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Wird die Bewegungslinke eine Strömung?

Wir werden immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob wir eine Strömung sind oder nicht, oder planen, eine zu werden. In einem 2018 veröffentlichten Diskussionspapier hatten wir dazu Folgendes festgehalten: „Wir sind keine klassische Parteiströmung wie andere, sondern eine übergreifende Erneuerungsbewegung der LINKEN für bewegungs- und klassenorientierte Politik.“ Dieser strömungsübergreifende Charakter war uns wichtig, weil wir in unseren Reihen auch Aktive haben, die in anderen Strömungen Mitglieder sind und bislang bleiben wollen. Streng genommen handelt es sich bei der Formulierung aber nicht um eine klare Absage an die Frage der Strömung. Und so gibt es auch in unseren Reihen nicht wenige, die verstärkt für eine solche Gründung argumentieren.

Vorab: Bislang sehen wir keinen zeitlichen Druck, diese Frage kurzfristig zu entscheiden. Auch wollen wir den für Juni geplanten Ratschlag nicht mit formellen Debatten überlagern, so dass dieses Thema dort eher am Rande eine Rolle spielen wird und wir es voraussichtlich erst im Herbst wieder aufgreifen werden.

Wir wollen aber unsere (kurze) Diskussion dazu im Ko-Kreis transparent machen, weil wir der Meinung sind, dass diejenigen, die sich für eine Mitarbeit bei der Bewegungslinken interessieren, wissen sollten, auf welcher Grundlage sie sich engagieren – und weil wir eure Meinung dazu wissen wollen.

Wenn wir Vor- und Nachteile diskutieren, wird schnell deutlich, welche negativen Erfahrungen der Partei- oder Strömungsarbeit wir bei der Bewegungslinken nicht wiederholen wollen. Daraus erwachsen automatisch Ansprüche an unsere Arbeit.

  1. Uns ist klar, dass handelndes Personal entscheidend für Politik ist und daher auch Wahlen zu Gremien und Listenaufstellungen von Bedeutung sind für die Entwicklung einer Partei. Wir wollen aber kein Akteur sein, der seine Dynamiken entlang von Parteitagen entwickelt. Bei allem Verständnis für grundlegende Programmatik darf nicht aus den Augen verloren werden, dass Kämpfe um gesellschaftliche Mehrheiten vor allem auf der Straße, im Kiez, auf der Arbeit geführt werden, nicht auf dem Papier und in stundenlangen Antragsdebatten um die beste Formulierung. Unsere Kritik an der Parlamentarisierung der Partei gilt insofern auch für uns selbst, als dass wir verhindern wollen, dass Selbstbeschäftigung gegenüber der Wirksamkeit nach außen überhandnimmt. 
  2. Wir wollen einen Raum schaffen, in dem eine solidarische Diskussionskultur auch bei strittigen Fragen herrscht, statt gegenseitig Bekenntnisse abzufordern oder sich der Selbstverständlichkeiten zu vergewissern. Uns eint die Erkenntnis, dass es nicht auf jede Frage schon überzeugende, alles klärende Antworten gibt, vielmehr wollen wir fragend und diskutierend voranschreiten. Dabei sollen sich alle einbringen können, die die Bewegungslinke mit uns aufbauen wollen, weil sie Ausrichtung und Ziele teilen. Wir wollen hingegen nicht der Ort für Schaufensterreden oder Belehrungen derjenigen sein, die unseren Zusammenhang nur für die Vergrößerung ihrer eigenen Reichweite nutzen.
  3. Uns ist bewusst, dass viele Fragen über die Ausrichtung und das Ziel der Bewegungslinken noch offen sind. Diese werden wir in den kommenden Wochen bei Regionaltreffen und auch auf dem Ratschlag diskutieren. Eine Strömung böte unseres Erachtens eine Chance der deutlicheren Abgrenzung im positiven Sinne einer Profilschärfung. Manche fänden gerade das womöglich schade, wir finden es wiederum notwendig, um unsere Motivation zu verdeutlichen. Für den ehrlichen Umgang mit Interessierten ist es unumgänglich.
  4. Zu guter Letzt spricht natürlich auch die mögliche finanzielle Unterstützung durch die Partei für die Konstituierung als Strömung oder Zusammenschluss (Delegiertenmandate sind uns hingegen egal, da wir davon ausgehen, dass unsere Aktiven auch in den Kreisverbänden gut verankert sind und darüber delegiert werden können). Um diese Entscheidung aber nicht davon abhängig zu machen, werden wir vorerst Spenden für unsere Arbeit, zum Beispiel für den Ratschlag, sammeln.

Kurzum: Der Anspruch, DIE LINKE zu erneuern, ist selbstverständlich auch Anspruch an einen wie auch immer gearteten neuen Zusammenschluss innerhalb der LINKEN, anders zu diskutieren und zu arbeiten – unabhängig davon, ob es dann eine „Strömung neuen Typs“ sein wird oder nicht. Wie wir dem gerecht werden können, wollen wir gemeinsam mit allen Aktiven weiter diskutieren.

Scheitern als Chance – wie weiter nach Wagenknecht Rückzug?

