Zum Angriff auf die Ukraine

Gastbeitrag von Rolf Schümer

Zunächst das Wichtigste: Wir alle stimmen überein in der Überzeugung, dass wir für Frieden und Abrüstung eintreten, uns imperialistischen Kriegen und ihrer Vorbereitung entgegenstellen und so auch die russische Aggression auf das Schärfste verurteilen. Aber diese Grundhaltung allein reicht nicht aus, um in der aktuellen Situation klare Positionen zu beziehen.

Wie sieht die gesamte internationale Lage aus?
In einer Zeit knapper werdender Ressourcen durch fortgesetzten Raubbau und den zunehmenden Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel verschärfen sich die Widersprüche und die Konkurrenz zwischen imperialistischen Staaten, die die aggressivsten von ihnen auch mit kriegerischen Mitteln lösen wollen. Es war deutsche Imperialismus, der mehrfach diese Rolle spielte. Von 1945 bis 2014 waren es die USA. Heute heißt der gefährlichste und aggressivste Imperialist Russland, morgen kann es China sein.
Für viele von uns eine bittere Erkenntnis. Viele haben gehofft, sich gewünscht oder geglaubt, dass ein Land wie Russland, das mit Millionen Toten die Hauptlast bei der Zerschlagung des Hitlerfaschismus trug, niemals zu einem Aggressor werden würde.
Und noch etwas gehört zur bitteren Erkenntnis:
Russlands Politik hat nichts mehr mit einem antifaschistischen Kampf zu tun, im Gegenteil seine Führung unterstützt und finanziert Rechtspopulisten und Neonazis in vielen Ländern. Und in keinem anderen europäischen Land klafft die Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinander, gibt es mehr soziale Ungerechtigkeit als in Russland. Auch die staatlichen Repressionen gegen Andersdenkende belegen den europäischen Spitzenplatz.
Die Durchsetzung imperialistischer und geostrategischer Interessen von den Herrschenden in kapitalistischen Ländern stimmen niemals mit den Interessen der Völker überein. Als Internationalisten treten wir imperialistischer Politik entgegen, ganz gleich, ob sie von Russland, China, den USA oder der EU betrieben wird. Es gilt der Satz von Karl Liebknecht: Der Hauptfeind steht im eigenen Land.
Wenn ein Volk, wie jetzt das der Ukraine, Opfer eines imperialistischen Überfalls wird, dann stehen wir solidarisch auf seiner Seite, dann muss das Blutvergießen so schnell wie möglich beendet, als erster Schritt ein umfassender Waffenstillstand vereinbart werden. Die Erzwingung eines Waffenstillstandes ist nur möglich, wenn der Aggressor seine Ziele nicht verwirklichen kann und daher muss er maximal geschwächt werden. Dem Waffenstillstand würden keine Friedensverhandlungen, sondern ein langwieriger Guerillakrieg folgen, wenn die Ukraine komplett besetzt wäre und nicht als souveräner Verhandlungspartner am Tisch sitzen kann. Um das zu verhindern, reichen Sanktionen nicht aus, die nur die russische Führung und die Oligarchen treffen. Viele Beispiele in der Geschichte zeigen, dass eine Bevölkerung, die zunehmend unter den Kriegslasten leidet, sich gegen die jeweilige Regierung stellt.

Lesen wir die aktuellen Stellungnahmen von linken Parteien und Organisationen aus Lateinamerika, so fällt auf, dass hier viel öfter auf die Mitverantwortung von USA und Nato an der entstandenen Lage hingewiesen wird als in Stellungnahmen der Linken in osteuropäischen Staaten. Das ist auch nicht verwunderlich. Während die einen mehrfach erleben mussten, wie sich die USA mit Organisieren von Militärputschen und offenen Interventionen gegen die Interessen der lateinamerikanischen Völker stellten, ihre Länder als den eigenen Hinterhof einstuften, fühlen sich in Osteuropa, auch wegen historischer Erfahrungen, die Menschen von russischem Großmachtstreben bedroht.

