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Regieren ist noch keine »Machtoption«

Eine Antwort auf Katjas Kippings Vorschlag »Das Warnsignal ernst nehmen«

Katja Kipping hat als Parteivorsitzende das schlechte Wahlergebnis der LINKEN bei den EU-Wahlen zum Anlass genommen, um in einer Erklärung für »Regierungsmehrheiten links der Union« zu werben. Wenn die LINKE als irrelevant erachtet wird, verliere sie; wenn sie hingegen – wie bei der Bremer Bürgerschaftswahl – bereit sei, ihr Programm in einer Regierung umzusetzen, sähen die Wähler*innen den Nutzen. Auch wenn der Begriff im Text nicht auftaucht, steht dahinter das alte Argument, dass die LINKE »eine Machtoption« benötige.

Ich will versuchen, diesen Vorstoß so aufzugreifen, dass wir nicht in den sterilen Debattenstil verfallen, der für die LINKE so typisch ist, und regelmäßig in Verrats- bzw. Sektierervorwürfen mündet.

Als Bewegungslinke sind wir mit einer Kipping einer Meinung, dass es einen ermutigenden Stimmungsumschwung in der Gesellschaft gibt. Nach Jahren rechter Hetze stehen Klimaschutz, bezahlbare Mieten und Vergesellschaftung im Mittelpunkt der Debatte. Und es ist auch richtig, dass die LINKE diese Aufbrüche viel aktiver zum Ausgangspunkt ihrer Politik machen sollte: Mieter*innen-Bewegung, Seebrücke, Fridays for Future, die Streiks bei RyanAir oder Amazon … – das ist die Kraft, die Solidarität sichtbar macht und etwas verändert. Anstatt lähmende innerparteiliche Schlachten auszutragen, bei denen es letztlich doch nur um die Profilierung einzelner geht, müssen wir solche Bewegungen mit aufbauen und unterstützen.

Sehnsucht nach Mitte-Links

Kipping zieht daraus den Schluss, dass die LINKE nun an neuen politischen Mehrheiten arbeiten müsse, damit aus »linken Ideen auch linke Lösungen« würden. Man könnte das jetzt leicht mit dem Hinweis abtun, dass sich hier wieder mal jemand nach einem Regierungsposten sehnt, aber hinter dem Vorschlag steckt auch eine Überlegung, die sich nicht einfach vom Tisch wischen lässt: Soziale Bewegungen und Kämpfe brauchen konkrete Erfolge, wenn andere zur Nachahmung angeregt werden sollen. Und tatsächlich sehnen sich in den Bewegungen viele nach einer Mitte-Links-Regierung, die die extreme Rechte stoppt, den Klimaschutz vorantreibt und etwas gegen die soziale Ungleichheit macht. Besteht die Aufgabe einer linken Partei nicht per Definition darin, so eine Regierung auf den Weg zu bringen?
Vor einer Antwort müsste man sich aber auch die Gegenfrage stellen: Sind Regierungsbeteiligungen wirklich eine »Machtoption«? Zeigen unsere Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit nicht eher das Gegenteil, dass die Linke nämlich an der Regierung sein kann und trotzdem nichts zu melden hat?

Die Ohnmacht linken Regierens

Seit den 1980er Jahren haben wir immer wieder erlebt, wie linke Regierungen rechte Reformen umgesetzt haben. New Labour zementierte den Sieg des Neoliberalismus in Großbritannien und schwächte die Gewerkschaften weiter. Die rot-grüne Koalition in Deutschland machte das, was sich die Union nicht getraut hatte: Hartz IV, Teilprivatisierung der Rentenkasse, Beteiligung an NATO-Angriffskriegen … Und auch die von uns allen mit so großer Hoffnung begleitete Syriza-Regierung in Griechenland beweist doch vor allem die Ohnmacht linken Regierens. Syriza hat die Sparmaßnahmen der Troika umgesetzt, Gemeineigentum privatisiert und die sozialen Bewegungen demobilisiert. Der Weg in die Regierung war das genaue Gegenteil einer »Machtoption«.

Woran liegt das? Nicht in erster Linie an »Verrat« oder »den falschen Leuten«. Aus den Landesregierungen mit Beteiligung der LINKEN, wissen wir doch, wie es läuft. Die Berliner PDS stimmte dem Verkauf von 140.000 Wohnungen aus kommunaler Hand zu. Die Alternative wäre gewesen, die von der CDU hinterlassenen Schulden nicht zu bezahlen und einen schweren Konflikt mit der Bundesregierung und dem Finanzkapital zu provozieren.

