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Organisierende Gewerkschaftsarbeit von Katharina Stierl

Ich bin seit 2011 ver.di Mitglied. Ich war von 2012-2016 in der Jugend Auszubildenden Vertretung. Ich habe hier eng mit dem Personalrat der Uniklinik zusammengearbeitet. Nach einer Personalratssitzung stand ich mal wieder länger mit dem Personalratsvorsitzenden und dem Stellvertreter in der Küche des Büros und wir diskutierten über die Verbesserungen der Ausbildung. Irgendwann kamen wir auch auf die Frage der Personalbemessung und auf die Frage der politischen Vertretung und der Beschäftigung der Politik mit der Pflege zu sprechen. Meine beiden Vorsitzenden, welche beide SPD-Mitglieder sind, wiesen mich auf die AfA (Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD) – hin und luden mich direkt ein, mit zum nächsten Treffen zu kommen. Zu dem Zeitpunkt gab es noch keine offizielle Kampagne zum Thema Pflege oder Personalmangel und die einzige parteipolitische Vertretung der Beschäftigten im Krankenhaus, die ich durch meine Kollegen mitbekam, war die AfA als politische Interessenvertretung der Arbeiter*innen.

Das treffen fand natürlich im DGB-Gewerkschaftshaus statt und neben meinen Personalratsvorsitzenden traf ich dort dann auch Kollegen aus den ver.di Gremienstrukturen, welche sich über eine neue junge Kollegin freuten. Noch wussten sie nicht (und ehrlicherweise ich auch nicht), dass wir politisch nie zusammenfinden würden. Von der LINKEN habe ich in meinem Betrieb nur ein einziges Mal etwas mitbekommen, und das war am Frauen*tag, an dem rote Nelken verteilt wurden. Wenn das nun meine ersten Erlebnisse als Arbeiter*in waren und sich das in den letzten 4 Jahren nicht groß gewandelt hat, dann ist das ein Problem.

Linke Betriebsarbeit bis jetzt

Marx sagt, dass „die Menschen ihre Geschichte machen“. Wenn ich mir die Situation in den Betrieben so ansehe, sehe ich: sie haben die Geschichte gemacht und zwar mit der Sozialdemokratie, welche sich immer noch nicht als das große Geschenk für die Arbeiterinnen entpuppt hat, wie prophezeit. Die Sozialpartnerschaft und ihr stellvertreterischer Fokus dominieren die gewerkschaftspolitische Arbeit in Deutschland. Diese Politik geht davon aus, dass die Menschen nicht aktiviert werden wollen oder können. Es werden keine Arbeitskämpfe geführt, die partizipativ sind, sondern solche, die gerade das Minimum an Beteiligung erfordern, um ein Mindestmaß an Verbesserung oder auch nur Veränderung hervorzurufen. Die Pseudopartizipation führt unter anderem dazu, dass immer weniger Menschen sich überhaupt organisieren. Ver.di hat in den vergangenen Jahren die 2-Millionen-Marke unterschritten und kämpft schon seit Jahren, genau wie alle anderen Gewerkschaften auch, um den Erhalt seiner Mitglieder.

Warum ist das wichtig?

Wenn es heißt, dass „Menschen ihre Geschichte machen“, so ist die Frage: Wer sind diese Menschen in Deutschland? Ca. 39,2 Millionen Menschen sind erwerbstätig, davon ca. 4-5 Millionen in Gewerkschaften organisiert. Es handelt sich also um eine riesige Anzahl von Menschen. Der Konflikt am Arbeitsplatz ist einer der Kämpfe, bei dem viele dieser 39,2 Millionen Menschen auch Erfahrungen sammeln können. Hier müssen wir auch über das Kräfteverhältnis sprechen. Denn diese Menschen können gemeinsam Erfahrungen machen und können gemeinsam über eine andere Welt diskutieren. Doch haben diese überhaupt Macht?

Sprechen wir von Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit so sprechen wir oft und ziemlich schnell von Begriffen wie „Arbeiter*innenklasse“ und von dem Machtpotential der Beschäftigten. Ohne den Arbeiter keine Veränderung. Neue Arbeitskonzepte werden immer weiter zum Problem. Leiharbeit, Werkverträge, Entgrenzung der Arbeitszeiten und Anwerben von ausländischen Arbeitskräften führt zu einer Spaltung der Arbeiter*innenklasse, die wir verhindern müssen.

Doch nun mal pragmatisch: Was hab ich bisher als linke Gewerkschafterin von der LINKEN erlebt? Wie macht die Linke eigentlich Betriebsarbeit? Wie macht die Linke eigentlich Gewerkschaftsarbeit? Ich bin seit 2011 Gewerkschaftsmitglied. Linke Betriebsgruppen habe ich in meinem Betrieb, und auch den umliegenden Krankenhäusern, noch nicht erlebt. DIE LINKE schafft es, Streikunterstützung aufbauen, verteilen Rosen und Flyer. Es gibt kleine Pflänzchen und Versuche, neue Konzepte durchzusetzen. Aber ernsthafte Angebote gibt es bisher wenige. Zu wenige.

Was muss anders werden?

Wer hat es nicht schon gehört: „Die Arbeiterklasse ist nicht mehr der Mann im Blaumann!!“ Weiterhin ist sie männlich, weiß und überwiegend auch nicht bewegungsorientiert. Es herrscht weiterhin das Verständnis, durch vorgetäuschtes Mitmach-Prinzip die Menschen gewinnen zu können. Die SPD als Sozialpartner der Gewerkschaften und auch in den Betriebs- und Personalräten ist ein Problem, Linke sollten sich nicht versstecken. Sie sollten sich aktiv einbringen und Verbindungen zwischen den Berufen herstellen.

Organizing-Ansätze statt Mobilizing

Wenn es darum geht, möglichst viele Menschen mit einzubinden, sie ernstzunehmen, dann geht es auch darum, aus den verkrusteten und alten Strukturen rauszukommen und neue Wege zu gehen. Offener zu sein, neue Leute mit einzubinden. Verantwortung abzugeben und Mehrheiten zu gewinnen.