Die LINKE muss eine verbindende Klassenpolitik machen und Kämpfe gegen Ausbeutung, Rassismus und Sexismus verbinden.

von Thomas Goes

Deutschland braucht eine linke Antwort auf anhaltende soziale Krisenerscheinungen, auf das Weiter-so der Großen Koalition und den Aufstieg der AfD. Wie genau diese auszusehen hat, darüber wurde in der jüngsten Vergangenheit hart gerungen, in Teilen der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen nicht weniger als in der Linkspartei. Mit Sahra Wagenknecht trat nun eine der zentralen Figuren dieses Streits ihren Rückzug an.

Aus gesundheitlichen Gründen, sicher. Aber seien wir ehrlich, im Hintergrund steht eine krachende politische Niederlage. Nicht nur Wagenknecht selbst dürfte geglaubt haben mit »Aufstehen« eine neue politische Kraft schaffen zu können, um auch die politischen Kräfteverhältnisse in der Linkspartei, der SPD und bei den Grünen zu verschieben. Sie setzte viel auf diese Karte und ist gescheitert. Damit hat sie sich auch selbst entzaubert. Zumindest hat ihre stets von AnhängerInnen hervorgehobene Beliebtheit nicht dazu ausgereicht Menschen massenhaft zu begeistern.

Wie sich das auf die Situation der Linkspartei auswirken wird? Klar ist: Sahra Wagenknecht ist (und war) nicht entscheidend. Natürlich stehen Köpfe für politische Orientierungen. Um sie herum kristallisiert sich allerdings, was politisch bereits da ist. Das gilt insbesondere für Parteien. Ausschlaggebend ist also, ob es der Linkspartei gelingen wird, Menschen innerhalb und außerhalb der Partei in einen Dialog einzubinden, die sich durch Wagenknecht repräsentiert sehen. Den vielen ehrlichen Herzen müssen wir ein politisches Angebot machen. Das ist durchaus möglich, wenn die Partei weiter daran arbeitet, eine verbindende Klassenpolitik zu erfinden, die versucht, ein neues Bündnis aus verschiedenen Teilen der arbeitenden Klasse zu schmieden – ein Bündnis, das Kämpfe gegen Ausbeutung mit solchen gegen Sexismus und Rassismus verbindet.

In den ostdeutschen Bundesländern hat die Linkspartei deutlich vor dem »Sommer der Migration« bei vielen Wahlen Stimmen verloren. Glaubt man den jüngsten Umfragen zu den drei Landtagswahlen im Herbst, dann wird sich diese Entwicklung fortsetzen. Vieles spricht dafür, dass das traditionelle Modell, mit dem die Partei vor allem im Osten der Republik Politik gemacht hat, sich erschöpft hat.

Eine linke Alternative zum Durchwurschteln der Großen Koalition und zum Aufstieg der extremen Rechten wird es ohne grundlegende Veränderung der Linkspartei nicht geben. Die Chance ist da, aber sie muss genutzt werden. Wir sollten nicht in bekannte strategische Sackgassen laufen. Etwa die immer gleiche Beschwörung von Rot-Rot-Grün oder die radikale Passivität, die aus der ausschließlich defensiven Verteidigung roter Haltelinien entsteht, ohne an der Veränderung der Kräfteverhältnisse und an einer linken Machtoption zu arbeiten, die den Einstieg in den Ausstieg aus dem Kapitalismus möglich macht. Anknüpfend an die bisherigen Experimente mit Organisierungs- und Kampagnenarbeit in der Partei sollten wir stärker an unserer sozialen Verankerung arbeiten; mit Menschen vor Ort Initiativen organisieren, um ihre Interessen durchzusetzen; soziale Milieus der arbeitenden Klasse verbinden, die eben nicht umstandslos dasselbe wollen, selbst wenn sie objektiv dieselben Interessen haben: von angelernten ArbeiterInnenmilieus und urbanen Prekären bis zu jungen qualifizierten Facharbeiter- und Angestelltengruppen.

Wir sollten Kämpfe für konkrete Verbesserungen verbinden mit dem Plädoyer für eine grundlegende gesellschaftliche Alternative, die ökologisch-sozialistische Demokratie. Das können wir jedenfalls von den linken Sozialdemokraten Bernie Sanders und Jeremy Corbyn lernen.

Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine haben für die Bekanntheit der Linkspartei viel getan. Der Partei selbst haben sie in den letzten Jahren aber Bärendienste erwiesen. In die Partei hinein haben sie polarisiert, die außerparlamentarische Mosaiklinke gespalten. Insofern ist ihr Scheitern auch eine Chance.

Thomas Goes ist Soziologe und arbeitet am SOFI Göttingen. Er ist aktiv im Koordinierungskreis der Bewegungslinken, eines Zusammenschlusses innerhalb der Linkspartei und hat zusammen mit Violetta Bock das Buch »Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eilten und Rechte?« geschrieben. Der Artikel erschien zuerst im neuen Deutschland.

nd: Linke Migrationspolitik: Wir sind alle Migration!

Wir, eine Gruppe von LINKE-Mitgliedern mit Flucht- und Migrationsgeschichte, sind sehr besorgt über den gesellschaftlichen Rechtsruck, den wir schon seit geraumer Zeit in Deutschland, Europa und der Welt erleben. Diskriminierung, sei es am Wohnungs- und Arbeitsmarkt oder in der Schule, und auch rechte Gewalt waren für uns, unsere Familien und Communities schon immer Realität.

