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Argumente zum Mitgliederentscheid zur Wahl von Parteivorsitzenden

Ein Mitgliederentscheid möchte erreichen, dass die Parteivorsitzenden zukünftig per Urwahl gewählt werden, statt wie bislang auf einem Bundesparteitag. Ob man sich für ein solches Verfahren ausspricht oder dagegen, darf dabei nicht von der aktuellen oder prognostizierten Kandidat*innenlage abhängig gemacht werden. Die Bewegungslinke will die Partei erneuern und setzt sich dabei auch für die Demokratisierung der Strukturen ein. In diesem Sinne haben wir uns mit den Argumenten auseinandergesetzt und kommen zu dem Schluss: Eine Urwahl würde die von uns schon kritisch wahrgenommene Tendenz verstärken, über TVProminenz zu sprechen und reale Beteiligung noch zu verringern.

Vorab: Grundsätzlich unterscheiden sich die Erwartungen an die Funktion der Parteivorsitzenden und die Spitzenkandidat*innen für den Bundestagswahlkampf. So ist es für einen großen Teil der Mitgliedschaft unabdingbar, dass die Pluralität der Partei auch in ihrem Spitzenpersonal abgebildet wird. Während bei den Parteivorsitzenden aber Fähigkeiten wie Vermittlungsfähigkeiten und Kommunikation in die Partei stärker erfordert werden, spielt die mediale Präsenz bei Spitzenkandidat*innen eine größere Rolle. Ohne ins Detail zu gehen, bleibt festzuhalten, dass aufgrund der unterschiedlichen Erwartungen auch möglicherweise unterschiedliche Verfahren zur Wahl des Spitzenpersonals sinnvoll sind. Im Folgenden geht es um den aktuellen Vorstoß bezüglich der Wahl der Parteivorsitzenden.

Unsere Bewertung der gängigen Argumente:

Argument 1: Attraktive Strategiedebatten über Personalwahlen?

Die Initiator*innen des Antrags bemängeln, die Partei wirke seit einiger Zeit gelähmt. Es sei notwendig, die Partei zusammenzuhalten und zu erneuern. Mit einer Urwahl könne auch die in der Vergangenheit öffentlich ausgetragene Diskussion um das Spitzenpersonal beendet werden. Stattdessen biete eine Urwahl die Chance, dass strategische Fragen endlich diskutiert und entschieden würden. Auf der Gegenseite heißt es wiederum, dass bei einem solchen Verfahren von strategischen und inhaltlichen Fragen abgelenkt würde, weil nur noch über Personen gesprochen werde.

Gegen beides ließe sich einwenden: Personelle und inhaltliche Fragen lassen sich nicht trennen, auch wenn die innerparteiliche Diskussion zu häufig und zu stark auf Persönliches fokussiert, wo viel stärker über strategische Differenzen diskutiert werden sollte. Die Konflikte der letzten Jahre, die von interessierten Kreisen auf persönlichen Streit reduziert wurde, sind dafür beispielhaft: Es ging sehr wohl unter anderem um den Umgang mit dem Rechtsruck in Deutschland, um Migration und Asylrechte sowie um das Selbstverständnis als sozialistische Mitgliederpartei.

An diesen Diskussionen haben sich auch die Spitzen von Fraktion und Partei beteiligt. Die Parteivorsitzenden haben dabei ihre Positionen mehrfach auf Parteitagen zur Debatte und Abstimmung gestellt, wo sie von den Delegierten mit großer Mehrheit beschlossen wurden, etwa in Form des Wahlprogramms oder als Leitanträge.

Eine Personaldebatte um den Parteivorsitz kann keinen gleichwertigen Ersatz bilden für die strategischen und programmatischen Diskussion, die eine sozialistische Mitgliederpartei beständig führen muss – und zwar von unten nach oben. Völlig unabhängig davon, wer sich bei einer wie auch immer gearteten Personalwahl durchsetzt: Er oder sie hat das Programm der Partei zu vertreten, welches die Mitgliedschaft auf Parteitagen beschließt.

Es ist selbstverständlich denkbar, dass über einen Mitgliederentscheid ein Wettstreit über politische Forderungen ausgerufen und nicht nur über Lieblingstier und Leibgericht der Kandidat*innen gesprochen wird. Personelle Debatten schließen strategische Diskussionen nicht per se aus. Eine Wahl über einen Mitgliederentscheid kann aber trotzdem die ohnehin vorhandene Fixierung auf Spitzenfunktionäre noch verstärken. Das birgt die Gefahr, dass die Bedeutung einzelner Personen gegenüber der breiten Mitgliedschaft noch größer wird. Dieses Ungleichgewicht entsteht ohnehin mit Blick auf die weiteren Vorstandsmitglieder, die anders als die Vorsitzenden auf einem Parteitag gewählt würden. Was für viele längst Normalität, sieht die Satzung eigentlich anders vor, denn da steht in § 19, dass der Parteivorstand als Ganzes das politische Führungsorgan der Partei ist.

DIE LINKE als sozialistische Mitgliederpartei muss auf kollektive Führung setzen, nicht auf die charismatische Herrschaft durch Einzelpersonen. Dass auf Parteitagen die Vorsitzenden sowie ihre Stellvertreterinnen und Stellvertreter, der Schatzmeister oder die Schatzmeisterin sowie die Bundesgeschäftsführerin oder der Bundesgeschäftsführer in Einzelwahlen gewählt werden, schwächt bereits das Prinzip der gemeinschaftlichen Führung. Ein Mitgliederentscheid zur Wahl der Vorsitzenden bräche mit diesem Prinzip vollends.

Argument 2: Öffentlichkeit und mediale Präsenz für die Partei?

Eine weitere Hoffnung, die im Zuge der Debatte für eine Urwahl sprechen soll, ist eine hohe Öffentlichkeit und mehr mediale Präsenz für DIE LINKE. Dabei wird oft auf andere Parteien verwiesen. Nun darf gezweifelt werden, ob sich die bürgerlichen Medien für eine solche Wahl bei der LINKEN ebenso interessieren wie bei SPD und Grünen, aber das ist spekulativ. Ebenso spekulativ ist, ob eine Urwahl die Partei für Medien und potenzielle Mitglieder interessanter macht oder ob sich die Medien vor allem für das Konfliktpotenzial interessieren, welches potenzielle Mitglieder dann eher abschreckt.

Was aber weniger spekulativ ist: Bei einer Urwahl können sich Kandidat*innen mit entsprechenden Ressourcen ziemlich heftige Vorteile verschaffen. Nicht nur, dass sich zwangsläufig weniger Mitglieder bei Regionalkonferenzen informieren werden, als über den Politikteil von Springer, Gruner & Jahr oder Holtzbrinck und so der direkte Draht zur Chefredaktion an die Stelle der aufrechten Diskussion in den Gremien der Partei tritt. Statt Diskurs und Dialog gibt es dann Monolog der politischen Prominenz vermittelt über TVFormate und Tageszeitungen. Die jüngere Geschichte zeigt, dass nicht selten die bürgerlichen Medien und ihre Kampagnen die Personalentscheidungen linker Parteien maßgeblich beeinflusst haben. Auch bevorzugt das Modell des Mitgliederentscheids die Kandidatur von Menschen, die über ausreichend Mittel verfügen, um eine solche innerparteiliche Kampagne zu stemmen. Wer berufstätig ist, muss lange Urlaub nehmen, um als Kandidatin oder als Kandidat an Regionalkonferenzen, Diskussionsrunden und Talks vor Ort teilnehmen zu können. Wer über viel Geld verfügt, kann für sich – auch innerparteilich – deutlich wirksamer die Werbetrommel rühren.

Manche befürchten angesichts eines solchen innerparteilichen Wahlkampfes schon monatelang andauernde Selbstbeschäftigung. Nach den Erfahrungen der letzten beiden Jahre ist verständlich, dass dieses Szenario Panik auslöst. Aber: Dass es anstrengend sein könnte und Aufwand bedeutet, egal ob zeitlich oder finanziell, sollte kein Argument gegen demokratische Verfahren sein, sofern man ansonsten von dem Verfahren überzeugt ist. Daher ist die wichtigste Frage vermutlich die, ob es tatsächlich zur Demokratisierung der Partei beiträgt.

Argument 3: Demokratisierung dank Einbeziehung der Basis?

Zweifellos würden bei einer Urwahl mehr Mitglieder in die Entscheidung über die Parteivorsitzenden einbezogen als bei einer reinen Wahl auf dem Bundesparteitag. Es gibt aber keinen Automatismus, dass deswegen die Repräsentativität steigt. Die Delegierten auf dem Parteitag werden durch Kreisverbände entsendet, die entsprechend ihrer Mitgliederzahlen Delegiertenmandate erhalten. Jede*r Delegierte*r vertritt in etwa gleich viele Mitglieder auf dem Bundesparteitag – und im Idealfall auch deren Interessen. Bei einer Urwahl hängt die Beteiligung nicht zuletzt auch davon ab, wer wo und wie erfolgreich mobilisiert. Dass das wiederum stark von den individuellen Kapazitäten und Ressourcen der Kandidat*innen abhängt, wurde bereits erläutert und lässt erhebliche Zweifel aufkommen, ob es sich um ein demokratischeres Verfahren handelt.