Es geht darum, nicht die per se schon in einer monetären Abhängigkeit hängenden Funktionäre zu empowern, sondern vor allem die Kolleg*innen im Betrieb. Gewerkschaften machen zum Teil seit Jahren Stellvertreterpolitik. Aber: Gewerkschaften sind wandelbar, sind beweglich. Die Erneuerung durch Streik-Konferenz der RLS bietet einen Ort, an dem Gewerkschaftler*innen zusammenkommen können, um gemeinsam zu diskutieren und sich auszutauschen.

Es muss auch für linke ein Selbstverständnis geben zu sagen: ich bin die Gewerkschaft, oder besser: wir sind die Gewerkschaft! Um gesellschaftliche Mehrheiten aufzubauen und um linke Mehrheiten in der Gewerkschaft zu gewinnen, müssen wir unsere Ansätze überdenken.

Fazit

Wie kann das gelingen und wie stelle ich mir linke Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit vor? Ich glaube wir müssen …

  1. Selbstbewusster
  2. Organisierter
  3. Verbindender

… arbeiten.
Selbstbewusster in dem Sinne, dass wir den Anspruch haben müssen, DIE LINKE mittelfristig wirklich als die Partei der gewerkschaftlichen Erneuerung aufzubauen. Das heißt, um Mehrheiten zu kämpfen, weiter auszugreifen als auf die üblichen Verdächtigen, neue Streiktaktiken auszuprobieren, die stärkere Streiks und höhere Forderungen aufstellen und sich nicht mit wenig zufrieden geben und damit auch den Konflikt innerhalb der Gewerkschaften suchen.

Zweitens sollten wir organisierter arbeiten in dem Sinne, dass wir unsere Kräfte sammeln und uns vernetzen wie bei der Streikkonferenz der Rosa Luxemburg Stiftung, wo wir konkrete Vorschläge diskutieren können, wie wir auch die Gewerkschaften verändern. Versuche und Ideen zu linken Betriebsgruppen werden wir diskutieren.

Bisher denkt DIE LINKE viel darüber nach, wie aus Kolleg*innen Wähler*innen werden. Wir müssen aber überlegen und dann auch tatsächlich organisieren, dass aus Kolleg*innen Genoss*innen werden. Die Betriebsgruppen könnten dann kämpferische Pole der Hoffnung als das Rückgrat unseres alternativen Gesellschaftsprojeks bilden.

Zuletzt müssen wir verbindender arbeiten, und zwar in dem Sinne, dass wir gewerkschaftliche Konflikte nicht isoliert betrachten und ebenso wenig isoliert führen – betriebliche Kämpfe sind gesellschaftliche Kämpfe. Die US-amerikanische Organizerin Jane McAlevey nennt das Whole Worker Organizing. Das heißt, dass wir Beschäftigte nicht nur als Beschäftigte betrachten, sondern auch Menschen in einem sozialen Netzwerk. Die Auseinandersetzung in der Pflege geht weiter, der Kampf um unseren Planeten hat grade erst das nächste Kapitel aufgeschlagen. LINKE Gewerkschaftspolitik kann hier der Schlüssel zum Siegestor sein.

Im kommenden Jahr stehen verschiedene Tarifrunden wie z.B. im Handel, in der Metallindustrie, im Nahverkehr und weiterhin in den Krankenhäusern an. Es wird viele Möglichkeiten geben, sich einzubringen und neue Konzepte direkt auszuprobieren.

Ich glaube, dass wir mit der Bewegungslinken einen guten Anfang gemacht haben, um an diesen Aufgaben zu arbeiten. Ich glaube aber auch, dass es noch viel Hirnmasse, Kreativität und Mut brauchen wird. Ich freu mich drauf mich mit Euch auf den Weg zu machen.

Was ist für uns Bewegungsorientierung? von Sarah Nagel

Was heißt eigentlich Bewegungsorientierung? Davon gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen – auch unter denjenigen, die bewegungsorientierte Politik erst einmal für einen guten Ansatz halten. Es lohnt sich also, diese Diskussion zu führen. Hier sind fünf kurze Punkte dazu.

1. Ist bewegungsorientierte Politik etwas, dass nur ab und zu passiert – oder sollten wir einen stärkeren Fokus darauf legen, uns längerfristig gemeinsam mit Leuten zu organisieren, und zwar besonders mit denjenigen, die besonders betroffen sind von den Zumutungen des Neoliberalismus? Das wird in der Partei und der Bewegungslinken schon seit einer Weile diskutiert. Dahinter steckt auch die Erkenntnis, dass die DIE LINKE an vielen Orten noch nicht so präsent ist, wie sie das sein könnte – auch wenn es mittlerweile einige gute Beispiele für organisierende Arbeit gibt, an die wir anknüpfen können.

Aber was bedeutet organisierende Praxis? Einerseits können wir sie von reiner Mobilisierung unterscheiden. Denn häufig sind es Events wie Demonstrationen, die einem einfallen, wenn es um Bewegungsorientierung geht. Daran ist auch gar nichts falsch. Proteste und Demos sind Kristallisationspunkte, man schafft damit Öffentlichkeit und macht die Erfahrung, dass man nicht alleine ist. Aber sie haben eben auch Grenzen. Weil sie punktuell sind, weil sie zum Beispiel häufiger in Großstädten stattfinden als in kleinen Orten und auch dort nur einen Bruchteil erreichen. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns stärker darüber Gedanken machen, wie wir längerfristig mit Leuten aktiv werden und zeigen können, dass DIE LINKE für sie einen Mehrwert hat.

Auf der anderen Seite ist es aus meiner Sicht wichtig, die organisierende Arbeit von Stellvertreterpolitik abzugrenzen. Wir können schlicht nicht versprechen, dass wir alles verändern können, wenn Leute uns ihre Stimme geben. Das können wir letztlich nur gemeinsam tun. Es muss uns also in erster Linie darum gehen, Selbstorganisierung voranzubringen.