Seit 2015 nimmt sie aber noch zu. Durch die AfD ist Hetze zum Alltag in Deutschlands Parlamenten geworden. Menschen werden als »Ausländer« markiert, unabhängig davon, wie lange sie schon hier leben. Rassistische Kommentare in den sozialen Medien nehmen überhand. In deutschen Medien werden rechte Diskurse aufgegriffen und Muslim*innen überwiegend abgewertet – etwa als Ende Februar in der Talkshow »Hart aber Fair« unter dem Titel »Heimat Deutschland – nur für Deutsche oder offen für alle?« diskutiert wurde.

Rassismus erfährt so eine gefährliche Normalisierung. Diese Entwicklung vergiftet das gesellschaftliche Klima und bedroht vor allem all diejenigen Menschen, die nicht in das völkische, reaktionäre und elitäre Selbstbild der Rechten passen: sozial Benachteiligte, Frauen, trans-, inter- und homosexuelle Menschen, Menschen mit Behinderung, Migrant*innen, Muslim*innen, Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti. CDU und CSU nehmen rechte Narrative auf und setzen sie als Politik im Bund gemeinsam mit der SPD um. Aktuell soll unter dem Label der »Terrorismusbekämpfung« Doppelstaatler*innen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden können.

Das Asylrecht wurde seit dem »Sommer der Migration« 2015 erheblich beschnitten. Die Bundesregierung ist treibende Kraft einer weiteren europäischen Grenzabschottung (auch durch Deals mit diktatorischen Regimen), die nicht nur tötet, sondern auch die zivilen Seenotretter*innen kriminalisiert. Die EU mauert sich zu einer »Gated Community« ein und grenzt sich mit militärischer Gewalt von Ländern ab, die durch koloniale Ausbeutung, Kriege und Umweltschädigungen zerstört wurden und die weiter über unfaire Handelsbeziehungen ausgeplündert werden, um die eigenen Privilegien ungestört genießen zu können. Rechte Terrornetzwerke wie der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) haben über Jahre von staatlichen Geldern profitiert, in deutschen Sicherheitsorganen vernetzen und bewaffnen sich Nazis, auf die auch der Terrorist von Christchurch Bezug nahm.

Den rassistischen Mobilisierungen und dem Rechtsterror zum Trotz gibt es aber auch breiten Widerstand: von migrantischen Selbstorganisierungen, neuen Bündnissen bis hin zu Massenprotesten. Die Märsche der Geflüchteten 2012, die Refugee-Bewegung und die Überwindung des Grenzregimes zeigen, dass Menschen sich selbst ermächtigen und nicht mehr bereit sind, ihr Schicksal als Ausgebeutete und Ausgegrenzte zu akzeptieren. Die Willkommensbewegung, die 2015 in Deutschland sichtbar wurde, und die vielen Ehrenamtlichen, die bis heute in der Geflüchtetenhilfe aktiv sind, zeigen genauso wie die Seebrückenbewegung, dass Solidarität möglich ist und gelebt wird. So haben auch im »Herbst der Solidarität« 2018 Hunderttausende Menschen mit der »We’ll come united« Parade und der »Unteilbar«-Demonstration der offenen Gesellschaft Ausdruck verliehen. Das macht Hoffnung.

DIE LINKE ist Teil dieser verschiedenen Solidaritätsbewegungen und innerhalb der Parteienlandschaft eine ihrer engagiertesten und aktivsten Verbündeten. Und auch in ihr vernetzen sich Menschen mit Migrationsgeschichte, Schwarze Deutsche und Black and People of Colour. Wir möchten damit sichtbar intervenieren in den gesellschaftlichen Diskurs und uns für eine offene, solidarische Gesellschaft stark machen und einem rassistischen, reaktionären und autoritären Weltbild den politischen Kampf ansagen.

Wir möchten aber auch in den innerparteilichen Diskurs intervenieren, gerade auch zu Themen wie Migration und Rassismus, die uns unmittelbar betreffen. Migration ist weder Objekt noch Verschiebemasse. Migration, das sind wir. Unser Ziel ist es, die LINKE migrantisch-progressive Stimme hörbar zu machen. Leider gibt es, wie in allen anderen Parteien auch, in Teilen unserer Partei eine Diskursverschiebung. Jahrelang geltende Positionen wie die der »offenen Grenzen« werden von manchen Genoss*innen in Frage gestellt. Migrationskritische Töne, die vor einiger Zeit noch für unsere Partei undenkbar waren, sind möglich geworden. Und das zu einem Zeitpunkt, da es so dringend einer klaren und einheitlichen Stimme der Solidarität bedarf. Welche Partei, wenn nicht DIE LINKE, die in einer jahrhundertealten Tradition von Internationalismus und Solidarität steht, kann das leisten? DIE LINKE hat als einzige Partei bisher alle Asylrechtsverschärfungen abgelehnt. Aber unsere Aufgabe reicht weiter. Wir müssen für eine offenere, solidarischere und sozial gerechtere Gesellschaft kämpfen, durch politische Praxis und indem wir Diskurse beeinflussen. Das geschieht vielerorts schon, sei es an der Basis, in Initiativen und Bündnissen oder in den Parlamenten.