Es kommen weitere Schwierigkeiten hinzu: Ein Bundesparteitag gibt die Chance, Nachfragen oder Kritik an Kandidat*innen zu äußern – und eine Antwort vor eben denen zu erhalten, die auf Grundlage der gleichen Wissensbasis die Wahl durchführen. Auch wenn es bei einer Urwahl Möglichkeiten gibt, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, so dürfte es schwierig sein, einen Ablauf zu garantieren, wonach diese Informationen all jene bekommen, die am Ende postalisch ihr Votum abgegeben. Auch Regionalkonferenzen sorgen für einen Austausch immer nur in einem begrenzten Rahmen, den nicht alle Mitglieder wahrnehmen werden.

Ein Bundesparteitag bietet zudem die Möglichkeit, Ausgleich vorzunehmen – und Erfahrungen vergangener Bundesparteitage zeigen, dass die Abbildung der Pluralität der Partei in ihrem Führungspersonal einem Großteil der Delegierten stets ein Anliegen war. Konkret: Wenn zunächst Kandidat 1 mit Profil A gewählt wurde, kann das Mitglied bei Kandidat 2 auf ein anderes, ergänzendes Profil B Wert legen. So verhindert ein Parteitag, dass sich beispielsweise nur ein Flügel bei der Wahl der Parteivorsitzenden durchsetzt. Wenn ein Mitglied bei einer Urwahl nicht weiß, welche Kandidat*innen die besten Aussichten haben, ist es gezwungen, nur ihm politisch nahestehende Kandidat*innen zu unterstützen, selbst wenn es nicht will, dass diese sich dann beide knapp durchsetzen, sondern eine plurale Kombination bevorzugt. Eine solche Zwickmühle ließe sich nur durch TeamVorschläge verhindern, nur verstößt das wiederum gegen unsere Wahlordnung. Die sieht vor, dass es das individuelle Recht eines Mitglieds ist, ohne Vorbedingungen für den Vorsitz zu kandidieren – ohne einen Teampartner präsentieren zu müssen und auch ohne die Unterstützung durch mindestens einen Landesverband, fünf Kreisverbände oder 1000 Parteimitglieder.

Unser Fazit: Dass ein Mitgliederentscheid demokratischer wäre, darf also mindestens bezweifelt werden. Er ist es unserer Meinung nach nicht. Das bisherige Verfahren, die Wahl bei einem Bundesparteitag, ist demokratischer und sollte daher beibehalten werden.

 

 

 

Anhang:

Hintergrund:

Anfang August 2019 haben 18 Mitglieder der Partei DIE LINKE eine Initiative gestartet, mit der sie gemäß § 8 der Satzung die Wahl der nächsten Parteivorsitzenden durch einen Mitgliederentscheid (Urwahl) erreichen wollen (statt durch den Bundesparteitag). Der Antragstext lautet:

„Der Parteivorstand beteiligt die Mitglieder der LINKEN im Vorfeld der Wahl des Parteivorstands auf dem ordentlichen Parteitag 2020 unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben an der Entscheidung über die beiden Parteivorsitzenden. Hierfür wird ein Mitgliederentscheid bzw. eine Urabstimmung über herausgehobene Personalfragen gemäß § 8 der Bundessatzung unserer Partei durchgeführt“.

Darüber hinaus hat es in den letzten Jahren auch wiederholt die Forderung gegeben, dass künftig die Spitzenkandidat*innen für Bundestagswahlen in einer Urwahl bestimmt werden sollen, statt wie bislang durch einen Beschluss des Parteivorstandes, nach Vorschlag der Parteivorsitzenden.*

Rechtliche Situation:

Die Satzung hält in § 8 fest, dass Mitgliederentscheide stattfinden können „(z)u allen politischen Fragen in der Partei, einschließlich herausgehobener Personalfragen“. Bei der Wahl der Parteivorsitzenden handelt es sich um herausgehobene Personalfragen, denn sie vertreten laut § 20 „die Partei gerichtlich und außergerichtlich und können für Rechtsgeschäfte Vollmachten erteilen“. Zwar schränkt die Satzung ein: „Soweit das Parteiengesetz eine Aufgabe zwingend dem Parteitag zuweist, hat der Mitgliederentscheid empfehlenden bzw. bestätigenden Charakter für die Entscheidung des Parteitags“. Im Parteiengesetz ist in § 9 unzweideutig festgelegt: „Der Parteitag wählt den Vorsitzenden“. Das bedeutet für einen Mitgliederentscheid zur Wahl von Parteivorsitzenden, dass das Ergebnis dieses Entscheids eine durch die Mitgliedschaft demokratisch legitimierte Empfehlung an den Parteitag darstellt. Die tatsächliche Wahl findet – in Übereinstimmung mit dem Parteiengesetz – durch einen Parteitag statt. Dabei würde es sich dann voraussichtlich nur noch um eine Bestätigung des Ergebnisses des Mitgliederentscheids handeln.

In dem Antrag, wie er vorliegt, wird zudem festgeschrieben, dass zur Wahl nur Teams, die das Kriterium der Mindestquotierung erfüllen, zugelassen werden sollen. Dass jedoch nur Tandems kandidieren dürfen, schränkt die individuellen Rechte eines jeden Mitglieds ein, da Einzelbewerbungen ausdrücklich ausgeschlossen werden. In der Ordnung für Mitgliederentscheid ist festgelegt, dass für die Durchführung des Mitgliederentscheids die Wahlordnung gilt. Dort heißt es in § 7 – ähnlich wie in § 4 der Satzung: „Jedes Parteimitglied kann Wahlvorschläge unterbreiten oder sich selbst bewerben.“ Wenn aber ein Mitglied nur unter der Voraussetzung kandidieren kann, dass es einen Teampartner für den Wahlantritt überzeugt, so ist das individuelle Mitgliedsrecht eingeschränkt.

Hinzu kommt, dass laut des Antrags ein Team, um für eine Kandidatur überhaupt zugelassen zu werden, auf die Unterstützung angewiesen sein soll durch mindestens einen Landesverband, fünf Kreisverbände oder 1000 Parteimitglieder. Auch diese Anforderung widerspricht der Formulierung in der Wahlordnung, die keine Vorbedingungen stellt.

Kosten:

Inklusive der Regionalkonferenzen, der Druckkosten für die Wahlunterlagen und des Portos muss angesichts von zwei möglichen Wahlgängen mit Kosten von bis zu 500.000 Euro gerechnet werden, Personalkosten nicht mit einbezogen. Die Mittel für einen bundesweiten Mitgliederentscheid werden solidarischen von der Bundespartei und den Landesverbänden getragen. Bezüglich der anfallenden Kosten ist die Satzung in § 8 eindeutig: „Die Kosten eines Mitgliederentscheids tragen alle Gebietsverbände gemeinsam“. Geht man davon aus, dass es sich nicht um ein einmaliges Verfahren handelt, müsste ein solcher finanzieller Aufwand entsprechend der alle zwei Jahre stattfindenden Wahlen Eingang in die Finanzplanung aller Gliederungen finden.

*Kurzer Exkurs: Mitgliederentscheid zur Wahl von Spitzenkandidat*innen zur Bundestagswahl

Mitunter wird in der Partei DIE LINKE zudem über die Möglichkeit diskutiert, die Spitzenkandidatin und den Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl mittels Mitgliederentscheid zu wählen. Ein solcher Mitgliederentscheid unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von einem Mitgliederentscheid zur Wahl von Parteivorsitzenden. Es geht um eine personalpolitische Machtfrage.

Weder das Bundeswahlgesetz noch das Parteiengesetz noch unsere Satzung kennen die Funktion der Spitzenkandidatin oder des Spitzenkandidaten. Zur Bundestagswahl treten Parteien mit Landeslisten an, auf denen die Reihenfolge der Kandidatinnen und Kandidaten durchnummeriert ist. Folglich stellt (fast) jede Partei in (fast) jedem Bundesland eine Spitzenkandidatin oder einen Spitzenkandidaten auf, nämlich diejenige Person, die die Landesliste anführt. Der Begriff der Spitzenkandidatur bei Bundestagswahlen stellt eine Erweiterung des Begriffs der Kanzlerkandidatin oder des Kanzlerkandidatin dar, ebenfalls eine Funktion, die sich in keinem Gesetz und keiner Satzung finden lässt. Beide Phänomene sind ein Resultat der Bedürfnisse der medialen Öffentlichkeit, die eine starke Tendenz zur Personalisierung von Politik und mithin von Wahlkämpfen hat. Realiter geht es bei Spitzenkandidaturen darum, dass Parteien festlegen, welche Personen im Wahlkampf, auf Großflächenplakaten und in TV-Talkshows, besonders präsent sein sollen. Es handelt sich aus diesen Gründen in erster Linie um eine werberische Funktion. Denn auch wenn es eine Art Automatismus zu sein scheint: Spitzenkandidat*innen müssen nicht zugleich Fraktionsvorsitzende werden, zumal die Anforderungen an die Führung einer Fraktion ganz andere sein können (gar sollten) als an das Spitzenpersonal im Wahlkampf.