2. Daran knüpft der zweite Punkte an: Besonders in den letzten zwei, drei Jahren wurde in der LINKEN in Diskussionen viel auf linke Mehrheiten geschaut, darauf, wie wir gerade in den Umfragen stehen, wie oft wir in der Tagesschau vorkommen, oder wie man möglichst schnell möglichst viele Menschen auf eine Mailingliste bekommt. Doch auf dem Weg zu grundlegender gesellschaftlicher Veränderung gibt es keine Abkürzungen. Auch wenn eine gute mediale Präsenz natürlich hilfreich ist, werden kurzfristige Strategien und solche, die vor allem auf Repräsentation setzen, letztlich allein nicht ausreichen. Wir können die Gesellschaft nur verändern, indem wir die Kräfteverhältnisse nach links verschieben und unseren Handlungsspielraum Stück für Stück ausbauen. Das geht nicht von einem Tag auf den anderen. Und wir müssen Schritte für Veränderung benennen können anstatt nur eine vage Idee von Transformation zu haben.

Ich würde gerne als Bewegungslinke einen Beitrag dazu leisten, längerfristig etwas aufzubauen und wegzukommen von abstrakten Diskussionen, um stattdessen mehr über diese konkreten Schritte zu sprechen, die wir miteinander gehen können.

3. Beim dritten Punkt geht es um das Verhältnis zwischen Partei und Bewegung. Welche spezifische Rolle können wir als linke Partei in Bewegung spielen? Was können wir von Bewegungen lernen und wo können wir sinnvoll etwas beitragen? Auf der einen Seite können wir natürlich Ressourcen bereitstellen, mithelfen, Öffentlichkeit zu schaffen, in Bündnissen mitarbeiten, Bewegungen unterstützen, wo sie es wollen, und sollten es tun, ohne sie zu instrumentalisieren oder zu vereinnahmen. Natürlich gibt es immer auch ein Spannungsverhältnis zwischen Partei und Bewegung, ganz besonders dort, wo DIE LINKE Teil der Regierung ist.

Gleichzeitig sollten wir anerkennen, dass wir als Partei, die es seit 12 Jahren gibt und die hunderte von Kreisverbänden hat, eine andere Rolle spielen können und sollten als andere Akteure. Manches können wir vielleicht aufgrund dieser Struktur besser und anderes weniger gut als Bewegungen, die etwa viele Menschen auf die Straße bringen, kreativ sind, tolle Ideen haben – aber möglicherweise nur von kurzer Dauer sind. Dass eine Bewegung Tausende auf die Straße bringt bedeutet nicht, dass in zwei Jahren noch jemand darüber redet.

Anstatt abstrakt zu bleiben, könnten wir uns außerdem häufiger fragen, was wir konkret beitragen können. Etwas zugespitzt zum Beispiel: Macht es für eine Bewegung, die einen linken Youtube-Star mit Millionen Followern auf ihrer Seite hat, überhaupt einen großen Unterschied, ob DIE LINKE dazu noch ein Sharepic macht oder etwas dazu im Bundestag sagt? Unterstützen wir Bewegungen nur mit Worten, auch mit Ressourcen, oder indem wir Teil davon sind und Arbeit übernehmen? Und ist es in anderen Fällen vielleicht so, dass manche Bewegungen ohne DIE LINKE gar nicht entstanden wären oder längst wieder abgeebbt? Partei in Bewegung, das kann eben auch bedeuten, selbst etwas aufzubauen. Zum Beispiel an einem Ort, in dem wir bis dahin wenig präsent sind und wo eben nicht jeden Tag irgendeine linke Veranstaltung stattfindet. Probleme, die wir gemeinsam angehen können, gibt es überall. Gerade dieser Aspekt wird noch zu wenig diskutiert, wenn es um Bewegungsorientierung geht.

4. Ich denke viertens, dass wir neu über Erfolge und Gewinnen nachdenken sollten. Das ist etwas, was wir viel zu selten tun. Ein Erfolg war auch für mich vor ein paar Jahren zum Beispiel, wenn besonders viele Leute bei einer Demo waren. Ich glaube aber, wenn man ernsthaft Kräfteverhältnisse verschieben und Macht von unten aufbauen will, ist es sinnvoll, sich mit Leuten gemeinsam zu organisieren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dazu müssen wir natürlich mit Menschen ins Gespräch kommen, was wir häufig gar nicht machen. Und wir müssen unsere Routine infrage stellen. Denn was bedeutet die Parteiarbeit vor Ort? Meist ist sie zum Beispiel geprägt von Mitgliederversammlungen, Veranstaltungen, ab und zu einem Infostand oder mal zu einer Demo zu mobilisieren. Das ist alles in Ordnung, aber es ist Luft nach oben. Stattdessen sollten wir uns häufiger überlegen, welche Erfolge wir organisieren können, die das Leben von Leuten tatsächlich verbessern. Das kann im Betrieb sein oder im Stadtteil, wo dann vielleicht tatsächlich die Mieten nicht so stark steigen, oder anderswo. Das verändert die politische Arbeit natürlich stark: Die Treffen, die Ansprache, die Art, wie wir Strategien entwickeln. Es geht darum, uns zu organisieren, um etwas gemeinsam zu erkämpfen – in dem Wissen, dass wir bei dieser kleinen Verbesserung nicht stehenbleiben wollen, sondern die Gesellschaft verändern.

Ein erster Schritt ist aber, sich zu überlegen, ob das mit unserer bisherigen Routine überhaupt möglich ist oder wir daran etwas verändern können.