Der Fall zeigt deutlich, dass nicht die »politischen Mehrheiten«, sondern erst die Veränderung von Kräfteverhältnissen und die Kampfbereitschaft von Linken in und außerhalb der Institutionen zu einem Politikwechsel führen.

Ohne eine Mobilisierung, die stark genug ist, einen ähnlich großen Druck aufzubauen, wie ihn die Medien, Großkonzerne und Kapitalfonds auf die Regierenden ausüben, gibt es keine Reformperspektive.

Die linke Machtressource sind soziale Kämpfe

Zu sagen, was ist, gehört bekanntlich zu den wichtigeren Aufgaben von Linken. Eine dieser Wahrheiten, die viel öfter gesagt werden müssten, ist, dass die Linke eine völlig andere Ausgangsposition als bürgerliche Parteien hat: Erstens weil sie nicht nur das Bestehende verwalten, sondern strukturell etwas verändern will.

Und zweitens, weil sie nicht über dieselben Machtinstrumente verfügt: keine Konzernspenden, keine eigenen Medien mit Massenreichweite, keine Verankerung in der Verwaltung und in den staatlichen Gewaltapparaten. Die einzige »Machtressource«, die die Linke hat, ist die gesellschaftliche Mobilisierung: soziale Kämpfe, Bildungsarbeit, solidarische Alltagskultur, Organisierung.

Katja Kipping hat in einem Punkt dann allerdings auch wieder recht: Die Debatte über eine linke Regierung kann ein gesellschaftliches Klima verändern helfen. Die Kampagne von Bernie Sanders in den USA war ein Beispiel dafür. Doch sprechen unsere Erfahrungen dafür, dass sich das hier wiederholen würde?

Die Regierungsbeteiligung der LINKEN in Brandenburg dürfte wenig Euphorie wecken. Die Partei hat sich der Logik des Verwaltens verschrieben und mit der Verabschiedung des Polizeigesetzes nun auch den letzten Kredit gegenüber der gesellschaftlichen Linken verspielt. Nicht einmal wahltaktisch war das intelligent. Hätte die LINKE in der Frage Rückgrat gezeigt, hätte sie sich als Bürgerrechtspartei profilieren und weit über Brandenburg hinaus beweisen können, wozu sie nützlich ist.

Was Thüringen angeht, ist die LINKE in symbolischen Fragen sehr glaubwürdig aufgetreten und hat den Widerstand gegen rechts gestärkt. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass von Gewerkschaften zu hören ist, es sei unter R2G schwerer geworden, gewerkschaftliche Forderungen einzubringen, als zuvor unter Schwarz-Rot. Woran liegt das? Möglicherweise an den beiden SPD-Wirtschaftsministern. Wahr ist aber auch, dass die LINKE in Thüringen vor allem beweisen wollte, wie reibungslos sie regieren kann. Das hat Bodo Ramelow populär gemacht. Aber ist das eine »Machtoption«? Mein Bruder, Mitglied bei den Grünen, und seine Frau, SPDlerin, die beide vermutlich bescheidene Erwartungen an die Koalition hatten, sagen, sie hätten wenig Politikwechsel bemerkt.

Andererseits sollten Kritiker*innen auch ein wenig Demut an den Tag legen. Die Maxime »Protestieren und streiken« ist auch noch keine Strategie und die Erfolge von Bewegungen sind oft nicht minder bescheiden als die von Mitte-links-Regierungen. Außerdem zeigen viele Aktionen der außerparlamentarischen Linken, dass auch Bewegungspolitik verknöchert und bürokratisch werden kann. Nicht zuletzt deshalb sind gerade Jüngere heute oft überraschend pragmatisch: Selbstverständlich würden sie eine linke Reformpolitik befürworten: für Klimaschutz, kostenlosen Nahverkehr, Seenotrettung und die Rekommunalisierung von Wohnungen … Kaum noch jemand käme heute auf den Gedanken das als reformistische Befriedungspolitik zu attackieren.

Radikale Politik muss eine Praxis sein

Wirklich radikale Politik ist nämlich nicht die antikapitalistische Pose, sondern eine Praxis, die mit Erfolgen beweist, dass es sich zu kämpfen lohnt. Das politisiert dann nämlich auch andere. Und wenn wir vor diesem Hintergrund die linke Regierungsbeteiligung in Berlin betrachten, dann müssen wir anerkennen, dass sich die Ausgangslage für soziale Kämpfe keineswegs verschlechtert hat.