Wir machen aber auch andere Erfahrungen. Auf der Migrationskonferenz der LINKEN am 17. Februar in Berlin wurden Referent*innen eingeladen, die Positionen vertreten, die wir für inakzeptabel halten. Zwar überwogen dort die progressiven Stimmen, die Migrant*innen als politische Subjekte begreifen und sich für Bewegungsfreiheit einsetzten, wie auch für einen transnationalen Begriff der Arbeiter*innenklasse und soziale Gerechtigkeit, die nicht an Grenzen haltmacht. Und die betonten, dass DIE LINKE gebraucht wird im Kampf gegen Rassismus, Rechtsruck und für soziale Gerechtigkeit. Zu nennen sind hier Ceren Türkmen, Bernd Kasparek, Dr. Manuela Bojadzijev, Prof. Dr. Sabine Hess und einige mehr. Beeindruckt hat uns Dr. Boniface Mabanza Bambu, der unter anderem argumentierte: Wenn Reichtum aus Afrika gestohlen wird, müssen die Menschen auch das Recht haben, ihm nach Europa zu folgen.

Aber es waren eben auch Referent*innen geladen, die beispielsweise von einer »Einwanderung in Sozialsysteme« sprachen, die EU-Freizügigkeit infrage stellten und Merkels Migrationspolitik als »liberal« bezeichneten. Das dreimonatige Aussetzen der Dublin-Verordnung Merkel zuzuschreiben missachtet die Macht des Faktischen, als sich Millionen Geflüchtete in Idomeni, Budapest-Keleti oder auf Märschen durch Europa befanden. Und die tatsächliche Abschottungs- und Asylrechtsverschärfungspolitik der vergangenen Jahre unter Merkel ist mitnichten liberal.

Einer der verstörendsten Referenten war wohl Hannes Hofbauer (der auch Autor des »nd« ist), der in seinem Buch »Kritik der Migration« Merkel für ihre vermeintliche Grenzöffnung kritisiert und argumentiert, sie hätte damit »die Migrationsschleuse für Muslime aus dem Nahen Osten unter Applaus der Kirchen und Unternehmen« geöffnet. Er lobt den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán und behauptet, offene Grenzen seien neoliberal. Er wirft der »no border«-Linken vor, sie bediene Kapitalinteressen und unterliege einer »multikulturellen Blauäugigkeit«. Er schlug der LINKEN auf der Migrationskonferenz vor, den von ihm ausgemachten Kreislauf von »Inwertsetzen, Flüchten und Helfen« beim Helfen zu durchbrechen. All diese und weitere Aussagen bedienen – intendiert oder nicht – rassistische Erzählungen. Dem wurde bereits vor Ort widersprochen, unter anderem durch den LINKEN-Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler, der deutlich machte, dass die LINKE das Helfen niemals unterlassen werde.

Wir wollen nicht hinnehmen, dass solche Positionen Raum auf Konferenzen unserer Partei erhalten. Offene Grenzen für Menschen sind im Gegensatz zur aktuellen Grenzpolitik keine neoliberale Idee. Der Kapitalismus braucht Grenzregime zur Schaffung Profit steigernder prekärer Arbeit. Dies wird gerade durch Entrechtung, unsicheren Aufenthaltsstatus und das so mögliche in Konkurrenz setzen von Arbeiter*innen erreicht. Von dieser Spaltung der Arbeiter*innenklasse profitieren allein die Kapitalist*innen. Eine politökonomische und gesellschaftskritische linke Analyse muss betonen, dass nicht Migration die soziale Ungleichheit und Armut in Deutschland erzeugt, sondern der neoliberale Kapitalismus. Dieser dereguliert seit 30 Jahren Arbeitsverhältnisse, baut soziale Infrastrukturen ab, privatisiert öffentliche Güter, verursacht einen systematischen Niedriglohnsektor, unwürdige Arbeitsbedingungen, Zukunftsangst und hohe Mieten.

Unsere Antwort darauf lautet radikale Umverteilung von oben nach unten, guter Mindestlohn für alle, eine echte Existenzsicherung, Legalisierung aller Einwohner*innen, so dass sie eben nicht zum Löhne drücken eingesetzt werden können, und gemeinsame gewerkschaftliche Organisierung. Als LINKE müssen wir weiterhin und verstärkt Teil von migrantischen und sozialen Bewegungen sein und Solidarität praktisch leben. Wir begreifen die neu Ankommenden als Teil unserer »Klasse« und Teil einer Weltarbeiterschaft im gemeinsamen Kampf gegen rechte und neoliberale Hegemonie. Das verstehen wir unter verbindender Klassenpolitik und wir werden diese Perspektive gemeinsam mit vielen Genoss*innen und Verbündeten weiter starkmachen.

Die Migrationskonferenz war ein Schlagabtausch, aber kein konstruktiver, der uns vorangebracht hätte. Die künftigen Konferenzen müssen – wie es die meisten Referent*innen forderten – sich damit befassen, wie eine progressive zukunftsweisende Migrationspolitik konkret ausgestaltet, wie sie mit der Klassenfrage verbunden und wie die Idee der solidarischen Städte gestärkt und mit Leben gefüllt werden kann.