5. Für den Anfang sollten wir uns ein paar Fragen zu unserer Praxis vor Ort stellen: Kommen wir überhaupt mit Leuten ins Gespräch, die wir noch nicht kennen? Oder reden wir eigentlich nur mit unserem engeren Umfeld? Wenn wir zum Beispiel eine Veranstaltung zu einem außenpolitischen Thema organisieren und da kommen 25 Leute, dann ist das natürlich ganz gut – aber wir sollten uns bewusst sein, dass es nur Leute sind, die prinzipiell zu linken Veranstaltungen gehen. Eine weitere wichtige Frage ist: Machen unsere Treffen eigentlich Spaß? Würden wir jemanden dahin mitbringen wollen? Haben wir als LINKE eine einladende und inklusive Kultur? Und: Setzen wir am Alltag, also an realen Problemen an, oder stellen wir abstrakte Forderungen? Viele abstrakte Forderungen sind natürlich durchaus richtig. Privatisierung stoppen, Kapitalismus abschaffen etc. Die Frage ist aber, ob sie der richtige erste Schritt sind, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen – oder ob es nicht vielleicht mehr Sinn macht, auch mal mit Fragen anzufangen anstatt mit Antworten. Weitere Fragen betreffen unsere Prioritäten und Ressourcen. Woraus fokussieren wir in unserer alltäglichen Arbeit? Man verliert sich ja doch oft in Details, Anträgen oder Machtpolitik. Ist das, was wir gerade tun, geeignet um die Kräfteverhältnisse nach links zu verschieben oder sitzen wir gerade doch nur rum und diskutieren über etwas, was eher zu nichts führen wird? Außerdem ist es natürlich auch wichtig, wie wir unsere Ressourcen einsetzen. DIE LINKE hat über 60.000 Mitglieder, aber nicht alle sind aktiv. In einem Kreis – oder Ortsverband gibt es dann vielleicht 5, 10, 20 oder 30 Aktive. Da müssen wir uns natürlich darüber Gedanken machen, wie wir einerseits unsere bestehenden Ressourcen einsetzen und andererseits mehr werden.

Hier konnten nur einige Punkte kurz angerissen werden, aber es wäre lohnenswert, diese Diskussion zu vertiefen.

„Was will die Bewegungslinke?“ von Katharina Dahme

„Es war eine lange Durststrecke für Linke in Deutschland. Mehr als drei Jahre lang dominierte die gesellschaftliche Rechte den öffentlichen Diskurs. Die Themen Sicherheit und Geflüchtete waren omnipräsent, die AfD konnte die anderen Parteien vor sich hertreiben und die Grenzen des Sagbaren stetig verschieben. Im vergangenen Jahr zeichnete sich jedoch bereits eine Veränderung ab: Zahlreiche Bewegungen von Gegnern der neuen Polizeigesetze über Miet-, Klima- und Flüchtlingsaktivisten bis zur Seebrücke begehrten auf, Zehntausende gingen bundesweit auf die Straßen. Statt einem alleinigen Rechtsruck gab es nun vielmehr eine Polarisierung im Land, das linksradikale bis linksliberale Lager begann sich zu finden und zu organisieren.“ – das schrieb Sebastian Bähr vor einigen Wochen im „neuen Deutschland“. Die Enteigneten wehren sich, ein Lager der bewegungsorientierten Linken, der unteilbaren Solidarität hat sich herauskristallisiert.

Zwischen dieser Zustandsbeschreibung und heute liegt eine Europawahl, die das parteipolitische Spektrum ziemlich durcheinander gebracht hat. Die ehemaligen Volksparteien erodieren und die traditionelle langfristige Bindung an Parteien lässt nach und wird auch, so meine Vermutung, nicht wiederkommen. Die Grünen gewinnen von allen Parteien dazu: von den einen, weil sie einen modernisierten, grünen Kapitalismus anbieten und nicht polarisieren, also auch nicht wehtun. Von den anderen, weil sie vermeintlich am stärksten Haltung einnehmen gegen rechts und für Geflüchtete, gegen Nationalismus und für Europa, für Weltoffenheit. Nicht zuletzt aber, weil sie als glaubwürdige erste Adresse betrachtet werden für all jene, für die der Klimaschutz aktuell die dringendste Frage ist.

Was uns aber viel mehr umtreibt, ist die Frage, welche LINKE wir haben – und welche wir bräuchten, angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen.

In der LINKEN herrscht nach der Wahl Katerstimmung und Verunsicherung, bis hin zur Angst vor existenziellem Bedeutungsverlust. Und Angst ist bekanntlich kein guter Ratgeber. Wer das vergessen haben sollte, wird mit Blick auf die aktuellen inner-LINKEN Diskussionen schnell daran erinnert:

Da gibt es nun die Stimmen, die meinen, die ökologische Frage sei eine taktische Frage, deren Beantwortung man davon abhängig machen kann, ob sie der LINKEN oder den Grünen Wählerstimmen bringt. Hier droht uns eine Wiederholung der Milieudebatte unter neuen Vorzeichen, obwohl alle Auswertungen der Wahlen zeigen, dass Klimaschutz durch die Bank in allen Schichten und Berufsgruppen wahlentscheidend war.

Andere, im Übrigen auch ein Teil der radikalen Linken, setzen ihre Hoffnungen auf Rot-rotgrüne Regierungskoalitionen, auch wenn zum Teil verklausulierter als „progressive Mehrheiten links von der CDU“ bezeichnet. Dahinter steckt mitunter auch die Einschätzung, dass nicht nur etwa starke Bewegungen die Voraussetzung für parlamentarische Mehrheiten sind, sondern andersrum Mitte-Links-Regierungen den Bewegungen Spielräume verschaffen könnten.

Noch andere sorgen sich vor allem um den Niedergang der SPD, oder verbreiten schon seit geraumer Zeit, DIE LINKE bringe es nicht und verbinden dies gar mit Werbung für andere Projekte.