In Berlin steht plötzlich das Gemeineigentum an Wohnraum und sogar die Rückaneignung von Immobilienfonds auf der Tagesordnung. Das war kein Verdienst der rot-rot-grünen Regierung, aber die LINKE hat eine produktive Rolle darin gespielt. Ein Netzwerk von Mieter*innen-Gruppen, die den Parteien skeptisch gegenüber stehen, aber seit Jahren pragmatisch den Dialog suchen, hat eine schlaue Initiative gestartet. Sie haben daran erinnert, dass das Grundgesetz keineswegs den Kapitalismus vorschreibt, sondern die Wirtschaftsform 1949 offen gelassen wurde. Und sie haben die soziale Situation von Hunderttausenden mit einer konkreten Forderung verknüpft: Enteignung großer Immobilienfonds. Auf diesen Druck musste die Berliner Koalition reagieren.

Das Gute war, dass die LINKE sich schnell und klar positioniert hat – auch deshalb, weil es eine aufmüpfige Parteibasis gibt. Damit steht nun plötzlich ein konkretes Projekt auf der Agenda, für das es sich für alle zu kämpfen lohnt. Auf der Straße, aber auch in der Landesregierung.

Sicher, auch andere Regierungskoalitionen hätten den gesellschaftlichen Druck irgendwie verarbeiten müssen, aber die LINKE hat die Rekommunalisierungsfrage auf produktive Weise in die Landesregierung getragen. Es gibt also durchaus die Möglichkeiten, an verschiedenen Stellen in dieselbe Richtung zu wirken. Das ist der Schlüssel der Debatte.

Die einzig realistische Machtoption für Linke ist das Erzeugen von gesellschaftlichem Druck, der sich in die Institutionen fortsetzt und von dort nicht abgebügelt, sondern verstärkt wird.
Deswegen ist das Projekt einer »Partei in Bewegung« (oder wenn man den Begriff nicht mag: einer kämpferischen Politik in der Gesellschaft) so wichtig. Und dazu gehört selbstverständlich auch, die richtigen Themen in der öffentlichen Debatte durchzusetzen und ein bestimmtes Klima mit herzustellen. Die Begeisterung für »neue Regierungsmehrheiten links der Union« soll, so Kippings Hoffnung, auch die Bewegungen für Klimaschutz, Gemeineigentum und Solidarität stärken. Auf diese Weise könnten Parteipolitik und gesellschaftliche Dynamik zusammenwirken.

Aber ist Anbetracht der eigenen, durchwachsenen Regierungserfahrungen, einer neoliberal vermachteten SPD und der zunehmend bürgerlichen Grünen realistisch? Es stimmt, dass sich gerade wieder Debattenfenster öffnen und wir überall in der Gesellschaft auf neue Verbündete stoßen.

Kippings Idee, »Diskussionsformate und Plattformen zu schaffen, bei denen wir mit gesellschaftlichen Akteuren darüber reden, wie ein gesellschaftlicher Kurswechsel aussieht«, ist sicher nicht falsch. Das Institut Solidarische Moderne versucht das seit Langem, und auf ihre Weise wollte ja auch die Aufstehen-Bewegung in diese Richtung wirken. Das Problem ist jedoch, dass zwar von Gesellschaft die Rede ist, aber am Ende doch Parlamentarier*innen gemeint sind, die sowieso eine fatale Neigung zur Verselbständigung haben.

Ein Politikwechsel im Bund, der die Macht der Automobilkonzerne und Kapitalfonds beschneidet, würde gewaltigen Widerstand erzeugen. Um hier bestehen zu können, brauchen wir keinen Parteiendialog, sondern gesellschaftliche Mobilisierung, einen kämpferischen Pakt von unten, der eine Mitte-links-Regierung dann auch vor sich hertreiben könnte. Eine Plattform aus NGOs und Gewerkschaftsapparaten, die schnell dazu tendieren dürfte, Loyalität gegenüber der »eigenen« Regierung einzufordern, würde dafür nicht genügen. Aber wie lassen sich diese Einwände konstruktiv umkehren?

Dieser Beitrag von Raul Zelik erschien zuerst im neuen Deutschland.

nd: Keine Wahl beim Klima

Lorenz Gösta Beutin:

Die LINKE muss bei Ökothemen glaubwürdiger und lauter werden. Die Klimafrage wird nicht von der Tagesordnung verschwinden.