Elif Eralp ist Mitglied des LINKE-Landesvorstands Berlin. Sofia Leonidakis ist Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft und Mitglied im Parteivorstand der LINKEN. Pazhare Heidari ist Mitglied der LINKEN im Berliner Stadtteil Kreuzberg und zudem Aktivistin bei »Aufstehen gegen Rassismus«. Mahir Türkmen ist Mitglied der LINKEN.

Dieser Artikel von Elif Eralp, Sofia Leonidakis, Pazhare Heidari und Mahir Türkmen erschien zuerst im neuen Deutschland.

Veränderung kommt aus der Gesellschaft

Soziale und emanzipatorische Errungenschaften müssen durch Proteste, zivilen Ungehorsam, Demonstrationen, Streiks und Kämpfe erobert werden

Von Jan van Aken, Raul Zelik, Sofia Leonidakis, Harald Weinberg, Rhonda Koch, Michel Brandt, Nina Eumann und Konstantin Gräfe.

Die AfD sitzt jetzt in allen Landtagen, die extreme Rechte wird international immer stärker. Nach jedem Wahlabend hören wir die Klagen über den Rechtsruck, die Krise linker Parteien und das Fehlen von »Machtoptionen«. Das alles aber ist nur die halbe Wahrheit, denn es gibt durchaus Bewegung für einen linken Aufbruch im Land. Im Moment gewinnen in dieser gesellschaftlichen Polarisierung allerdings vor allem die Grünen.

An #unteilbar haben sich im Oktober in Berlin 240.000 Menschen beteiligt. Bemerkenswert war nicht nur die Größe der Demonstration, sondern auch ihr Ansatz. #Unteilbar wurde von einem breiten Bündnis getragen und verteidigte das Recht auf Unterschiede. Gleichzeitig hat die Demonstration aber auch die gemeinsamen Interessen betont: Soziale Rechte können wir nur gemeinsam gegen die Umverteilung von unten nach oben verteidigen und wir dürfen dabei nicht zulassen, dass das Recht auf Migration und das Recht auf gute Löhne oder bezahlbaren Wohnraum gegeneinander ausgespielt werden.

Auch die Klima- und Umweltbewegung ist extrem ermutigend. In Nordrhein-Westfalen sind in den letzten Wochen immer wieder 50.000 Menschen zusammengekommen, um einen Ausstieg aus der Kohleverstromung und wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel zu fordern. Viele Aktionen haben sich durch kreativen sozialen Ungehorsam ausgezeichnet. Den meisten Klima-AktivistInnen ging es nicht nur um Umweltschutz, sondern auch um Solidarität – nämlich mit den besitzlosen Menschen im globalen Süden, die nicht das Geld haben, sich vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Und den meisten war und ist auch bewusst, dass die Lage für die von Arbeitsplatzverlust bedrohten »Kumpels« dramatisch ist und dass wir solidarische Lösungen brauchen, damit die Bergleute weder in Armut noch in Isolation fallen.

MigrantInnen organisieren sich selbst: In Hamburg haben 35.000 Menschen, viele von ihnen Refugees, für Solidarität und das Recht auf ein gutes Leben – demonstriert? – nein, gefeiert. Ihr Protest war so zuversichtlich und gut gelaunt, wie der rassistische Hass trostlos ist. In Chemnitz waren 65.000 AntifaschistInnen bei einem Konzert, das nicht nur den Rechtsextremismus, sondern auch die soziale Spaltung und den staatlichen Rassismus anprangerte.

Es gibt neue, kreative Streiks! Bei Ryanair haben sich Beschäftigte zu einem internationalen Arbeitskampf zusammengefunden, um die Dumping-Fluglinie RyanAir zu einem Tarifvertrag zu zwingen. Die KollegInnen bei Amazon, einem der größten Konzerne der Welt, kämpfen hartnäckig gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik und für Löhne oberhalb der Armutsgrenze. In Krankenhäusern in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Augsburg haben die Pflegekräfte – viele von ihnen Frauen und EinwandererInnen – wichtige Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen durchgesetzt. Und bei dem Metallunternehmen Halberg Guss wurde im Sommer wochenlang von der Belegschaft gestreikt. Überall hat die Belegschaft die Streiks in die eigenen Hände genommen und mit Leben gefüllt.

Und dann ist da schließlich auch noch die MieterInnenbewegung, die gegen den Lohnraub durch Immobilienfonds und SpekulantInnen kämpft. Es gibt Hunderte von kleinen Kämpfen gegen Mieterhöhungen, Privatisierungen, Luxussanierungen, Kündigungen … Immer wieder organisieren sich Menschen in ihrem Wohnhaus oder Viertel selbst, um die Verdrängung aus den Innenstädten zu stoppen.

Viele Menschen, die in der LINKEN aktiv sind, spielen in diesen Bewegungen eine tragende Rolle. Und viele der Neumitglieder, die der LINKEN in den letzten zwei Jahren beigetreten sind, wollen als LINKE genau diese Politikansätze stark machen. Sie interessieren sich mehr für das konkrete Handeln im Alltag als für die Auftritte von »SpitzenpolitikerInnen« in Talkshows und Parlamenten. Und auch die letzten Wahlkämpfe wurden genutzt, um soziale Kämpfe zu stärken. In Bayern wurden im Landtagswahlkampf mehr als hunderttausend Unterschriften für bessere Pflege gesammelt, davon allein 5.547 im Klinikum Augsburg – in einem einzigen Betrieb! In Frankfurt haben LINKE im Wahlkampf zusammen mit Betroffenen den Volksentscheid gegen hohe Mieten gestartet und demonstrieren Woche für Woche gegen Fluglärm.