Da ich mich in all dem nicht so richtig wiederfinde, könnte ich angesichts dieser Diskussionen verzweifeln, wenn es da nicht noch was anderes gäbe, was mich und andere überzeugt, uns in und bei der LINKEN zu engagieren. Wie sieht sie also aus, eine sozialistische Partei, wie ich sie mir wünsche und für die ich als Bewegungslinke in der LINKEN kämpfen will:

Erstens, streite für eine LINKE, die ein nützliches Werkzeug dabei ist, das Leben der Ausgebeuteten und Unterdrückten spürbar zu verbessern. Ich will eine Partei, die Menschen dazu ermutigt und darin unterstützt, sich gemeinsam mit anderen für ihre eigenen Interessen einzusetzen statt Stellvertreterpolitik zu machen. Die dabei auch in der Lage ist, kulturell und politisch Brücken zu bauen zwischen den verschiedenen Milieus. Zur Theorie der verbindenden Klassenpolitik gehört eine politische Praxis, in der wir voneinander und miteinander lernen, aus Erfolgen ebenso wie Misserfolgen. Im Austausch mit Bewegungen und auch in der Partei selbst.

Das heißt zweitens, in der Konsequenz, auch: Ich streite für eine LINKE, deren Parteileben nicht vor allem auf Wahlen und Parlamentsarbeit ausgerichtet ist. Und da der BL zwischen den Zeilen schonmal plumper Anti-Parlamentarismus vorgeworfen wird, will ich dem Vorwurf gerne gerecht werden, und zwei ganz einfache Prämissen für die Fraktionsarbeit vorschlagen:

Weniger Häppchen und „gepflegte Debatte“ mit US-Botschafter Grenell, Jens Spahn oder Wolfgang Joop, mehr Podien für alleinerziehende Mütter, die ihre Miete nicht mehr zahlen können oder für die Schüler*innen von FFF.

Weniger Selfies aus dem Bundestagsfahrstuhl, und wenn schon Fotos, dann mehr mit AktivistInnen bei Demonstrationen oder Streiks vorm Fabrikstor. Aber Parlamentarismus-Kritik ist ja in Wahrheit viel mehr als das und das Problem reicht deutlich weiter: Selbst die Parteiarbeit vor Ort ist oft geprägt von einer Parlamentarisierung von Unten, die wir auch als Sitzungs- und Gremiensozialismus bezeichnen. Da hilft es dann im Übrigen auch nicht, wenn sich diese Kultur mit einem antikapitalistischen Verbalradikalismus verbindet, der aber zahnlos bleibt, weil auch er zu selten in konkrete Initiativen mündet.

Drittens, streite ich für eine LINKE, die Partei in Bewegung ist und das nicht mit der Mobilisierung zu Demonstrationen verwechselt und schon gar nicht versucht, Bewegungen zu vereinnahmen oder zu instrumentalisieren.

Viertens, streite ich für eine LINKE, die Menschen dabei unterstützt, sich ganz unmittelbar für ihre eigenen Interessen einzusetzen, Konflikte mit Unternehmen und Staat als ihren Arbeitgebern auszufechten und dabei anfangen, sich als bewusster Teil einer gesellschaftlichen Gruppe mit gemeinsamen Interessen zu begreifen. Für uns liegt daher ein Schlüssel in betrieblichen Auseinandersetzungen, die sich im Widerspruch zu den weitgehend trägen Gewerkschaftsführungen immer häufiger verselbständigen und radikalisieren.

Und fünftens, streite ich aber auch für eine LINKE, die sich dessen bewusst ist, dass starke Gewerkschaften und Bewegungen alleine nicht ausreichen. Wir müssen auch bereit sein, die Machtfrage zu stellen und eine Vorstellung entwickeln, wie wir gemeinsam gewinnen wollen und können – gerade auch jenseits von Regierungsbeteiligungen, denen ich skeptisch gegenüberstehe.

Wir müssen uns aber offen dieser Zwickmühle stellen: dem unausweichlichen Dilemma zwischen den Hoffnungen in der Eroberung der Regierungsgewalt und den Befürchtungen des Scheiterns linker Regierungen im Kapitalismus. Wie organisieren wir Mehrheiten, ohne dabei unsere Seele zu verleugnen? Wie setzen wir ein Verständnis durch, dass Basisbewegungen die Herzkammern von Veränderung und der Schlüssel zur Verschiebung der Kräfteverhältnisse sind? Wir brauchen eine Diskussion darüber, wie wir im Bündnis mit Bewegungen und Initiativen die wirkliche Macht in Deutschland viel stärker herausfordern.

In den letzten Monaten habe ich in vielen Gesprächen mit Aktiven in und bei der Partei ähnliches gehört. Ich freue mich daher, dass wir diese Gespräche mit noch mehr Leuten vertiefen. Wir brauchen aber auch ernsthafte und verbindliche Verabredungen, wie das skizzierte Bild einer solchen LINKEN erreicht werden kann, wie wir mehr Menschen gewinnen, die Bewegungslinke aktiv mit aufzubauen und die so dazu beitragen, dass DIE LINKE gleichzeitig Bewegungspartei, wirkungsvolle Opposition und antikapitalistische Gestaltungskraft ist, die durch Reformkämpfe die Macht und das Selbstvertrauen der Vielen vergrößert. Eine politische Kraft, die um Hegemonie in der Gesellschaft kämpft, indem sie ihre Radikalität und Nützlichkeit im Alltag beweist.

Die Klimaproteste sind jung und radikal

Begonnen hat das Wochenende des Protests mit einer fantastischen Demo in Aachen mit zehntausenden Klimaaktivist*innen von Fridays for Future für echten Klimaschutz. Mit 50.000 Teilnehmenden war es die größte Demonstration in der Geschichte Aachens und erreichte ähnlich viele Menschen wie bereits die Proteste im Hambacher Forst letztes Jahr. Die LINKE war mit 10 parlamentarischen Beobachter*innen und vielen aktiven aus NRW sehr gut vertreten und präsent. Ein Beitrag von Lorenz Gösta Beutin.

Aber auch die Aktionen von »Ende Gelände« waren mit mehreren tausend Menschen so gut besucht wie noch nie. Es ist klar: Immer mehr Menschen schließen sich der Klimabewegung auf der Straße an. Viele dieser jungen Menschen sind zum ersten Mal aktiv geworden und politisieren sich an der Frage der Klimakrise. Sie wollen kein „Weiter so“ in der Politik akzeptieren, von der nur die Konzerne profitieren auf Kosten von Mensch und Natur. Es wird spannend sein zu verfolgen, wie sich diese jungen Menschen orientieren werden.