Die Mitgliedschaft in der Nato als Schutz davor zu verstehen, ist in der aktuellen Lage ebenso verständlich wie verhängnisvoll. Niemand ist als Spielball geostrategischer Interessen auf Dauer sicher, weil sie mit Aufrüstung und Militarisierung künftige Kriegsgefahren beinhalten. Unsere Position zur Auflösung sämtlicher Militärbündnisse bleibt richtig, dauerhaften Frieden kann es nur in einer entmilitarisierten Welt geben. Auf dem Weg dahin können Schritte durchgesetzt werden, die uns diesem Ziel näher bringen. Zum Beispiel ein Verbot der Stationierung von Soldaten und Waffen außerhalb des eigenen Landes, was weltweit die Abschaffung aller Militärstützpunkte zur Folge hätte, egal von welchen Staat oder Bündnis sie betrieben werden.
Auch eine dauerhafte und friedliche Lösung des aktuellen Konfliktes sollte so aussehen, dass es für alle Seiten schwieriger wird, geostrategische Ziele in Europa durchzusetzen, indem nicht weniger, sondern mehr Staaten sich der Neutralität verpflichten. Dabei kann die Ukraine den Anfang machen. Wie sich das im Einzelnen gestaltet, ist Aufgabe und Inhalt der hoffentlich baldigen Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland.
Die Ukraine hat eine bürgerlich-demokratische Regierung, der auch Rechtsextremisten angehören. Das ist leider so, aber das macht aus der Ukraine keinen faschistischen Staat. Den Einfluss von Nazis und Nationalisten zurückzudrängen, die rechtsradikalen Verbände wie das Asow-Bataillon aufzulösen, das muss das Ziel der Linkskräfte in der Ukraine sein, wenn wieder Frieden herrscht und dabei haben sie unsere uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung.
In der aktuellen Lage, im Widerstand gegen den Aggressor, sind solche Forderungen schwer umzusetzen. So richtig wie es ist, das Vorhandensein solcher faschistischen Kräfte ist zu benennen und zu verurteilen, es darf aber nicht zur unkritischen Übernahme russischer Propaganda führen oder so wahrgenommen werden können. Auch in der aktuellen Lage den Schwerpunkt auf die Mitschuld der Nato zu legen, würden viele in der Friedensbewegung als Verharmlosung der russischen Aggression oder sogar als indirektes Partei ergreifen für Putin missverstehen und wir uns isolieren.
Es solidarisieren sich Millionen Menschen in der ganzen Welt mit dem Verteidigungskampf des ukrainischen Volkes. Die Bourgeoisie versucht daraus Kapital zu schlagen, indem sie diesen Kampf zu einer Auseinandersetzung zwischen „Freiheit und Demokratie“ auf der einen Seite und „Autokratie und Diktatur“ auf der anderen darstellt. So will sie die Zustimmung einer Bevölkerungsmehrheit für Militarisierung der EU und beschleunigte Aufrüstung erreichen. Es liegt auch uns, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Denn in der Folge eines neuen Wettrüstens zwischen imperialistischen Staaten wächst nicht nur die weitere Vergeudung von Rohstoffen und Energie, sondern auch die Gefahr eines nuklearen Weltkrieges.
Alte und neue Kalte Krieger sprechen von einer „Zeitenwende“, die gar keine ist. Es handelt sich nur eine beschleunigte und offenere Fortsetzung der alten Politik als Teil des Nato-Bündnisses.
Und wer stärker an die Öffentlichkeit tritt, sind die Befürworter einer hochgerüsteten EU, die in der Lage wäre, Kriege zu führen, auch ohne Unterstützung durch die USA. Sie repräsentieren den aggressivsten Teil des europäischen Kapitals, das von einer eigenen Geostrategie und ihrer Durchsetzung träumt.

Was die Folgen der Sanktionen gegen Russland für die Bevölkerung Europas und anderer Kontinente betrifft, da fordern wir soziale Gerechtigkeit, es dürfen nicht die Ärmsten die Zeche zahlen, weder im eigenen Land noch anderswo. Wer viel hat, kann auch viel abgeben. Das gilt auch für die Auswirkungen von Importstopps von russischem Gas, Öl oder Kohle.
Wir fordern, die notwendigen Maßnahmen bei Klima- und Umweltschutz zu beschleunigen, dafür die 100 Milliarden zu verwenden anstatt für Aufrüstung.
Anstatt Kohlekraftwerke länger laufen lassen zu wollen oder Atomkraftwerke wieder in Betrieb nehmen zu wollen, müssen die erneuerbaren Energien schneller entwickelt werden.
Wenn trotzdem Energieeinsparungen erforderlich sind, was wahrscheinlich ist, dann sollten als erstes die Rüstungskonzerne ihre Produktion einstellen und dann die Betriebe, die nicht nachhaltig und ökologisch produzieren, solche, die Waren herstellen, die keine echten Bedürfnisse befriedigen oder auf der Ausbeutung von Menschen, Rohstoffen und Natur in anderen Kontinenten basieren.
Es wäre auch der Zeitpunkt für eine Verkehrswende, die die Zulassung von Kraftfahrzeugen für den Individualverkehr deutlich herunterfährt, den öffentlichen Nahverkehr zum Nulltarif ausbaut, nicht einen einzigen weiteren Autobahnkilometer realisiert.

Wir müssen zu denjenigen gehören, die eine wirkliche Zeitenwende definieren:
Zu einer dauerhaften und weltweiten Friedensordnung gehört ein Wirtschaftssystem, das unserem Planeten nur so viele Rohstoffe entnimmt, die Natur nur so weit belastet, wie die Erde selbst regenerieren kann. Ob wir das als Abschaffung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse so benennen oder nicht, es ergibt sich aus der Notwendigkeit, den Weg des Wachstumswahn zu verlassen und klimaneutrale und sozial gerechte Alternativen durchzusetzen. Der dafür zur Verfügung stehende Zeitraum ist klein. Die wichtigsten Kippelemente werden in den nächsten zehn Jahren überschritten. Auch das verlangt neue Überlegungen für unser Handeln. Die wichtigste Frage dabei lautet: Wie können wir beitragen, im Bündnis mit welchen Kräften, eine sogenannte kritische Masse in der Gesellschaft in diesem Zeitraum zu bilden, die in der Lage ist, „die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen“(Karl Marx).

Für viele der innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten gibt es Ursachen, die sehr lange zurückliegen und es wird auch Zeit brauchen diese Differenzen zu überwinden, weil dazu viele geduldige Debatten nötig sind und nicht das Fordern den Ausschlusses des jeweils anderen oder seine öffentlichen Ausgrenzung.

Wir brauchen eine Taktik und Strategie, durch die wir nicht nur als sich in den grundsätzlichen Fragen einige Partei wahrgenommen werden. Dazu brauchen wir neue politische Projekte, die der politischen Landschaft und Auseinandersetzung im Land emanzipatorischen Auftrieb geben.