Die Satzung unserer Partei hält in § 8 fest, das Mitgliederentscheide stattfinden können „(z)u allen politischen Fragen in der Partei, einschließlich herausgehobener Personalfragen“. Ob eine werberische Funktion die Voraussetzungen für eine „herausgehobene Personalfrage“ erfüllt, darf bezweifelt werden. Hinzu kommt, dass die Mittel, die für einen solchen Mitgliederentscheid notwendig sind, mit schätzungsweise 100.000 bis 200.000 Euro aus dem Wahlkampfbudget beglichen werden müssten.

In der Vergangenheit hat DIE LINKE sich den medialen Erwartungen angepasst und ist bei Bundestagswahlen mit Spitzenduos respektive Spitzenteam aufgetreten. Vorgeschlagen wurden diese Genoss*innen durch den Parteivorstand – nach manchmal kurzer und einmütiger, manchmal langer und konfliktträchtiger Diskussion. Auf einem Parteitag, der über das Programm zur Bundestagswahl entschied, wurden sie per Akklamation bestätigt. Eine freie, geheime und gleiche Wahl, bei der sich mehrere Kandidat*innen hätten bewerben können, fand bislang nie statt. Bei der Bundestagswahl 2009 führten Oskar Lafontaine und Gregor Gysi DIE LINKE im Wahlkampf. Im Jahr 2013 war es ein Team bestehend aus insgesamt acht Personen (Jan van Aken, Dietmar Bartsch, Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Diana Golze, Gregor Gysi, Caren Lay und Sahra Wagenknecht). Im Wahlkampf 2017 stand mit Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch erneut ein Duo im Rampenlicht des Wahlkampfs.

Innerparteiliche Machtfragen

Bei der Diskussionen um die Spitzenkandidaturen zur Bundestagswahlen geht es, zumindest bislang, nicht um programmatische oder strategische Fragen. Noch niemand hat die Forderung aufgestellt, dass die per Mitgliederentscheid bestimmten Spitzenkandidat*innen über das Wahlprogramm entscheiden sollen. Die Diskussion und Beschlussfassung über das Wahlprogramm, inhaltliche Richtschnur für die Arbeit der zukünftigen Abgeordneten, obliegt weiterhin den Delegierten eines Parteitags.

Hinter der Diskussion um die Spitzenkandidaturen verbergen sich andere Fragen: Wer sitzt der neuen Bundestagsfraktion vor? Wer hat somit Zugriff auf die umfangreichen Ressourcen einer Fraktion im Bundestag, bis hin zu Ministerposten, sollte DIE LINKE sich an einer Regierung beteiligen? Auch hier gelten viele der oben bereits genannten Argumente bezüglich des Einflusses, den etwa Medien auf solche Personalfragen nehmen – gerade auch im Zuge einer Urwahl, bei dem angeblich die Basis mehr Einfluss haben würde.

Mehr Transparenz, mehr Teilhabe

Einer sozialistischen Mitgliederpartei stünde es gut zu Gesicht, wenn über solche Machtfragen breit diskutiert und demokratisch entschieden würde. In der Gegenwart ist es so, dass über den Fraktionsvorsitz ausschließlich die wenigen Dutzend Abgeordneten der Bundestagsfraktion befinden, nicht aber die vielen tausend Mitglieder, die zuvor den Wahlkampf gestemmt haben. Sie werden auch dann nicht einbezogen, wenn Ministerien mit Ministerinnen und Ministern sowie Staatssekretärinnen und Staatssekretären bestückt werden. Für diese Entscheidungen demokratische Prozesse zu entwickelt, die gleichermaßen Transparenz und Teilhabe ermöglichen, ist eine große Herausforderung für eine linke Partei. Dabei steht nicht der Mitgliederentscheid über die formal bedeutungslosen Spitzenkandidaturen an erster Stelle, sondern eine intensive und ehrliche Debatte über mehrere Wege, die Entscheidungsprozesse über herausgehobene Personalfragen innerparteilich zu demokratisieren.

Ab heute das Comeback angehen

DIE LINKE hat bei den Wahlen in Brandenburg und Sachsen mächtig verloren. Während sich einige nur damit beschäftigen, wie sie aus der misslichen Lage den größten persönlichen Profit schlagen können, wollen wir konkrete Vorschläge für eine strategische Umorientierung der Partei im Osten (aber nicht nur da) machen. Dafür müssen wir auch ehrlich und möglichst nicht instrumentell à la „wie ich schon immer wusste“ Probleme benennen, aber eben auch mögliche Auswege vorschlagen. Während die politische Auswertung noch andauert, wollen wir erste Vorschläge machen (die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben):

1. Strukturelle Defizite

Seit vielen Jahren verlieren wir im Osten Mitglieder, vor allem aufgrund der historisch bedingten Überalterung. Das hat Folgen für die flächendeckende Verankerung, es macht sich nicht nur in den Wahlkämpfen bemerkbar, sondern vor allem auch dazwischen. Obwohl wir zwar im Osten immer noch mehr Mitglieder, Mandatsträger*innen und entsprechend bessere Ressourcen für die Parteiarbeit haben, beobachten und spüren Mitglieder seit Jahren den schrittweisen Verlust von Strukturen, sind zunehmend demoralisiert. Aus unterschiedlichen Gründen ist es noch nicht gelungen, für neue, breite Bevölkerungsschichten attraktiv zu sein und diese für die Arbeit in und bei der Partei zu gewinnen. Es braucht daher dringend eine Kampagne zur Gewinnung neuer Mitglieder, die über das Verteilen eines Imageflyers hinausgeht. Und die Partei muss im Alltag der Menschen stärker wahrgenommen werden, als Akteur in sozialen Bewegungen und lokalen Initiativen, mit offenen Stadtteilläden statt Büros, die mitunter eher wie ein Museum anmuten.
Dafür sollten wir voneinander lernen: Was machen Kreisverbände (auch im Osten, auch in der Fläche) besser, die Mitgliederzuwächse verzeichnen können? Was wünschen sich neue Mitglieder von den lokalen Parteistrukturen? Wo gibt es bei der Partei schon Orte der Begegnung und Solidarität, offene Geschäftsstellen, die zum Mitmachen einladen? Es muss auch in den Landesverbänden selbst eine größere Offenheit für neue Formate und andere Formen der Parteiarbeit geben. Das alles wird nicht leichter angesichts deutlich weniger zur Verfügung stehender Ressourcen nach diesen Wahlen (in Sachsen droht angesichts einer strukturellen Zweidrittelmehrheit für CDU und AfD auf Landesebene und ähnlichen Verhältnissen in der Provinz sogar ein noch aggressiverer Kulturkampf um jedes halbwegs alternative Projekt).

2. Empowerment statt Stellvertretung

Lange Zeit galt DIE LINKE im Osten als Volkspartei, legte viel Wert auf das Image als Kümmererpartei, welches vielen Mitgliedern im Westen fremd war. Dabei ist das Problem selbstredend nicht der Anspruch, sich um die Anliegen der Menschen kümmern zu wollen. Zum Problem wird es dann, wenn dahinter eine Herangehensweise an Politik steht, das auf Stellvertreter*innentum statt auf Selbstorganisierung setzt, und Illusionen stärkt statt bekämpft, was die Partei für sie tun kann. Der Unterschied ist der: DIE LINKE Berlin hat in ihrem letzten Wahlkampf gefragt: „Wem gehört die Stadt?“ – und die Antwort war ungefähr diese: ohne eine engagierte, kämpfende Stadtgesellschaft wird man nichts reißen. Dem gegenüber steht das häufig geäußerte: „Wir machen das (für euch)“ (das im Osten ausgeprägter als im Westen, aber keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal ist, auch in Bremen wurde zuletzt ähnliches plakatiert). Abgesehen davon, dass man diese selbst geschürte Erwartungshaltung selten bedienen kann, macht uns ein solcher Habitus auch in der Art und Weise Politik zu machen, wenig unterscheidbar von anderen Parteien. Wir wollen ja nicht nur das Sprachrohr von Protest und Unzufriedenheit im Parlament sein (und automatisch aufgeschmissen, wenn der Protest ausbleibt), sondern den Widerstand auch selbst organisieren und die Unzufriedenheit kanalisieren. Wir kämpfen mit den Menschen, nicht nur für sie.