Ende Gelände ist ein Bündnis das mit Aktionen des Zivilen Ungehorsams mehr Druck entfalten möchte. Das ist ihnen gelungen. Die Versorgung des größten Braunkohlekraftwerk Deutschlands in Neurath wurde über 48 durch eine Gleisblockade vom Kohle-Nachschub abgeschnitten. Es gelang am Samstag und Sonntag über 1500 Aktiven die Mondlandschaft des Tagebaus, deren Bagger und Förderbänder lahmzulegen.

So gut wie alle Plakate von Ende Gelände haben die Probleme der Klimakrise mit systemkritischen Botschaften verknüpft, beispielsweise das Banner des Grünen Fingers der die Gleise über zwei Tage besetzt hat „Heute Kohle, morgen Kapitalismus abschaffen“, „System change, not climate change!“ oder „Klimagerechtigkeit – das wollen wir!“. Zeitgleich sind die Plakate der Gewerkschaften ver.di und IGBCE überall an den Tagebauen zu sehen, mit den Slogans „Kein Bild, kein Ton? Deutschland ohne Braunkohlestrom!“, „Schnauze voll, von Gewalt durch Ökoaktivisten!“ und „Ohne Braunkohlestrom stirbt die ganze Region!“. Klar, das sind Plakate der Regionalverbände, ver.di hat auf Bundesebene eine andere Position. Die Gewerkschaften haben sich in Umweltfragen zu oft auf die Seite der Problemverursacher geschlagen und sich damit einen Bärendienst erwiesen. Die Sicherung der Arbeitsplätze ist eine wichtige Forderung. Es ist politisch aber absolut falsch, die Klimagerechtigkeit gegen die Existenzsorgen der Beschäftigten auszuspielen. Die Gewerkschaften müssten eigentlich zum Bündnispartner des wachsenden Widerstands gegen die Klimakrise werden. Dann könnten sie auch für die Forderungen der Belegschaften mehr Druck entwickeln. Die IG Metall plant beispielsweise eine Demonstration am 29. Juni in Berlin unter dem Motto: „#Fairwandel – Nur mit uns“ will die Gewerkschaft ein Zeichen setzen für eine soziale, ökologische und demokratische Transformation. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es macht deutlich, wie zugespitzt die Lage ist. Es macht aber auch ein Feld für die LINKE auf wo wir mit einer verbindenden Klassenpolitik viel gewinnen können.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir inzwischen seit 10-15 Jahren klimapolitischen Stillstand in Deutschland haben und der Klimaschutz nicht über bloße Lippenbekenntnisse hinaus geht. Die Bundesregierung hat im sogenannten Kohlekompromiss beschlossen, das der Kohleausstieg erst 2038 kommen soll. Die wollen ernsthaft noch 20 Jahre die Kohle weiter verheizen. Dabei gibt es keine technischen Gründe, die Kohlekraftwerke weiterlaufen zu lassen. Es gibt nur einen wirtschaftlichen: Die Profite von RWE und anderen Konzernen. Das ist untragbar.

Die Klimakrise schreitet durch Dürren, Hitzewellen und Überschwemmungen weiter voran, trotzdem soll noch knapp 20 Jahre weiter Kohle verheizt werden. Die zentralen Forderungen von den Aktivist*innen von Ende Gelände ist die sofortige Beendigung der Braunkohleverstromung in Deutschland und weltweit, Klimagerechtigkeit und die Überwindung des Kapitalismus mit seinem Wachstumszwang und Ausbeutungsmechanismen. Das Aktionsbündnis versteht, dass echter Klimaschutz und Klimagerechtigkeit nur funktioniert, wenn wir uns mit der Kohleinfrastruktur, den Konzernen und Profiteuren der Klimakrise anlegen.

Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass wir nur organisiert und gemeinsam den Mächtigen was entgegensetzen können. Allein durch kritischen Konsum als Ersatzhandlung, funktioniert das nicht. Im Gegenteil, er stabilisiert das System. Um bio zu kaufen, nicht zu fliegen oder Verzicht zu predigen muss sich keiner organisieren, Klimaschutz wird so zu einem Privatproblem gemacht, was Handlungsmacht des Einzelnen aber nur simuliert und keine echte grundsätzliche Veränderung bringt, schon gar keine Überwindung des Kapitalismus.

Es ist völlig klar, dass diese Aktionswoche nur ein weiteres Puzzlestück für echten Klimaschutz ist. Besonders wichtig wird es nach der Blockade der Kohle-Infrastruktur sein, den anderen Verursachern unserer Klimakrise weiter Druck zu machen. Wer sich nicht mit den mächtigen, den Konzernen, dem Kapitalismus anlegen will, der wird diese Klimakrise nicht aufhalten können.

Als Parlamentarischer Beobachter war es meine Aufgabe die der Begleitung, Augenzeugenschaft, Dokumentation, das Vermitteln, Ansprechpartner und Hilfe in Notsituationen zu sein. Ich stand also bei den Protestaktionen zwischen Aktivist*innen auf der einen und Polizei und RWE-Personal auf der anderen Seite. Kommt es zu Rechtsbrüchen auf Seiten der Staatsgewalt, dann weise ich die Beamt*innen darauf hin, was oft schon hilft. Allein meine sichtbare Anwesenheit, ich trage eine Warnweste mit Aufschrift, führt schon dazu, dass sich die Polizist*innen beobachtet fühlen und sich dadurch nicht so schnell zu Gewalt oder Schikane hinreißen lassen. Durch meinen Beobachterstatus kann ich durch Polizeiabsperrungen durch und zu Festgenommenen und mit ihnen sprechen. In Verhandlungen mit der Einsatzleitung können Erleichterungen für die Demonstrant*innen erreicht oder auch Informationen über den Polizeieinsatz gewonnen werden. Als Augenzeuge kann ich auch verzerrten Medienberichten mein Wort entgegensetzen, etwa über die vermeintliche Gewaltbereitschaft von Ende Gelände. Und nicht selten sind es einfach nur aufmunternde Worte nach Polizeigewalt oder eine Flasche kaltes Wasser für Menschen in einem Polizeikessel.