Tag drei nach der historischen Wahl zum Europaparlament. Überall in Deutschland werden die Wahlplakate abgehängt. Das politische System schüttelt sich verdutzt die Federn. In gewohnter Manier aus Schuldzuweisungen und Durchhalteparolen sortieren sich die Parteien. Erste Personaldebatten gehen los. Die Frage nach einem Bruch der Großen Koalition steht im Raum – wieder einmal. Analysen über Sieg und Niederlage werden geschrieben. Von Kramp-Karrenbauer, Nahles über Lindner bis Gauland, allen steht der Schreck über das, was da letztes Wochenende über die politische Landschaft niedergegangen ist, ins Gesicht geschrieben: «Das war eine Klimawahl». Selbst die «Junge Alternative» bettelt die alten Herren in der AfD-Führung an, doch endlich aufzuhören, den Klimawandel zu leugnen. Bei den Grünen knallen die Bio-Sektkorken.

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Unser Ratschlag am 15./16. Juni

Wir wollen DIE LINKE erneuern. Wir setzen auf eine organisierende Partei im Betrieb, an der Uni, in den Stadtteilen, unseren Basisgruppen und Kreisverbänden. Wir wollen Vorschläge für eine klassen – und bewegungsorientierte Politik erarbeiten und sie selbst ausprobieren. Hierbei können wir von der Arbeit vieler Genoss*innen lernen, die vor Ort dafür streiten, Solidarität im Alltag wieder stärker erfahrbar zu machen. Als Bewegungslinke diskutieren wir unsere Erfahrung in konkreten Kämpfen, um aus Erfolgen und Misserfolgen zu lernen. Dazu braucht es eine politische Kultur, die solidarisch ist und Lust aufs Mitmachen macht. Bislang ist das Parteileben stark auf Wahlen und Parlamentsarbeit ausgerichtet.

Selbst die Arbeit der Basis ist oft davon geprägt. Aber Sitzungs – und Gremiensozialismus führen selten zur praktischen und organisierenden Arbeit, die für eine sozialistische Partei so wichtig ist. Auch Bewegungen und kämpferische Gewerkschaften sind alleine kein Garant für politische Veränderungen. Wir müssen die Machtfrage stellen und eine Vorstellung entwickeln, wie wir gewinnen können. Nur so lässt Kapitalismus zugunsten des demokratischen Sozialismus überwinden, in dem die Ausbeutung des Menschen abgeschafft ist. Und so kann aus der LINKEN eine Partei in Bewegung, wirkungsvolle Opposition und antikapitalistische Gestaltungskraft werden, die durch Reformkämpfe die Hoffnung auf soziale Verbesserungen und das Selbstvertrauen der Vielen vergrößert. Als politische Kraft wird sie im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie nur bestehen können, wenn sie mit radikalen Forderungen an den Bedürfnissen der Menschen anknüpft, damit ihre Nützlichkeit im Alltag beweist – und zugleich darüber hinausgeht.

Komm zu unserem Ratschlag am 15. und 16. Juni in Düsseldorf am Geschwister-Scholl-Gymnasium. Hier findest du das vollständige Programm sowie die Anmeldung.

Keine Demokratie ohne Gemeineigentum

Die Medien-Empörung über das Interview mit dem JUSO-Vorsitzenden Kevin Kühnert zeigt v.a. eins: dass die bürgerliche Gesellschaft es gar nicht gern sieht, wenn über die wirklichen Machtverhältnisse gesprochen wird. Nämlich über das Eigentum. Oder genauer gesagt: über die Vermögen der Großindustriellen, Fondsinhaber, Banker und Milliardenerben. Der Familien Quandt, Albrecht, Schwarz, Reimann, Klatten, Otto, Würth sowie ihrer Manager. Es geht bei der Diskussion nämlich nicht um den Handwerkerbetrieb oder die eigene Wohnung, sondern um das große Vermögen der oberen 0,5 Prozent. Ein Beitrag von Raul Zelik.

Eigentlich liegt auf der Hand, dass Demokratie und ihre Freiheiten eine Farce bleiben, solange wenige fast alles, andere fast nichts besitzen. Angeblich sind wir alle gleich und haben alle die gleiche Stimme. Aber in Wirklichkeit können sich einige wenige TV-Sender kaufen, Think Tanks gründen oder Lobby-Unternehmen beauftragen und so dafür sorgen, dass ihre Interessen auch berücksichtigt werden. 