3. Zuspitzen und Konflikte schüren

Ein großes Problem ist, dass die Partei in vielen Landesverbänden – Brandenburg und Sachsen stehen an der Stelle exemplarisch dafür – kaum bis gar nicht mit einer konkreten Forderung in Verbindung gebracht wird. Darüber hinaus waren die Diskussionen um Schuldenbremse und Kreisgebietsreform, die unklare Haltung Brandenburgs bei der Braunkohle bzw. die Zustimmung beim Polizeigesetz sicher nicht hilfreich, Wähler*innen zu halten, geschweige denn, Menschen neu von der LINKEN zu überzeugen (wir haben dabei auch junge, engagierte Parteimitglieder verloren, die jahrelang zum Rückgrat ihres Kreisverbandes gehörten). Die Leute fragen sich aber auch unabhängig von diesen Streitthemen: Warum sollen sie DIE LINKE wählen?
Wir müssen die Menschen als Akteur in einem gesellschaftlichen Konflikt adressieren. So wie aktuell die Mieter*innen in Berlin. Der Kampf um bezahlbare Mieten ist ein Klassenkonflikt, in dem sich die Partei mit der Immobilienlobby und zum Teil auch mit den Koalitionspartnern anlegt. Gewöhnt ist man dagegen häufig das Bedürfnis, als LINKE zu beweisen, dass man auch regieren kann, dabei verlässlich und bodenständig ist. Wer aber bereits den Konflikt mit konkurrierenden Parteien fürchtet, wird sich schon gar nicht mit dem Kapital anlegen. Die Partei muss – gemeinsam, voneinander lernend – zuspitzen und Konflikte schüren und weitertreiben. Und anerkennen, dass man politische Erfolge auch aus der Opposition erreichen kann, regieren allein noch keine Machtoption ist. Alles andere macht bescheiden, und bescheiden waren wir lang genug.

4. Allein machen sie dich ein

Uns begegnet immer wieder ein weit verbreitetes Vorurteil, man könnte es einen Mythos nennen: Bewegungsorientierung schön und gut, aber im Osten gibt es keine Bewegungen. Auch wenn große Teile der ostdeutschen Bundesländer historisch bedingt eine sehr geringe gewerkschaftliche Bindung aufweisen (niedrige Zahl von Betriebsräten, Schlusslicht bei Tarifbindung, geringere Tariflöhne als in den westlichen Bundesländern), haben die vergangenen Entwicklungen bei den Tarifkämpfen, zum Beispiel in der Pflege- und Dienstleistungsbranche, womöglich eine neue Phase gewerkschaftlicher Organisierung eingeleitet. Wo allzu oft ein „Jammer-Ossi“ vermutet wird, findet man Beschäftigte mit gestiegenem Selbstbewusstsein, die die Anerkennung bekommen wollen, die ihnen schon lange zusteht.
Neben der Zunahme von betrieblichen Auseinandersetzungen gibt es außerdem in fast allen kleineren Städten Schüler*innen, die bei FFF-Demos auf die Straße gehen. Als einzige Partei, die bereit ist, sich für Klimagerechtigkeit auch mit den Konzernen anzulegen, müsste diese Bewegung eine noch wichtigere Rolle spielen. Zig Konzerte fanden statt, um in der Provinz Gesicht zu zeigen gegen rechts, von den großen Kundgebungen in Chemnitz bei #wirsindmehr und den Unteilbar-Demos in Leipzig und Dresden ganz zu schweigen. Wir dürfen nicht vergessen, dass insbesondere die Wahlergebnisse der AfD für viele Menschen eine echte Bedrohung bedeuten, vor allem – aber nicht nur – außerhalb der großen Städte.
Auch wenn wir heute weniger Mitglieder im Osten haben als noch vor einigen Jahren, so haben wir zuletzt auch neue Mitstreiter*innen gefunden. Sie wollen sich einbringen und nicht nur für Solidarität werben, sondern solidarische Praxis und eine entsprechende Streitkultur selbst erleben. In diesem Sinne sollten wir zusammenrücken statt spalten.

Wir laden alle ein, das mit uns gemeinsam weiter zu diskutieren.

Ein Beitrag des Koordinierungskreises der Bewegungslinken.

Für eine Hoffnung mit Zukunft. von Thomas Goes

Mit der politischen ist es nicht anders als mit der militärischen Strategie: Unsere Pläne machen wir auf der Grundlage vergangener Schlachten, gemachter Erfahrungen, von – im Falle der Linken – einer Geschichte der Niederlagen. Mit dem Blick zurück schätzen wir ab, was jetzt und in Zukunft zu tun sein wird – und wir wissen gut, dass es anders kommen wird als zuletzt.

Auf einigen lastet diese Geschichte so sehr, dass sie einfach die Vergangenheit nachzustellen versuchen – ein bisschen an die Gegenwart angepasst. Sie ziehen sich die Kostüme von 1917 an und spielen Lenin und Trotzki (es wäre natürlich gut, wenn wir ein paar Lenins, Goldmanns, Luxemburgs und Trotzkis hätten) nach; oder schlagen sich voller Überzeugung auf die Brust, um einen linken Keynesianismus zu fordern, dieses wunderbare Fabelwesen, das in den 1970er Jahren vielleicht oft gefordert, aber nie gesehen wurde – wissend um die Umbrüche seither, aber doch orientiert an den „goldenen dreißig Jahren“ in Westdeutschland, dieser angeblich „sozialdemokratischen Ära“.

Wie gesagt, wir alle sind Grenzgänger bei der politischen Strategiebildung, weil wir aus Vergangenem schöpfen müssen, um uns der Zukunft zu stellen. In Deutschland fällt aber die Verengung der Debatte auf eine erneuerte (linke) sozialdemokratische Regierungsstrategie auf. In den vergangenen 20 Jahren hat man sie mir in mehreren Fassungen schmackhaft zu machen versucht: als relativ biedere Koalition zwischen SPD, Grünen und PDS/LINKE; als sozial-ökologisches Reformbündnis, beworben durch das Institut für solidarische Moderne; und zuletzt in einer besonders widersprüchlichen Variante in der Sammlungsbewegung „aufstehen“.

Manchen mag es daher nach „Und täglich grüßt das Murmeltier“ sein, wenn erneut die Diskussion über linkes Regieren angestoßen wird. Denn in der Regel wird darunter eine der gerade genannten Fassungen von SPD-Grüne-LINKE-Koalitionen verbunden. Das Gespenst einer Mitte-Links-Regierung geht immerhin bereits seit Anfang der 1990er in der deutschen Linken um. Es gehörte zur DNA der PDS und findet – man lese „Die Reformalternative“ von Heinz Jung und Jörg Huffschmid aus dem Jahr 1988 – sich auch bereits in den Ausläufern des westdeutschen Kommunismus Ende der 1980er Jahre. Gemeint ist eine Koalition, die einen sozialeren, demokratischeren und ökologischeren Entwicklungsweg des Kapitalismus durchsetzen soll.

Das ist alles. Zumindest jenseits der Papierlage. Praktisch jedenfalls dürfte niemand glauben, mit der SPD und den Grünen sei mehr – also eine sozialistische Transformation – möglich. Wenn schon kein Sozialismus, so könnten besonders „realistische“ Genoss*innen nun sagen, so also wenigstens eine „nur-antineoliberale Reformpolitik“, die – auch das muss dann in aller Ehrlichkeit dazu gesagt werden – eine wettbewerbsfähige kapitalistische Wirtschaft so politisch reguliert, dass mehr soziale Gleichheit, mehr Demokratie und weniger Umweltzerstörung herauskommt. Wer das will, muss innovative Formen der kapitalistischen Ausbeutung organisieren, muss Weltmarktanteile halten: muss zunächst einmal gemeinsam den Kuchen backen, dessen Stücke dann zu Gunsten der Ausgebeuteten etwas großzügiger verteilt werden können. Nüchterne Sozialdemokraten wie Peter Glotz und Helmut Schmidt waren diesbezüglich immer offener und realistischer als manche Vertreter*innen eines „grünen neuen Deals“.

Die heutige Bescheidenheit: Die kapitalistische Reformalternative

Damit unterscheidet sich die Diskussion um Mitte-Links ganz grundlegend von älteren Debatten der 1970er, in denen Kommunist*innen und Sozialist*innen (zumindest) noch einen demokratischen Weg zum Sozialismus zu bestimmen versuchten. Man kann im Nachhinein über die Mängel und Leerstellen dieser politischen Auseinandersetzungen streiten (z.B.: Wie genau demokratisiert man einen Staatsapparat? Wie sollen die Produktionsmittel vergesellschaftet werden, ohne dass die Besitzenden sich dagegen wehren? Wie sollte ein neues Chile verhindert werden?), die aufgrund des unzureichenden demokratischen Pluralismus innerhalb der damaligen kommunistischen Parteien nur eingeschränkt möglich waren.