Auch wir sind unteilbar

Unser Anliegen ist es, diese bewegungslinke, klassenorientierte Praxis viel stärker sichtbar zu machen. Wir wollen die LINKE erneuern und zu einer demokratischen Mitgliederpartei weiterentwickeln, die vor allem für die Kämpfe im Alltag da ist. Wir sind davon überzeugt, dass es nicht die glorreichen Wahlerfolge der ParteiführerInnen sind, die die Welt verändern. Soziale und emanzipatorische Errungenschaften müssen immer aus der Gesellschaft heraus erobert werden – durch Proteste, zivilen Ungehorsam, Demonstrationen, Streiks, Kämpfe … Das sind die entscheidenden Mittel, um Kräfteverhältnisse zu ändern!

Linken kommt in diesen Kämpfen eine wichtige Bedeutung zu. Unsere Aufgabe ist es, Anliegen zu formulieren, die die Unterschiede zwischen uns nicht leugnen, aber doch das Gemeinsame sichtbar machen. Wir müssen dafür sorgen, dass KlimaschützerInnen und Bergleute, HartzIV-EmpfängerInnen und MigrantInnen, GewerkschafterInnen und Bewegungslinke, Feminismus und Arbeiterbewegung, Junge und Alte zusammen kommen. Wir müssen dazu beitragen, dass gegen die neoliberale Gesellschaft, die stets das Individuum, die Konkurrenz und den Unterschied betont, kollektive Forderungen stark gemacht werden, denn Freiheiten und Rechte lassen sich immer nur gemeinsam erobern.

Das ist es, was viele von uns als »neue Klassenpolitik« bezeichnen: Wir, die wir nicht vom Vermögen leben können, haben starke gemeinsame Interessen: an sicherer Beschäftigung und höheren Löhnen, an kostenlosem Nahverkehr und Krankenhäusern mit mehr Personal, an Renten, die hoch genug sind, dass niemand im Alter Flaschen sammeln muss. An kommunalem und genossenschaftlichem Wohnungseigentum, das den Immobilienfonds die Stadt wieder streitig macht. Wir alle, egal ob Feminist oder Gewerkschafterin oder beides, haben ein Interesse daran, dass der Klimawandel gestoppt wird und der kapitalistische Wachstumszwang als Kern des Problems erkannt wird. Und wir alle, auch diejenigen, die nicht schwul oder schwarz sind, haben ein Interesse daran, dass Schwule oder Schwarze nicht diskriminiert werden, denn Solidarität und rechtliche und soziale Gleichheit machen die Gesellschaft lebenswerter für uns alle. Diese Gemeinsamkeiten zu formulieren – das ist die Aufgabe verbindender Klassenpolitik.

»Aufstehen« ist angetreten, einen gesellschaftlichen Aufbruch über DIE LINKE hinaus in Gang zu bringen. Man will eine »Sammlungsbewegung« sein, bei der die Verteidigung sozialer Grundrechte im Mittelpunkt steht. Dieses Anliegen teilen wir durchaus. Im Unterschied zu »Aufstehen« sind wir allerdings überzeugt, dass Bewegungen nicht durch Proklamationen von oben, sondern durch eine Praxis von unten entstehen.

Dass Sahra Wagenknecht in ihrer herausgehobenen Rolle die Beschlüsse von Partei und Fraktion infrage gestellt und sich unmittelbar vor der bayerischen Landtagswahl von der #unteilbar-Demonstration distanziert hat, haben wir als unerträglich empfunden. Genauso inakzeptabel finden wir es, dass mit Unterstützung der Fraktionsvorsitzenden und anderer Fraktionsmitglieder bundesweite Organisationsstrukturen aufgebaut werden, die auf eine neue Wahlpartei hinauslaufen.

Wir brauchen einen linken Aufbruch! Aber das geht nicht mit Statements, die gegenüber der migrationsfeindlichen Hetze von Rechts rhetorische Zugeständnisse macht. Stärker werden wir dann, wenn wir dagegen halten, konsequent solidarisch sind und uns in bestehenden Kämpfen engagieren.

Die LINKE erneuern

Natürlich muss die LINKE dazu wachsen und sich gleichzeitig noch weiter ändern. Weg von der Dominanz der Parlamentsarbeit, hin zur organisierenden, bildenden und verbindenden Kraft. Wir müssen im Alltag sichtbarer werden. Mehr Initiativen starten, neue Kanäle und Formate nutzen. Mehr ausprobieren und praktisch organisieren. Immer gemeinsam mit anderen aktiv werden, immer etwas lernen. Wir müssen ambitionierter werden, müssen deutlich machen, dass es nicht reicht, »Politik mitzugestalten«, sondern ausstrahlen, dass wir die Republik grundlegend ändern wollen. Eine Partei sein, die gewinnen will.