Aktionen des zivilen Ungehorsams sind immer dann vonnöten, wenn andere Mittel nicht ausreichen. Die Bundesregierung handelt fahrlässig, wenn sie beim Klimaschutz mehr die Konzerninteressen verteidigt als für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen einzustehen. Also sind Besetzungen von Privateigentum zwar nicht legal. Aber sie sind legitim. Die Blockaden von Kohlebaggern und Kohlegruben sind ein Medienspektakel und darum ein Katalysator für die ökologische und soziale Bewusstseinsbildung. Auch wird vielen Menschen durch diesen Aktivismus gezeigt, dass Ohnmacht angesichts der gesellschaftlichen Krisen kein Muss ist, sondern jede und jeder seine Stimme erheben und seinen Protest auf die Straße tragen kann.

Es wird weitere Aktionen von »Ende Gelände« gegen die internationale Automobilbranche und Profiteuren der Klimakrise geben. Vom 20. bis 27. September findet außerdem der »Earth Strike Day« statt. Zu diesem »general strike to save the planet« haben »Fridays for Future«, Extinction Rebellion, Greta Thunberg und viele weiter aufgerufen. Wir müssen den außerparlamentarischen Protest weiter aufbauen.

Mobilitätswende: Der Umbau muss jetzt beginnen!

Vor dem x-ten Autogipfel: Mit Atomstrom in die Elektromobilität? Skizze für einen Ausstieg aus dem Automobilismus – Arbeit und Mobilität 2030! Ein Beitrag von Stephan Krull.

Heute (24.6.2019) findet der nächste „Autogipfel“ im Kanzleramt statt. Aus dem Bundeskanzleramt verlautet dazu: „Thematische Schwerpunkte des informellen fachlichen Austausches sind künftige technologische Herausforderungen für die Automobilindustrie in Deutschland, deren Wettbewerbsfähigkeit sowie die Auswirkungen des Wandels auf Arbeitswelt und Beschäftigung im Automobilsektor.“ An dem Gespräch nehmen neben der Kanzlerin mehrere Ministerinnen und Minister, die Spitzen von Union und SPD sowie Vertreterinnen und Vertreter von Automobilbranche und Gewerkschaft teil; Umweltverbände und Verkehrsinitiativen sucht man bei dieser „Konzertierten Aktion Mobilität“ allerdings vergeblich.

Die Autokonzerne haben die Bundesregierung mit dem schleppenden Ausbau der Elektromobilität mehr als düpiert: Das Ziel, im Jahr 2020 die erste Million E-Autos auf der Straße zu haben, wird grandios verfehlt. Das ist der Hintergrund für die Forderung der Konzerne nach Milliarden-Subventionen für den Ausbau von Ladeinfrastruktur, für die Subventionierung von Strom für die Batteriezellenfertigung und den Abbau von „Hemmnissen im Bau-, Wohneigentums- und Mietrecht“, einer Änderung des Personenbeförderungsgesetzes sowie höhere Preise (Steuern) für Diesel und Benzin als Beitrag der Autofahrer zwecks Durchsetzung von Elektroautos.

Damit werden die Dimensionen der Mobilitätswende angesprochen im Sinne der Sicherung der Profite der Autokonzerne. „Sieben bis 10,5 Millionen E-Mobile stellen BMW, Daimler und VW bis 2030 in Aussicht: wenn der Staat massiv in Ladesäulen investiert und Kaufprämien für Elektroautos auslobt“ (Handelsblatt 24.6.2019).

Der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann sekundiert: „Es muss endlich entschieden werden, wie wir bei wichtigen Themen wie dem Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos oder bei der Batteriezellfertigung in Deutschland vorankommen. Das Zielbild ist: Jedes E-Auto kann künftig in wenigen Minuten an jeder Tankstelle aufgeladen werden. Das erfordert Investitionen in die Stromnetze“ – nicht bedenkend, dass die Autoindustrie Milliarden-Profite realisiert, dass die erforderliche Menge an Strom überhaupt nicht zur Verfügung steht. Der VW-Chef Diess hat konsequent die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken gefordert.

Skizze für einen Ausstieg aus dem Automobilismus

Mit der dringend notwendigen Mobilitätswende zur Erreichung der Klimaziele hat all das gar nichts zu tun. Es bliebe bei Millionen privaten PKW‘s und SUV‘s, die Straßen und Städte verstopfen, es bliebe bei der Dominanz der Autoindustrie und bei der Vernichtung von hunderttausenden von Arbeitsplätzen wegen der unterlassenen Mobilitätswende. Beim „Autogipfel“ wird nicht über Tempolimit gesprochen, eben sowenig über bessere Bedingungen für Schienen,- Fuß- und Radverkehr. Wenn die Mobilitätswende gelingen soll, braucht es einen Ausstiegs- bzw. Umstiegsplan ähnlich dem Plan für den Kohleausstieg: Zeitablauf und Kosten für den Auf- und Ausbau alternativer Industrien, Dienstleistungen und also von Arbeitsplätzen zur Umsetzung gesellschaftlicher Entwicklung und sozialer Sicherheit.

In der Auto- und Zulieferindustrie gibt es zur Zeit ca. 800.000 Beschäftigte mit sinkender Tendenz; alle Hersteller haben Absatzproblemen, planen Personalabbau und Werkschließungen.

Die Autoindustrie wie wir sie kennen befindet sich in mörderischer Konkurrenz, in der verzweifelten Suche nach Fusionsmöglichkeiten und neuen Geschäftsfeldern, jedenfalls im Niedergang. Aktuelle Beispiele sind die Übernahme von Opel durch PSA, die Kooperationsprojekte von Daimler und BMW, von Volkswagen und Ford und die weitergehenden Pläne von Fiat/Chrysler und Renault/Nissan.