Zumindest für die großen Parteien der radikalen Linken galt aber, dass sie vor einem „kommunistischen Horizont“ geführt wurden. Nicht ein besserer Kapitalismus, sondern der Einstieg in eine sozialistische Übergangsgesellschaft, in der eine kommunistische Gesellschaft zu erkämpfen wäre, war der Zielhorizont. Und genau so sollten auch wir heute über die Regierungsfrage sprechen. Über linkes Regieren sollten wir vor dem Hintergrund eines neu zu erfindenden kommunistischen Horizontes diskutieren – über ein gesellschaftliches Bündnis, bestehend aus sozialen Bewegungen, politischen Organisationen, klassenkämpferischen Gewerkschaftsströmungen und aus Solidar- und Selbsthilfeeinrichtungen, das Einstiege in den Ausstieg aus dem Kapitalismus durchsetzen kann: das die Türen in eine sozialistische Übergangsgesellschaft aufstößt. Klingt utopisch, weil wir nicht einmal die Privatisierung von Schwimmbädern verhindern konnten? Das stimmt. Die nur-antineoliberale Reformalternative ist aber noch unrealistischer. Dazu gleich mehr.

In der deutschen Linken fällt in dieser Hinsicht eine Diskrepanz auf, die man sich vor Augen führen und sehr bewusst machen sollte. Sie wurzelt einerseits im auch ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus, andererseits in der grundlegenden Schwäche einer antikapitalistischen Linken, die über kleine Milieus hinausreichen müsste: Wir alle wissen, dass geopolitisch, ökologisch und sozial katastrophale Zukünfte drohen, die durch kleine systemimmanente Reformen nicht verhindert werden können. Angesichts der Schwäche verengt sich unser strategisches Denken allerdings weithin darauf, durch eine mach- und greifbare Koalition mit Sozialdemokrat*innen und Grünen Verbesserungen durchzusetzen, die innerhalb der bestehenden Macht- und Eigentumsordnung das Leben und das Mensch-Naturverhältnis verbessern würden.

Dabei ist große Bescheidenheit bei gleichzeitig wachsender Verzweiflung eingekehrt. Zumindest hinter vorgehaltener Hand sind viele bereits froh, wenn in LINKE-regierten Bundesländern nicht gegen Ziele der eigenen Partei regiert wird – und eine Art bescheidene Euphorie bricht aus, wenn einzelne bescheidene Reformen durchgesetzt werden können.

Jenseits des Wunderglaubens: Modernisierte Sozialdemokratie

Nun sind auch bescheidene Reformen gut und richtig. Aber daraus ergibt sich noch keine sozialistische Strategie. Würde man versuchen eine solche im Mitte-Links-Schema (oder in anderen Werbespins: in linken oder progressiven Mehrheiten jenseits der CDU) weiter auszubuchstabieren, käme man beim Wunderglauben heraus: Mit den strukturell prokapitalistischen Parteien SPD und Grünen ließe sich grundlegend etwas verändern. Da die meisten Vertreter*innen dieses Ansatzes aber gar nicht an Wunder glauben, sondern nüchtern kalkulierende Genoss*innen sind, läuft dieser Ansatz nicht auf religiöses Denken, sondern auf modernisierte Sozialdemokratie hinaus. Es gibt aber auch radikalere Vertreter*innen rot-rot-grüner Regierungen, die doch an so etwas wie die unbefleckte Empfängnis glauben. Sie denken, man könne mit den Parteien Sigmar Gabriels oder Cem Özdemirs die Bundesrepublik regieren und dabei auf starke soziale Bewegungen hoffen, die eine solche Regierung treiben würden – ohne dass die Regierung bricht oder sie die Bewegungen brechen wird.

An der modernisierten Sozialdemokratie ist nicht verkehrt, dass sie fortschrittliche Reformen will, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie, weniger Umweltzerstörung. Das wollen wir alle, auch wenn wir als radikale Sozialist*innen und demokratische Kommunist*innen wissen, dass wir nicht gerechten Lohn, sondern die Abschaffung der Klassenausbeutung, nicht nachhaltiges kapitalistisches Wachstum, sondern ein Ende des kapitalistischen Naturverhältnisses brauchen, nicht ein bisschen weniger Diktatur des Bürgertums (also mehr Demokratie wagen), sondern die demokratische Selbstherrschaft des Volkes. Trotzdem kämpfen wir natürlich leidenschaftlich für jede Reform, die die Ausbeutung der arbeitenden Klassen verringert, die politische Macht des Kapitals einschränkt und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen mildert.
Falsch ist an der modernisierten Sozialdemokratie, dass sie nicht alles versuchen wird, um diese Veränderungen durchzusetzen. Das würde nämlich eine harte Konfrontation mit den Besitzenden und Mächtigen verlangen. Und falsch ist an ihr, dass – ohne Brüche mit den Eigentums- und Machtverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft – die Klassenausbeutung effektiv und effizient organisiert werden muss. Ohne prosperierende kapitalistische Wirtschaft keine funktionierende innerkapitalistische Reformpolitik.

Man mag diese Zuspitzung etwas hemdsärmelig finden, im Kern ist damit aber m.E. sowohl Glanz (Bildungsreformen, steigende Lohnquoten, sehr zaghafte Umverteilung von oben nach unten, minimalster Ausbau der Mitbestimmung in den Betrieben) als auch Elend (Berufsverbote und Radikalenerlass, korporatistische Einbindung der Gewerkschaften in ein imperialistisches Exportbündnis, Orientierung auf Wettbewerbsfähigkeit etc.) der real existierenden Sozialdemokratie vor dem Dritten Weg ganz gut bestimmt. Es gibt – zumindest materialistisch analysiert – keinen Hinweis darauf, dass in Zukunft etwas anderes zu erwarten wäre.

Man mag sich selbst anders verstehen, bleibt die eigene Politik aber ohne praktische Perspektive der Systemüberwindung, wird sie in entsprechenden sozialdemokratischen Fallstricken befangen bleiben. Und das ist noch die beste der denkbaren Szenarien.

Notwendige Utopien: Regieren mit Neoliberalen und Grenzen des Keynesianismus

Warum die beste? Weil wir über Regierungskoalitionen nicht unkonkret, losgelöst von den greifbaren politisch-ideologischen Kräfteverhältnissen diskutieren können. Dazu gehört, dass sich seit Ende der 1970er Jahre ein großes neoliberales Zentrum herausgebildet hat, das über einen rechten (Unionsparteien/FDP) und einen linksliberalen Flügel (SPD/Grüne) verfügt.

Mit eben jenem „linken“ Teil soll eine Regierung gebildet werden – natürlich erst dann, wenn sich diese Parteien grundlegend verändert haben. Vertreten wird das mal staatstragender, mal bewegungsorientierter. Egal wie, die Debatte war und ist im schlechten Sinne utopisch. Nicht, weil sie auf einer Hypothese über die Zukunft beruht, das ist für Politik normal; sondern weil es für eine „Linkswende“ in Richtung demokratischer und sozialer Reformpolitik weder bei den Grünen noch bei der SPD ernsthafte Anzeichen gab und gibt.

Heute kann man sagen: Die SPD bleibt sich treu und sinkt weiter in der Wähler*innengunst, verliert an gesellschaftlichem Rückhalt. Die Grünen suchen – als ökologisch-linksliberale kleinbürgerliche Partei mit Ausstrahlung in die Arbeiter*innenklasse – das Bündnis mit dem Bürgertum.

Einen stark utopischen Überschuss hat diese Diskussion aber noch aus einem anderen Grund: Die Annahme, gegen die Macht des Kapitals sei eine „nur-antineoliberale“ Reformpolitik überhaupt möglich, beruht meines Erachtens auf falschen Grundannahmen. Der Neoliberalismus ist nicht eine irrationale, sondern eine rationale Antwort auf die seit etwa Mitte der 1970er Jahre andauernde stagnativ-krisenhafte Entwicklungsphase des Kapitalismus, um die Profitabilität von Investitionen wieder zu erhöhen. Das ist auch der Grund, weshalb sowohl sozialdemokratische Parteien, die ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht haben, als auch konservative, liberale oder christdemokratische Kräfte, die nie auf Kriegsfuß mit ihm standen, sich daran machten, die Macht des Kapitals systematisch auszuweiten.

Eine soziale und demokratische Reformpolitik, die ihren Namen verdient (und die wir anstreben), wird deshalb nicht nur zu massiven politischen gesellschaftlichen Konflikten führen, auf die die Linke vorbereitet sein muss (z.B. Polarisierung und Mobilisierung der Mittelklassen oder Investitionsstreiks von Unternehmen); sie wird, werden nicht auch die Eigentumsverhältnisse angetastet und damit begonnen, die Macht der Arbeiter*innen auszuweiten und die des Kapitals abzuschaffen, wirtschaftliche Krisenprozesse freisetzen. Denn es ist ein frommer Glaube, keynesianische Politik sei „besser“ für den Kapitalismus, als alles, was dessen treue Anhänger*innen sich ausdenken könnten. Ohne Einstiege in den Ausstieg aus der kapitalistischen Produktionsweise kann es deshalb keine realistische linke Regierung geben. Damit ist die Hürde natürlich hoch gelegt, ist die gesellschaftliche Linke doch eher eine Zwerg, denn ein roter Riese.

