutschland als Kernland ökonomischer Wirtschaftsbeziehungen mit Russland – erkämpft von unten und gegen die Kollaboration der Regierung mit dem russischen Regime massive Sanktionen ins Herz dieser brutalen Bestie der weltweiten Wertschöpfungsordnung. Ukrainisch starker Widerstand militärischer und nicht-militärischer Art gegen die Besatzung, fortwährend unterschätzte Schwäche und Demoralisierung russischer Truppen kommen noch hinzu. Insgesamt wird die vom russischen Regime einkalkulierte Wirtschaftspartnerschaft mit dem Westen so unerwartet früh beendet. Die russische Wirtschaft würde durch Gas-, Öl-und sonstigen Rohstoff-Einkaufsstopp getroffen, Zentralbanksanktionen würden ihre Wirkung erst vollends entfalten, die Währung würde abwerten. Während mit 60% der weltweiten Weizenproduktion keine Nahrungsmittelengpässe zu erwarten wären (im Gegensatz zur Ukraine mit fortdauerndem Krieg), würde die russische Bevölkerung würde sich zum offensichtlichen Ausnahmezustand verhalten und das bisherige mehrheitliche Trittbrettfahrerverhalten hätte zumindest eine Chance darauf, durchbrochen zu werden. Die allgemeine Instabilität würde Putin mitten ins Herz seiner Machtbasis treffen: Stabilität. Sowohl die Bevölkerung als auch die Oligarchen unterstützen Putin bisher mehrheitlich, da er nach den traumatisierenden 90er Jahre für Stabilität sorgen konnte. Eine Polarisierung in der Bevölkerung hieße zwar ggf. auch die Verfestigung der passiven Zustimmung propagandagläubiger Teile der Bevölkerung, aber auch die schon laufenden Proteste anderer Teile der Bevölkerung dürften zunehmen, die sich im Trubel der Instabilität eher trauen dürften, ihren Unmut zu zeigen als in der jetzigen stabilen Situation. Innenpolitische Instabilität wäre für führende Oligarchen Russlands sowohl grundsätzlich unerwünscht als auch ein Punkt der Legitimation bis hin zur Notwendigkeit der Entledigung von Putin als Machthaber. Kurzfristige Intrigen gegen Putin, gesichtswahrende Verantwortungsabwälzung auf Putin für den verlorenen Krieg und die Installation eines weniger aggressiven russischen Machthabers könnten die Folge sein. Auch ohne Putins Sturz würde die Instabilisierung eine ernsthafte Nutzenabwägung Putins bestärken. Die verschärfte Abschottung wegen Aufrechterhaltung der Invasion stünde gegen das stabilitätsversprechende Invasionsende, welches schnell als attraktiver erscheinen könnte. Ohnehin hat Putin gute Gelegenheiten, auch die ukrainische Abtretung von beispielsweise lediglich dem Donbass halbwegs gesichtswahrend als Erfolg zu verbuchen und wieder gestärkten Rückhalt unter den Oligarchen zu haben. Dieses Szenario ließe sich selbstredend auch radikaler in Richtung eines Sturzes der repressiven, oligarchischen Regimes denken, was jedoch weder für den Stopp des Angriffskriegs notwendiges Szenario noch unmittelbar wahrscheinliches Szenario wäre. Dennoch würden radikaldemokratische, linke und revolutionäre Kräfte durch die Instabilität im Vergleich zum jetzigen repressiven und täglich noch organisationsfeindlicheren Zustand eher nur profitieren können von einem solchen Szenario.

Es gibt also Vieles zu tun für die westliche Linke. Mit dem Kampf um maximale Wirtschaftssanktionen insbesondere im Rohstoffsektor gegen die russische Wirtschaft können wir den Auftakt einer sehr konkreten Anti-Aufrüstungsbewegung legen und damit das bitter notwendige Revival einer Friedensbewegung testen. Die ersten Annäherungen an eine schlagkräftige Positionierung der Linken dürfte sicherlich kaum irreversibel, sondern vielmehr weiterentwicklungsfähig sein, da in Deutschland im Taumel der ersten Kriegstage wohl unsere 5%-Partei kaum zu allen durchgedrungen sein dürfte und wohl niemand ein perfektes Sofortprogramm gegen eine solche unfassbare Invasion erwartet hat. Umso mehr gilt es jetzt aber, die Potenziale einer konsequenten Entlarvung der Regierung und ein Nützlichwerden gegen den Krieg auszuschöpfen, die sich vor allem mit dem insofern selten dämlich getimten 100 Mrd-Aufrüstungsprogramm als besonders groß erweisen dürften.

Es geht also um eine Bewegung, die der militärischen Zockerei zwischen den dominanten, imperialistischen Kern-Ländern der westlich dominierten Weltordnung mit Russland und Co wirklich etwas entgegenzusetzen vermag.