Betroffene Regionen in unserem Land sind vor allem: Stuttgart, Wolfsburg, München, Bremen, Leipzig, Zwickau, Salzgitter, Emden, Kassel, Ingolstadt, Neckarsulm, Rüsselsheim, Köln und Eisenach.

Arbeit und Mobilität 2030!

Die Arbeitsplatzbilanz für die nächsten 10 Jahre könnte wie folgt aussehen (die Veränderung der Exportquote bzw. der Auslandsproduktion ist dabei noch nicht berücksichtigt):

  • Durch Reduzierung von Kapazitäten/Überkapazitäten fallen ca. 150.000 Arbeitsplätze weg,
  • durch die demografische Entwicklung scheiden im Zeitraum von 10 Jahren ca. 200.000 Beschäftigte aus (das Durchschnittsalter der Beschäftigten in der Automobilindustrie beträgt ca. 45 Jahre),
  • Durch Umstellung auf E-Mobilität fallen ca. 100.000 Arbeitsplätze weg,
  • Summe = minus 450.000 Arbeitsplätze
  • durch Arbeitszeitverkürzung in der Branche auf 30 Stunden müssen ca. 100.000 Menschen zusätzlich beschäftigt werden.

Saldo: Minus 350.000 Arbeitsplätze

Mögliche und dringende neue Arbeitsplätze:

  • Schienenproduktion plus 10.000 Beschäftigte in den Stahlwerken (Salzgitter, Eisenhüttenstadt, Bremen, Osnabrück, Duisburg, Dillingen, Unterwellenborn)
  • Schienenfahrzeugbau, Waggon- und Triebwagenproduktion plus 100.000 Beschäftigte (Görlitz, Bautzen, Henningsdorf, Sazgitter, Kassel, Mannheim, Siegen, Stendal
  • Nahverkehrsbetriebe und Bahnbetriebe plus 30.000 Beschäftigte (Fahrer*innen, Instandhalter*innen, Stellwerker*innen)
  • Gesundheit, Kranken- und Altenpflege plus 150.000 Beschäftigte
  • Bildung plus 20.000 Beschäftigte,
  • Landespflege/Umweltschutz plus 20.000 Beschäftigte

Saldo plus 330.000 Beschäftigte

Durch eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung (z.B. durchschnittlich 30 Stunden pro Woche) wird ein großer Teil des übrigen Arbeitsvolumen aufgefangen bzw. im Interesse der Beschäftigten und der gesamten Gesellschaft wird alle Arbeit (auch Care-Arbeit und ein guter Teil der bisher ehrenamtlichen Arbeit) fair verteilt, Überlastung und daraus resultierende Krankheiten und gesellschaftliche Kosten werden vermieden.

Die Notwendigkeit der Qualifizierung / Umprofilierung / Weiterbildung ist offensichtlich, das braucht Zeit und Ressourcen; Lokführer*innen-Ausbildung dauert ca. ein Jahr, Straßenbahnfahrer*in ca. ein halbes Jahr, eine vorherige Berufsausbildung vorausgesetzt. Das gleiche trifft auf Ingenieurinnen zu, die vom Automobilwerk in den Schienenfahrzeugbau wechseln oder auf Produktionsarbeiter, die Altenpfleger oder Erzieher werden. Materiell sind die sozialen Berufe massiv aufzuwerten.

Zeitliche Schritte müssen gegangen werden – vom gesellschaftlich getragenen Konsens über die Reduzierung des Autobaues und Schrumpfung der Autokonzerne hin zum Schienenfahrzeugbau, von der Gesetzgebung über die Qualifizierung bis hin zur Einsatzplanung. In einem Zeitraum von 10 Jahren sollte das zu machen sein: Projekt Arbeit und Mobilität 2030!

Bei diesen Überlegungen handelt es sich um eine Makro-Sicht. Die Mikro-Sicht muss durch regionale Mobilitätsräte erfolgen, in denen Umwelt-, Verkehrs- und Verbraucherinitiativen, Gewerkschaften, Wissenschaft, Politik und Industrie zusammen wirken. In einigen Bundesländern wurden bereits „Strategiedialoge“ zur Zukunft der Autoindustrie etabliert – aber immer nur ähnlich der „Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität“, also mit Gewerkschaften am Katzentisch von Industrie und Politik – ohne Bürgerinnenbeteiligung, ohne die Umwelt-, Verkehrs- und Verbraucherinitiativen. Das muss ausgebaut und ausgeweitet werden. Es ist zweifellos möglich, diesen Umbau zu stemmen. Die Umstellung von Friedensproduktion auf Kriegsproduktion und retour ist ein Beleg dafür, aber auch viele kleinere Veränderungen in den zurückliegenden Jahrzehnten. So wurden, nur als Beispiel, Lackierer*innen zu Online- und Offline-Anlagenführer*innen ausgebildet bei der Umstellung auf gänzlich neue Technologie in den Lackierereien der Automobilfabriken; eine Entwicklung, die die Unternehmensleitung eigentlich ablehnte und nicht wollte.

Es geht also um eine demokratische, soziale und ökologische Transformation der Mobilität, um eine Transformation der Produkte und der Produktionsverhältnisse, um einen Ausstieg aus der renditegetriebenen Konkurrenz. Es geht um die Reduzierung von Mobilitätszwängen, um Stadt- und Raumplanung, um den Abbau bzw. die Umleitung von Subventionen in den ÖPNV sowie in den Fuß- und Radverkehr und um eine Arbeitszeitverkürzung für alle.

https://www.msn.com/de-de/finance/top-stories/ig-metall-pocht-vor-autogipfel-auf-klare-festlegungen-zu-e-mobilit-c3-a4t/ar-AADk61E

https://www.mobilitaet-nds.de/beitrag/niedersachsen-startet-strategiedialog-automobilwirtschaft-zusammenschluss-fuer-zukunftssichere-automobilwirtschaft-in-niedersach.html

https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Online-Publikation/5-18_Online-Publ_Auto.pdf