Die ökologische Katastrophe

Es gibt noch einen Grund, weshalb eine Rot-Rot-Grüne Regierung nicht reicht. Kapitalistisches grünes Wachstum, sozial gerecht und ökologisch nachhaltig, ist unmöglich. Die kapitalistische Produktionsweise beruht auf Beschleunigung und Naturzerstörung. Die ökologischen Kosten des Wachstums innerhalb der imperialistischen Zentren wurden lange ausgelagert, sie werden es noch. Dass auch unsere Lebensgrundlagen zerstört werden, lässt sich aber nicht mehr länger aus dem Massenbewusstsein verdrängen. Klimakatastrophe, steigende Meeresspiegel, Nahrungsmittelkrisen – all das hat auch einen Klassencharakter. Global betrachtet, weil die imperialistisch beherrschten Nationen des globalen Südens besonders betroffen sind, und hier die Kleinbauern, die Arbeiter*innen und informell Beschäftigten sowie die Landlosen stärker als die Mittelklassen und das Bürgertum. Und auch in den imperialistischen Zentren trifft die ökologische Krise die unteren Klassen stärker als die oberen. Was wir brauchen, ist ein ökologisches Notfallprogramm, das nicht gegen den Willen der Menschen, sondern durch ihr massenhaftes demokratisches Zutun eingeführt wird. Dazu würde der Ausstieg aus den schädlichsten Produktionszweigen gehören – etwa der Automobilindustrie und der chemischen Industrie, dazu würde ein anderes Verkehrssystem und Mobilitätsverhalten ebenso gehören wie nachhaltige Konsumweisen.

Jenseits der Sackgasse anti-neoliberalen Regierens: Eine antikapitalistische Regierung

Und genau darum ist die Debatte über eine linke Regierung, die realistisch und gerade deshalb radikal sein muss, so nötig. Eine linke Regierung als Teil einer sozialistischen Strategie, die über den engen Rahmen der Idee einer „antineoliberalen Regierung“ hinausgeht, die in der europäischen Linken der letzten drei Jahrzehnte dominiert hat.

Egal in welcher Spielart, ob als Rot-Rot-Grün in Deutschland, als Mitte-Links in Frankreich oder Italien, die Strategie der antineoliberalen Regierung beruht auf einigen m.E. falschen bzw. unzureichenden Annahmen. Und zumindest in Italien und Frankreich haben die darauf beruhenden politischen Entscheidungen zum Niedergang der Kommunistischen Parteien beigetragen.

Ende der 1970er Jahre noch hatte die Französische Kommunistische Partei (FKP) fast 700.000 Mitglieder, war eine in Betrieben stark verankerte Kraft, zumindest organisatorisch (gemeinsam mit der kommunistischen Gewerkschaft) das Rückgrat einer Arbeiter-Gegenwelt zur bürgerlichen. Ähnliches gilt für Italien, wo die KPI zu ihrer Hochzeit mit mehr als 1,5 Millionen Mitgliedern in noch stärkerem Maße Bezugspunkt einer eigenen linken Volkskultur gewesen ist. Sicherlich ist ihr Niedergang nicht allein auf regierungspolitische Fehler allein zurückzuführen. Beide Parteien wurden von der Wucht des Endes der Sowjetunion und des neoliberalen Siegeszuges getroffen. In Italien verwandelte sich ein Teil der KPI gleich ohne Weiteres in eine sozialdemokratische Partei. Aber die strategische Bindung sowohl der FKP als auch des in Italien übriggebliebenen Partito della Rifondazione Comunista an mittelinke Parteien, die immer stärker neoliberale Rezepte anzuwenden bereit waren, tat ihr übriges.

Die Strategie anti-neoliberaler Regierungen geht erstens davon aus, eine nicht-neoliberale prosperierende Alternative (die sozial-ökologische Reformalternative) sei innerhalb des Kapitalismus durchsetzbar. Natürlich sind unterschiedliche kapitalistische Entwicklungspfade möglich, das waren sie immer. Dass höhere Löhne, weniger Kapitalmacht, geringere Umweltzerstörung und weniger Flexibilitäts- und Leistungsdruck – um nur einige sozialwirtschaftliche Punkte zu nennen – die Prosperitätskrise des Kapitalismus lösen würden, ist aber, freundlich formuliert, eine gewagte Annahme. Häufig ist diese Annahme zweitens mit der Idee verknüpft, keynesianische Reformen (Lohnsteigerungen zur Nachfragesteigerung z.B.) würden zu einem sozial nachhaltigen und ökologisch verträglichem Wachstum führen. Antineoliberale Politik wäre, bündig gefasst, die bessere innerkapitalistische Wirtschaftspolitik. Abgehalten werden die Kapitalist*innen von einer solchen Politik, so die einzige zumindest logische Erklärung für das neoliberale Irrlichtern der real existierenden Kapitalist*innen, von der Sorge um ihre Macht, würde eine erfolgreiche Nachfragepolitik die abhängig Beschäftigten doch immer weiter stärken. Drittens beschränkt sich die Strategie der antineoliberalen Regierung darauf, systemkonforme Reformen zu fordern, die zwar durchaus erkämpft werden müssten, die aber letztlich innerhalb des kapitalistischen Systems durchgesetzt werden könnten. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb sich Vertreter*innen dieses Ansatzes zuweilen als die besseren Staatslenker im Wartestand geben. Viertens ist diese Strategie gewissermaßen klassenpolitisch halbblind, weil sie zwar Umverteilung fordert, zuweilen auch eine Ausweitung von wirtschaftlicher Mitbestimmung – Klassenausbeutung und -herrschaft selbst macht sie aber nicht zum Gegenstand. Rein antineoliberale Politik muss den Kuchen, dessen Stücke anschließend etwas großzügiger an die unmittelbaren Bäcker verteilt werden sollen, gemeinsam mit den Besitzer*innen der Bäckerei erstmal gemeinsam backen – vielleicht sogar unter demokratischeren Bedingungen. Dass die einen die anderen ausbeuten müssen, damit das gelingt, ändert sich dadurch aber nicht. Weiter: Werden die Eigentumsverhältnisse nicht angetastet, müssen Wege des kapitalistischen Wachstums gefunden werden, die letztlich immer auf der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Natur beruhen.

Das Fehlen eines antikapitalistischen Staatsprojektes

Darüber hinaus fehlt in der rein antineoliberalen Strategie ein eigenes „antagonistisches Staatsprojekt“, das den kapitalistischen Charakter des Staates ernst nehmen würde. Der Staat ist weder neutral, noch ist er als Republik „unser Staat“, in dem sich unsere Interessen – Chancengleichheit vorausgesetzt – genauso gut durchsetzen ließen wie die der Kapitalist*innen. Im demokratisch-kapitalistischen Staat drücken sich zwar Volks- und Arbeiter*innenkämpfe aus, soziale Bewegungen und der Klassenkampf lassen den Staat nicht unberührt, aber die Interessen der Herrschenden werden dennoch systematisch bevorzugt. Und während die verschiedenen staatlichen Apparate daran mitwirken, dass aus den verschiedenen Teilen der herrschenden Klasse ein machtausübendes Bündnis wird, desorganisiert und spaltet er die unteren Klassen. Die Strategie der antineoliberalen Regierung aber kennt kein antagonistisches Staatsprojekt, das gleichzeitig von der grundlegenden Veränderung des Staates und seiner notwendigen Ersetzung durch neue Formen der Macht von unten ausgehen würde: einer sozialistischen Demokratie.

Wohlgemerkt: Man darf durchaus darüber streiten, ob bisherige Regierungsbeteiligungen der PDS bzw. der LINKEN auf Länderebene überhaupt die Höhen einer antineoliberalen Regierung erreicht haben, zuweilen folgten sie eher der Logik des kleineren Übels. Schwungvolle soziale und demokratische Reformprogramme hat keine der bisherigen Landesregierungen auf den Weg gebracht – das gilt auch für die jetzige in Berlin, die unter verhältnismäßig günstigen haushaltspolitischen Bedingungen agiert, das gilt für Thüringen und das gilt ganz sicher für Brandenburg. Bescheidenheit ist eingekehrt: Man freut sich noch über die kleinsten Schritte in die richtige Richtung (Berlin) bzw. darüber, wenn nichts Schlimmes passiert (Thüringen). Weitergehende Reformen – zum Beispiel: die Durchsetzung anderer Schulsysteme, durch die das Bildungsmonopol des Bürgertums gebrochen und die Bildungschancen von Arbeiter*innenkindern gefördert würden; eine neue Hochschulpolitik, die mit den Grundsätzen neoliberaler europäischer Bildungspolitik brechen würde; eine systematische landespolitische Förderung nicht-privatwirtschaftlicher Unternehmen; der Ausbau von Mitbestimmung im Öffentlichen Dienst; Industriepolitik, die nicht auf wettbewerbsfähige Standortpolitik, sondern auf den Aufbau gemeinschaftsdienlicher regionaler Produktion hinausliefe; ein schneller und bedarfsgerechter öffentlicher Wohnungsbau (inklusive der Sicherheit, dass dieser in öffentlicher Hand bleibt); gemeinsam mit dem Bund ernsthafte Initiativen starten, die Öffentlichen Nahverkehr ausbauen und verbilligen, um nützliche Alternativen zur Autogesellschaft zu bieten – schienen bisher jedenfalls nicht denkbar.