Um uns in diese Richtung zu entwickeln, haben wir uns als übergreifende Erneuerungsbewegung für klassenorientierte Politik zusammengetan. Wir sind keine neue Strömung, denn das aufreibende Ringen um Wahlprogramme und Listenplätze ist ein Teil unseres Problems. Wir streiten uns zu viel um Anträge und Texte und sprechen zu wenig über praktische Erfahrungen. Wir fragen uns zu wenig, wo die Ansätze der verbindenden Partei überhaupt schon vorhanden sind. Die Organizing-Projekte in Stadtteilen und Betrieben sind klein. Unsere Strukturen in den Kreisverbänden sind zu schwach, die Arbeit hängt an zu wenigen Aktiven.

Doch es gibt auch viele praktische Ansätze, aus denen wir lernen können: Teile der LINKEN sind Bezugspunkt für soziale Bewegungen, manche Kreisverbände haben eine große Verankerung im Alltag vor Ort, durch die Pflege- und Mietenkampagnen hat sich die Perspektive von Parteiarbeit bei vielen Menschen verschoben. Nur so entsteht Sammlungsbewegung: im Alltag, in Bewegungen, in Streiks und Kämpfen.

Als bewegungs- und klassenorientierte LINKE wollen wir diese Erneuerung der Partei anschieben. Weil wir wissen, dass unser Anliegen von vielen in der Partei geteilt wird, wollen wir in den nächsten Monaten mit vielen AktivistInnen und Mitgliedern reden – eintausend Gespräche haben wir uns vorgenommen.

Im Juni 2019 treffen wir uns zu einer bundesweiten Konferenz und tauschen uns über konkrete Erfahrungen und Experimente aus – in den Kampagnen zu Pflege und Miete, in der Stadtteilarbeit, bei der Unterstützung von Streiks oder Refugees, in der Umweltbewegung oder in der Initiative für einen Frauenstreik.

Aber schon jetzt werden wir uns als Bewegungslinke stärker einmischen.

Die Autor*innen sind alle Poltiker*innen bei der LINKEN

Migrationsabkommen: Nicht Sargnagel, sondern Fortschritt

Warum der geplante UN-Migrationspakt aus linker Sicht durchaus Fortschritte bringt, die es gegen die Attacken von rechts zu verteidigen gilt.

von Jules El-Khatib, Sofia Leonidakis, Niema Movassat und Igor Gvozden.

In der Partei DIE LINKE wird wieder einmal über Migration diskutiert. Auslöser ist der von den Vereinten Nationen geplante Migrationspakt[1]. Kritik an der Entscheidung der Bundesregierung, dieses zu unterzeichnen, kommt vor allem von rechts[2]. Aber auch in dem von Sahra Wagenknecht verschickten Newsletter empfiehlt sie den Leser*innen zwei Artikel, die sich kritisch mit dem UN-Migrationsabkommen beschäftigen. Der eine stammt vom Wirtschaftsjournalisten Norbert Häring und trägt den Titel »Das Migrationsabkommen als letzter Sargnagel für die linken Parteien«[3], der andere ist ein Interview mit dem Historiker Hannes Hofbauer[4], laut dem Migration angeblich vor allem den Interessen der Unternehmen dient. In beiden Artikeln wird berechtigterweise auf die Frage eingegangen, warum große Konzerne wie auch westliche Industriestaaten das Migrationsabkommen befürworten.

So wird argumentiert, dass durch das Abkommen Ausbildungskosten gespart würden, da die Migrierenden in ihren Herkunftsländern ausgebildet werden und diese Ausbildung dann im Westen genutzt wird. Zum anderen kämen vorwiegend junge Menschen, die kaum Kosten für den Sozialstaat verursachen, gleichzeitig aber den Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung an der immer älter werdenden Gesamtbevölkerung erhöhten. So weit, so richtig, beide Punkte haben ihre Berechtigung. Die Schlussfolgerung, dass das Migrationsabkommen der Sargnagel der Linken wäre, ist aber fatal.

Positive Aspekte des Abkommens

Denn das Abkommen beinhaltet wichtige Punkte, die es für Linke zu verteidigen gilt. Für alle Migrantinnen und Migranten sollen die Menschenrechte gelten, unabhängig von dem Ort, an dem sie sich befinden. Dies würde einen qualitativen Fortschritt im Verhältnis zur aktuellen Situation darstellen, in der Migrierende weltweit entrechtet werden. Darüber hinaus sollen arbeitende Migrant*innen besser gegen Ausbeutung, Missbrauch und die Verletzung von Menschen- und Arbeitsrechten geschützt werden. Dies wäre auch ein Fortschritt für alle Eingewanderten aus außereuropäischen oder europäischen Ländern, die in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, in Schlachtfabriken, in der Reinigung oder Gastronomie ausgebeutet werden.

Das Abkommen stellt darüber hinaus klar, dass es keine rechtlichen Unterschiede bei Sozialleistungen geben soll. Bei unterstützenden staatlichen Leistungen sind Migrant*innen nicht zu benachteiligen, heißt es in dem Dokument. Mit einer solchen Positionierung würde auch die aktuelle Praxis in vielen EU-Ländern angegangen, die vor allem Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa ausschließen und benachteiligen.