Kevin Kühnert hat zwei richtige Dinge im Interview gesagt: Erstens sind die großen Vermögen nicht von Unternehmensgründern und schon gar nicht von den heutigen Eigentümern erwirtschaftet worden, sondern von ihren Belegschaften. Das Vermögen der Quandts (die übrigens nicht nur mit BMW, sondern auch mit der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus viel Geld verdient haben) ist deshalb selbst schon ein Ergebnis von Enteignung. Keine Arbeit ist so wertvoll, dass sich damit ein Milliardenvermögen anhäufen ließe. Die lateinische Wortwurzel verweist übrigens darauf: privare bedeutet rauben oder berauben. Privat ist das, was Einzelne der Allgemeinheit abgenommen haben.

Die Armut der Einen und der Reichtum der Anderen sind zwei Seiten von ein und der selben Medaille.

Zweitens ist es ein Unding, dass in unserer Gesellschaft nicht die Bedürfnisse der Menschen, sondern die Profite entscheiden. Das wird in Anbetracht von Klimawandel und neuem Wettrüsten immer mehr zur Überlebensfrage. Wir müssen unsere Gesellschaft, die Produktionsweise, den Lebenszuschnitt und die internationalen Beziehungen grundlegend verändern. Wir alle wissen das. Warum passiert es dann nicht? Weil heute nicht entscheidend ist, was die Menschen brauchen, sondern was Gewinn erwirtschaftet. Eine ökologische und solidarische Wende kann es deshalb nur geben, wenn Eigentum demokratisiert und Privatinteressen zugunsten von gesellschaftlichen zurückgedrängt werden. Die Eigentumsfrage ist nicht die Lösung aller Probleme, aber sie ist Grundlage dafür, dass überhaupt wieder demokratische und solidarische Lösungen möglich werden.

Dazu kommt aber noch etwas Drittes, das im ZEIT-Interview keine Rolle gespielt hat: Für sehr viele Güter ist Eigentum sowieso ein völlig falsches Konzept. Dem Verständnis von Eigentum liegt zugrunde, dass es veräußert werden kann. Aber Natur, städtischer Raum, soziale und öffentliche Dienstleistungen (wie Erziehung, Gesundheit, Nahverkehr usw.) sollten überhaupt nicht gehandelt werden können. 

Klingt das nach DDR? Nicht wirklich, denn in der DDR agierte der Staat wie ein Eigentümer und befand sich selbst in den Händen einer kleinen Gruppe von Parteiführern. Wir streiten für etwas grundlegend anderes, nämlich für eine Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche. Auch der Wirtschaft! Nicht der Markt, sondern wir alle müssen entscheiden, ob und wie viel geflogen wird, was mit der Rüstungsindustrie geschehen soll, wie wir die Arbeit anders verteilen. Das Wort „Sozialismus“ kommt von „Gesellschaft“, nicht von „Staat“, und deshalb ist Gemeineigentum auch nicht dasselbe wie Staatseigentum. 

Vor 70 Jahren – nach der Katastrophe der freien Märkte 1929, dem Siegeszug des Faschismus und des Weltkriegs – wussten das selbst einige Konservative. Im Grundgesetz ist deshalb nicht definiert, wie die Wirtschaft aussehen soll; die Vergesellschaftung von Unternehmen ist ausdrücklich vorgesehen. Selbst die CDU forderte in ihrem „Ahlener Programm“ von 1947 die Sozialisierung von Schlüsselindustrien. 

Was wir nicht brauchen, ist eine Rückkehr des allmächtigen bürokratischen Staates, in dem Funktionäre entscheiden, was gut für alle ist. Was wir brauchen, ist eine Stärkung von demokratischem Gemeineigentum und Gemeinnutzung in den unterschiedlichsten Formen: genossenschaftlich, öffentlich-rechtlich, als Allmende, mit Belegschaftsdemokratie usw. 

Was wir fordern, ist deshalb eigentlich auch gar keine Enteignung, sondern das genaue Gegenteil: ein Stopp der alltäglichen Enteignung durch Niedriglöhne, Kapitalrenditen und Mietenwahnsinn.