Wunsch nach Veränderung und Legitimationsprobleme von Politik und Wirtschaft

Aber was nun? Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus sind ebenso nötig, wie der Wunsch danach in fortschrittlichen Initiativen und Bewegungen, in Gewerkschaften und Teilen der Bevölkerung groß ist. Es ist ja nicht so, als würden sich beispielsweise die Wähler*innen der Linken eine radikalere Partei wünschen; sie wollen eine, die ihre Interessen umsetzt.

Gleichzeitig machen wissenschaftliche Tiefenbohrungen ins Massenbewusstsein neben fremdenfeindlichen, sozialchauvinistischen und autoritären Potenzialen erhebliche Legitimationsprobleme des Kapitalismus und des kapitalistischen Staates sichtbar, der zuweilen als der „Staat der anderen“, der Banken, der Konzerne und der politischen Eliten wahrgenommen wird. Wut und der Wunsch nach Veränderung gehen Hand in Hand mit der Hoffnung auf Ordnung und Stabilität, der Suche nach leichten Auswegen, mit Resignation und Hoffnungslosigkeit sowie rechten konformistischen Rebellionen, in denen Leiderfahrungen gegen Andere, gegen Schwache und Fremde gewendet werden – nicht gegen die Kapitalist*innen oder gar die kapitalistische Produktionsweise. Dass ein politisches Projekt fehlt, das Auswege aus der Misere anbietet, ist Teil dieses Problems. Es fehlt an Hoffnung und Gründen, zu kämpfen. Das ist gewissermaßen einzigartig in der Geschichte der Linken. Ob nun die Gewissheit der II. Internationale, der Kapitalismus werde sich in Richtung Sozialismus entwickeln, die kommunistische Wette auf die revolutionäre Situation und die Möglichkeit, als Partei die Revolution zu machen oder gar der sozialdemokratische Fortschrittsglaube der 1960er und 1970er Jahre: Hoffnung und Zuversicht gab es immer. Heute nicht mehr. Mit anderen Worten: Es mangelt heute nicht an Kapitalismuskritik, ob nun verzerrt, verkürzt oder ganz ausgefeilt – das Vertrauen darauf, dass es einmal besser wird und ein anderes Leben möglich ist, das gibt es kaum mehr. Nur dann, wenn wir als Linke darlegen, wie wir Verbesserungen durchsetzen und eine andere Gesellschaft aufbauen wollen, können wir das ändern.

Eine linke Regierung muss Hoffnung machen.

Die regierende Linke: Sozialökologische und antikapitalistische Strukturreformen

Unser Ziel sollte eine linke Regierung sein, die dazu beiträgt, dass die Arbeiter*innen die Macht übernehmen. Denn darum geht es eigentlich: Dass die Macht den Kapitalist*innen und politischen Eliten genommen wird, sich von den Arbeiter*innen, den lohnabhängigen Zwischenschichten und dem Kleinbürgertum angeeignet wird: von den Paketzusteller*innen, den Kindergärtner*innen, den Maschinenschlosser*innen, den kleinen Handwerker*innen, von den Erzieher*innen, von den prekär Beschäftigten im Großhandel und der automobilen Zulieferindustrie usw.

Das geht nur durch die Demokratisierung der Wirtschaft und durch die Umwälzung der kapitalistischen Staatsapparate. Kurz: Eine linke Regierung ist nur als Teil einer umfassenderen linken Machtstrategie zu denken, in der soziale Bewegungen, Massenmobilisierungen, die Organisierung der Unorganisierten, der Aufbau von sozialer Gegenmacht und schließlich auch die Erfindung von neuen Institutionen, in denen das Volk Macht direkt ausüben kann, eine wichtige Rolle spielen.

Dass eine linke Partei so stark wird, dass sie eine entsprechende Regierung bilden kann, ist voraussetzungsvoll, aber sicherlich nicht unmöglich. Vorausgesetzt sind organische Krisen, in denen bisher führende politische Kräfte ihren Masseneinfluss verlieren – gesehen etwa in Griechenland, wo Konservative und Sozialdemokraten massiv verloren und Syriza, vor dem Hintergrund länger anhaltender Sozialproteste, wahlpolitische Erfolge feiern konnte. Im Ansatz entwickelte sich eine solche Konstellation in Spanien, wo es vorübergehend so aussah, als könnte Podemos ein starker Wahlerfolg gelingen. Ähnlich verhält es sich mit Labour unter Corbyn: Die Partei verfolgt eine basisorientierte linkssozialdemokratische Strategie. Ob sich entsprechende politische Verhältnisse bei uns herausbilden, ist offen – die anhaltende Erosion der Sozialdemokratie deutet aber zumindest an, dass zu großes Vertrauen in die hiesige politische Stabilität ebenfalls fehl am Platze ist. Und wer hat den Höhenflug der Grünen vor zwei Jahren erwartet? Wie offen die Zukunft auch ist, eines ist klar: Wir leben in Zeiten der politischen Instabilität und die wirtschaftliche lugt schon um die Ecke.

Eine linke Regierung wäre eine, die im spannungsreichen Bündnis mit Gewerkschaften, Initiativen und Bewegungen Macht ausüben will, um eine Reihe antineoliberaler Reformen auf den Weg zu bringen, die mit antikapitalistischen Strukturreformen verbunden werden: der Demokratisierung der Wirtschaft im Sinne der Selbstherrschaft der Arbeiter*innen, von unten nach oben; eines ökologisch-sozialen Notfallprogramms, das die profitgetriebene Zerstörung unserer Lebensgrundlagen stoppt; der Förderung von unmittelbarer Demokratie jenseits der Parlamente, in Stadtteilen, durch die die Bevölkerung selbst Macht ausüben kann; der demokratischen Kontrolle großer Banken, um die zerstörerische Kraft marodierenden Finanzkapitals zu brechen und nicht-profitorientierte Formen des Wirtschaftens zu fördern.

Antikapitalistische Strukturreformen bauen Brücken aus dem kapitalistischen Jetzt ins sozialistische Morgen, indem sie eine andere Organisationsweise des Wirtschaftens und Lebens einführen und die Macht der bisher Unterdrückten fördern. Sie werden in einer kapitalistischen Umwelt eingeführt, brechen aber mit der kapitalistischen Profitlogik. Während staatszentrierte sozialistische Politikansätze der Vergangenheit Planung, Kontrolle und Durchführung staatlich zentralisierten, wären heute neue Formen der demokratischen Selbstorganisation zu erproben, auf die Kreativität und Intelligenz von unten zu setzen.

Jede dieser Strukturreformen sollte gleichzeitig zwei Zielen dienen: Zum einen die Macht der Arbeiter*innen und lohnabhängigen Zwischenklasse ausbauen, die Macht den Kapitalist*innen und politischen Eliten nehmen; zum anderen nicht-kapitalistische Organisationsweisen fördern und einführen.
Um Missverständnissen vorzugreifen: Eine linke Regierung braucht ein eigenes antagonistisches Staatsprojekt, ihr Erfolg hängt gleichzeitig davon ab, wie stark soziale Bewegungen sind und ob Massenmobilisierungen sie unterstützen, unter Druck setzen oder treiben: der bürgerliche Staat wird genutzt, um Einstiege in den Ausstieg aus dem Kapitalismus zu organisieren und diesen bürgerlichen Staat in einen der Arbeiter*innen, der lohnabhängigen Zwischenklasse und des Kleinbürgertums zu verwandeln.

Das kann kein harmonischer Vorgang sein, sondern setzt Kämpfe und Brüche voraus – wie erfolgreich das sein kann, hängt von der Stärke von Bewegungen und Massenmobilisierungen einerseits, der Entstehung neuer Formen der Macht außerhalb des Staates ab. All das ist nicht nur nötig, um Druck auszuüben, damit der Staat grundlegend verändert wird – sondern damit neue Ideen, neue Organisationsweisen, Alternativen zum Status Quo entstehen können. Das kann nicht in den Staatsapparaten selbst, kaum in Parteien und Gewerkschaftsapparaten geschehen. Dafür braucht es den Erfindungsgeist sozialer Bewegungen, die Kreativität und Intelligenz von unten.

Auch eine solche linke Regierung ist derzeit utopisch, weil ihr die gesellschaftlichen, die klassenpolitischen und auch die parteipolitischen Grundlagen fehlen; aber sie ist gleichzeitig realistisch, weil sie vom Notwendigen ausgeht.