Negative Aspekte des Abkommens

Es gibt am Abkommen Kritikpunkte, die von links angesprochen werden müssen. So fehlt eine entschiedene Positionierung gegen Fluchtursachen. Auch leidet das Abkommen an den mangelnden Verpflichtungen. Denn statt einer Rechtsverbindlichkeit stellt das Abkommen eine Absichtserklärung dar und zwingt die Staaten somit nicht, die positiven Punkte umzusetzen. Statt also verbindliche Regeln durchzusetzen, auf die sich Migrierende berufen können, bleibt es bei schönen Worten.

Doch diese schönen Worte können in den innerstaatlichen Debatten genutzt werden, um die Regierenden zu ihrer Durchsetzung zu drängen. Gleichzeitig hat die Linke natürlich immer die Möglichkeit zu kritisieren, wenn Konzerne Migrantinnen und Migranten zu schlechteren Bedingungen einstellen wollen. Sich aber gemeinsam mit rechten Regierungen gegen ein Abkommen zu stellen, so wenig verbindlich es auch sein mag, wird die Situation nicht verbessern.

Statt das Abkommen als Sargnagel zu bezeichnen und in ihm einen Deal für die Interessen von Großkonzernen zu sehen, ist es entscheidend zu betrachten, welche Folgen es für die Menschen hätte, die migrieren oder fliehen. Für sie wäre das Abkommen, wenn es denn ernst genommen würde, eine deutliche Verbesserung. Denn es würde ihnen Rechte und Schutz garantieren, an denen es ihnen in viel zu vielen Ländern auf der Welt mangelt.

Das Abkommen ist kein sozialistisches Projekt, doch mit Sicherheit ist es auch kein Sargnagel, vielmehr ist es ein kleiner Schritt in die richtige Richtung auf dem Weg in eine Gesellschaft in der Migrantinnen und Migranten die gleichen Rechte haben.

Und genau das muss unser Ziel sein als LINKE. Wenn wir universelle soziale Rechte einfordern, dann müssen die für alle gelten. Wenn Hofbauer in seinem Interview von »ständigem Import billiger und williger Arbeitskräfte« redet, ist das in mehrerer Hinsicht falsch. Erstens tut er so, als würden Menschen einwandern, weil sie »importiert« werden. Schon die Wortwahl ist herabwürdigend, aber auch die dahinterstehende These ist verkehrt. Niemand kommt weil er oder sie angezogen wird von einer, offenbar für liberal gehaltenen Grenzpolitik. Die Einwanderungspolitik ist nicht zu liberal, sondern zu restriktiv. Wenn Flüchten illegalisiert ist und das Leben dafür riskiert werden muss, wenn es sehr wenige legale Einwanderungswege gibt, dann kann man nicht von »Import« sprechen. Und unsere Antwort auf die Problematik, dass nicht ausschließlich, aber tendenziell eher jüngere, gesunde, bessergestellte Menschen nach Europa flüchten können, muss sein, legale Fluchtwege zu fordern. Wir stehen zu dem Recht sicher zu gehen, aber auch bleiben zu können. Daher müssen selbstverständlich die Fluchtursachen stärker bekämpft werden, denn niemand flüchtet freiwillig. In dem Zusammenhang die Fluchtbewegung von 2015/2016 als »große Wanderung der Muslime« zu bezeichnen, ist schlicht daneben. Denn die Flüchtenden suchen nicht Schutz weil sie Muslime sind, sondern weil sie in ihren Ländern nicht in Sicherheit leben können.

Es stellt sich daher die Frage, warum solche Bilder überhaupt bemüht werden. 2015 war ja kein Jahr außerordentlich umfangreicher Vertreibung. Der einzige Unterschied zu den Jahren davor und danach war, dass die Flüchtenden auch in Europa ankamen. Die konkrete Antwort darauf, wie eine linke Migrationspolitik aussehen könnte bis zur vollständigen Beseitigung der Fluchtursachen, die bleiben die Autoren schuldig. Es ist – leider- unrealistisch davon auszugehen, dass unsere Forderung der Beseitigung von Fluchtursachen vor der unmittelbaren Umsetzung steht. Wir werden uns dennoch weiter dafür einsetzen, aber bis dahin braucht es Antworten auf die drängenden Fragen. Denn täglich sterben Menschen in der Sahara und im Mittelmeer, werden Geflüchtete interniert, gefoltert, versklavt und entrechtet.

Wir finden es befremdlich, dass die Vorsitzende der Bundestagsfraktion unserer Partei, der LINKEN, Artikel zum Lesen empfiehlt, in denen wir Migrantinnen und Migranten als quasi sprachlose Importware und Naturereignisse, die wellenartig über Europa hereinbrechen, dargestellt werden. Wir können gerne über Gemeinsamkeiten in unseren Analysen sprechen und darüber, wie wir die Ausbeutung, die unsere Eltern erleben, zukünftigen Generationen ersparen können. Wir lassen uns aber nicht degradieren. Auch wir haben eine Stimme, und wir begrüßen jeden Schritt, der unseren Alltag, den unserer Kinder und derjenigen, die heute flüchten, verbessert.

Jules El-Khatib, stellvertretender Landessprecher LINKE.NRW, Sofia Leonidakis, Mitglied im Parteivorstand und fluchtpolitische Sprecherin der Linken in der bremischen Bürgerschaft, Niema Movassat, Mitglied des Bundestags, Igor Gvozden, Mitglied im Landesvorstand der LINKEN.NRW.