Aktiver streiken ohne Tarifvertrag

Violetta Bock meint, der zähe Kampf der Gewerkschaften gegen Amazon ist erfolgreich, auch wenn es anders aussieht

Für das Osterwochenende hatte ver.di an zahlreichen Standorten zum Streik aufgerufen. Außenstehenden mag der Arbeitskampf bei Amazon als müßig erscheinen. Seit Jahren kämpfen tapfere Frauen und Männer vergeblich für einen Tarifvertrag. Der erscheint heute so weit weg zu sein wie zu Beginn der organisierenden Arbeit. Es ist beachtenswert, wenn sogar das »Handelsblatt«, gewerkschaftsfreundlich kommentierend, der Geschäftsleitung von Chef von Amazon-Deutschland und nicht etwa ver.di oder den Streikenden Dogmatismus vorwirft: »In den 20 Jahren, in denen Amazon in Deutschland aktiv ist, hat sich der Konzern immer wieder gewandelt, weiterentwickelt und den Wünschen der Konsumenten angepasst. Nur in ihrer Haltung gegenüber den Gewerkschaften blieb die Firma stur. Es wird Zeit, dieses Dogma zu überdenken.«

Es ist eben nicht so, dass täglich das Murmeltier grüßt, auch wenn dies oberflächlich, bei immer wiederkehrenden Bildern und der schon zur Normalität gewordenen Meldung »Streik bei Amazon zu Ostern, Weihnachten und Black Friday«, so erscheint. Die Streiks haben, anders als das »Handelsblatt« vermuten lässt, Amazon heute schon verändert. Entfristungen, Weihnachtsgeld, Lohnerhöhungen, neue Kantine – vieles, was ein Tarifvertrag abschließend und zu oft unbefriedigend klären würde, ist zweifellos erstreikt worden, ganz ohne die im deutschen Arbeitsrecht drohende Friedenspflicht mitzeichnen zu müssen.

Zudem hat sich die Stimmung im Betrieb verändert, wie Kolleg*innen aus Bad Hersfeld immer wieder erzählen. Früher gab es aus Furcht Applaus bei allem, was der Manager verkündete, heute werden kritische Fragen gestellt. Die Würde im Alltag ist wohl einer der größten Erfolge für Gewerkschafter, die bei Amazon arbeiten. Was wäre in den letzten Jahren alles nicht geschehen, wenn sich Amazon in Deutschland zum Abschluss eines Tarifvertrags durchgerungen hätte: kein Streik am Frauenkampftag, keine Solidarisierung an gemeinsamen Streiktagen mit Kolleg*innen der Post, keine internationale Vernetzung von der Basis aus mit Kolleg*innen bei Amazon in Polen, Spanien und Spanien. Tatsächlich gibt es bei Amazon mittlerweile Hunderte proletarisch geprägte Aktivist*innen, die eine Ahnung davon geben, wie eine revitalisierte Arbeiter*innenbewegung aussehen wird.

So platt das von der Riege aller orthodoxen, marxistischen wie anarchistischen Traditionen überzeichnete und überstrapazierte Bild des Streiks als Ort der massenhaften Entwicklung von Klassenbewusstsein ist, so deutlich zeigt sich, welche Potenziale dieser Klasse heute innewohnen, wenn sie weder von der Gegenseite herzlich umarmt ihren Biss verliert, noch von den eigenen Leuten in ein allzu bürokratisches und legalistisches Korsett gesteckt wird. Keine Angst vorm »politischen Streik«, keine Formalisierung von Forderungen und kein Zurückweichen auf absehbare Prozentkommastellen, die dann vor den Kolleg*innen in Jubelberichten gerechtfertigt werden und eine neue Kaste Gewerkschafter*innen kreieren. Träumen linke Aktivist*innen vom klassenkämpferischen Frauenstreik (und erklären sich bei fehlender Beteiligung selbst dazu), ist er bei Amazon Realität. Rufen betriebsferne Propagandatruppen des reinen Sozialismus zum Solidaritätsstreik mit xy – wird das bei Amazon tatsächlich gemacht und kaum jemand wundert sich noch.

Natürlich geht es dennoch auch darum, wie vor Ort mehr Macht aufgebaut werden kann, wie der Druck erhöht wird. Doch dafür braucht es vor allem eins: Beharrlichkeit. Für die sollten wir uns alle bedanken. Sie hat Amazon nicht nur zu einem immer wieder zitierten Beispiel für die neuen Arbeitskämpfe gemacht, sondern gibt Mut in anderen Branchen oder Ländern, in denen Betriebe unorganisierbar scheinen.

Violetta Bock ist Politikwissenschaftlerin und Stadtverordnete der Kasseler LINKEN. Der Artikel erschien zuerst im neuen Deutschland.