Aufgaben sozialistischer Klassenpolitik: Das Nötige möglich machen

Unsere Aufgabe ist es, und das ist der Kern radikaler linker Politik heute, die Lücke zwischen dem heute Möglichen und dem Nötigen, einem Übergangsprozess zu einer sozialistischen Ordnung, zu verkleinern. Soll es mittelfristig eine rebellische linke Regierung geben, dann als Ergebnis geduldiger Arbeit – an gesellschaftlichen Bündnissen, an neuen Ideen, Programmen und Strategien und an neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen Parteien der Linken, der Bevölkerung, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Heute ist diese linke Regierung unmöglich.

Eine linke Regierung kann nur Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen und politischen Blocks sein, den es heute noch nicht ansatzweise gibt: eines Bündnisses zwischen Teilen der Arbeiter*innenklasse, der lohnabhängigen Zwischenschichten und des Kleinbürgertums; einer Verbindung zwischen unterschiedlichen Initiativen und Bewegungen, die sich gegen die Zumutungen des heutigen Kapitalismus organisieren; ein Bündnis, das derart in die Gesellschaft „ausstrahlt“, dass sich auch die politisch weniger aktiven und interessierten Teile der unteren Klassen angezogen fühlen; ein Block, in dem bereits mit neuen Formen des Wirtschaftens und Lebens experimentiert wird.

Eine linke Regierung kann zweitens nur Teil einer breiteren politischen und sozialen Bewegung für gesellschaftliche Veränderung sein, in der auch Kräfte für den Sozialismus eine größere Rolle spielen. Das Programm einer solchen Regierung der Linken wäre gemeinsam mit Bewegungen, ausgehend von Initiativen und Verbänden zu entwickeln, nicht in Programmkommissionen. Ein lebendiges Reform- und Übergangsprogramm wäre in einer Kampagne zu entwickeln: durch gemeinsame Beratung und Parteien, die zuhören lernen.

Notwendige Voraussetzung für eine linke Regierung ist eine (oder mehrere) linke Partei(en), die in einer Regierung nicht loyal „aufgeht“, sondern in der Lage ist, auf die eigene Regierung Druck auszuüben – und sie auch zu verlassen. Eine regierende Linkskraft muss rebellisch bleiben.

Notwendig ist außerdem eine strategische Partei, die wir bislang nicht haben – eine Partei, die sich der möglichen Konfrontationen mit Kapital und Staatsbürokratie, die sich der politischen Mobilisierungen bewusst ist, die ihre Politik auslösen wird. Eine solche strategische Partei mag manövrieren müssen, sie fördert Mobilisierungen von unten allerdings, um den Weg in Richtung Sozialismus zu beschreiten. Deshalb braucht eine solche Partei, die erst noch zu erschaffen ist, eine eigene Machtstrategie und ein eigenes antikapitalistisches Staatsprojekt.

Währenddessen: Unterstützende, initiative und oppositionelle Gestaltungskraft

Eine linke Regierung mag heute nicht möglich sein, Machtausübung, Einflussnahme und damit der Beweis der eigenen politischen Nützlichkeit für breitere Wählerschichten allerdings durchaus. Drei Wege, die wir bereits erproben bzw. erprobt haben, stehen uns offen:

Die Linke als verändernde Kraft vor Ort: Die Linke und die Partei DIE LINKE kann als politische Kraft wirken, die Organisierungen unterstützt, mit Initiativen und Bewegungen zusammenarbeitet und eine soziale Partei wird, die Menschen bei der Bewältigung sozialer Nöte hilft. Es gibt zwar gute Ansätze, weithin ist aber weder die LINKE bisher dazu in der Lage (zu Teilen auch nicht willig), noch große Kreise der radikalen Linken.

Die Linke als initiative Kampagnenkraft: Die Linke und die Partei DIE LINKE können durch Kampagnen die Interessen und Probleme der unteren Klassen sichtbar und in der „Arbeit der Zuspitzung“ Alternativen deutlichen machen, aufsteigend vom Kleinen zum Großen. Die Pflege- und Mietenkampagnen der LINKEN bieten gute Anknüpfungspunkte. Ein sehr gutes Beispiel ist auch die Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen“, die an unmittelbare Probleme ansetzt, mobilisiert, politische Fronten bildet und die Eigentumsfrage aufwirft.

Oppositionelle parlamentarische Gestaltungskraft: Die parlamentarische Arbeit der Partei sollte darauf ausgerichtet sein, Initiativen, Bewegungen und Gewerkschaften nützlich zu sein, einen kritischen Dialog zu pflegen und sie, wenn möglich, besser sichtbar zu machen. Sie sollte aber auch offensiv parlamentarische Mehrheiten nutzen, um Verbesserungen durchzusetzen. Als Alternative zu formalen Koalitionen bietet sich ein offensives Tolerierungsmodell an, bei dem fallweise Mehrheiten für eine regierende Partei mitgebildet werden – oder auch nicht. Insbesondere DIE LINKE sollte dieses nicht als Verlegenheitslösung wählen, sondern als Beitrag zur unmittelbaren und einfachen Demokratisierung des verknöcherten parlamentarischen Systems propagieren.

Gelingt es uns einen kommunistischen Horizont linker Politik neu zu erfinden (einer klassenlosen Gesellschaft radikaler Demokratie), befreit von den Lasten autoritärer Politik von oben, sind wir in der Lage ein neues gesellschaftliches Bündnis für radikale gesellschaftliche Veränderung zu erkämpfen und sind wir dazu fähig realistische Machtstrategien zu entwickeln – dann wäre eine antikapitalistische Regierung eine Kraft, die die Türen zu einer sozialistischen Übergangsgesellschaft aufstoßen könnte, die (mit Salvador Allende gesprochen) das Bett eines die Gesellschaft umgestaltenden Stromes bereiten würde. Eine solche linke Regierung wäre Geburtshelferin einer neuen Welt. Einer Welt, in der die Arbeiter*innen die Macht übernehmen.

Der Artikel von Thomas Goes basiert auf seinem Vortrag vom Ratschlag der Bewegungslinken in Düsseldorf, den ihr euch auch auf der Soundcloud anhören könnt.

Was bedeutet verbindende Klassenpolitik? von Rhonda Koch

1. Verbindende Klassenpolitik meint nicht heute Klassenpolitik und morgen Kampf um Anerkennung. Es geht um den ganzen Menschen mit all seinen Geschichten und Erfahrungen von der Arbeit, aus dem Kiez und von der Chorgruppe. An meinem Körper, in meinem Kopf, in meinem Herzen findet Klasse und Politik, Identität und Soziales seinen Ausdruck: Brot und Rosen. In meiner persönlichen Erfahrung gehen Klasse und Geschlecht zusammen. D.h. ich bin nicht morgens Arbeiterin und nachmittags Mutter – sondern Arbeiterin, Mutter, Nachbarin – und vielleicht auch Feministin – immer zugleich. Warum ist das wichtig? Weil wir dadurch auf die Frage nach verbindender Klassenpolitik nochmal neu schauen können und sehen, dass das Auseinanderreißen von Identität auf der einen und Klasse auf der anderen Seite politische wie theoretische Fehler sind, die sich aus einer realen Trennung von Arbeiter*innenbewegung und sozialer Bewegung speist. Diese Fehler und Fallstricke gilt es zu vermeiden. Denn wenn im realen Leben Klasse und Identität im Menschen selbst zusammenfallen, muss es uns um den ganzen Menschen gehen. Dann müssen wir uns nicht Fragen, wie Feminismus und Klasse verbunden werden können, sondern müssen feministische oder antirassistische Klassenpolitik machen. Aber was heißt das nun konkret?

2. Klassenpolitik ist Praxis, weil Kollektivität – das Wissen und das Gefühl von Zusammengehörigkeit – nur durch praktische Erfahrung entstehen kann. Wenn ein so verstandenes Klassenbewusstsein unser Ziel ist, muss man sich klar machen, dass Identität (egal welcher Art) an sich noch nicht politisch sein muss, sondern erst politisch wird, wenn sie zur kollektiven Identität werden kann. Verbindende Klassenpolitik muss also darauf zielen, dass gemeinsame Identität und gemeinsames Interesse gemeinsam erfahren und gemeinsam artikuliert werden – und zwar untereinander und gegenüber der anderen Klasse. Es hilft also kein Fronttranspi mit der Aufschrift „Für antirassistische Klassenpolitik“, wenn sich hinter dem Transparent nur weiße Funktionäre tummeln. Das ist dann gut gemeinte Politik, aber keine verbindende Klassenpolitik, weil kein Ort geschaffen wurde, in dem die Klasse zu sich selbst gesprochen hat, sondern lediglich für sie gute Absichten formuliert wurden. Klassenpolitik entsteht nicht durch Zuruf sondern durch die Erfahrung von kollektiver Selbstermächtigung. Wir können uns noch lange die Köpfe heiß reden wie genau nun Klasse und Geschlecht zusammengehören, Klassenpolitik machen wir damit nicht.

3. Bei verbindender Klassenpolitik geht es einerseits darum, unterschiedliche Kämpfe miteinander zu verbinden. Andererseits steckt im Anspruch verbindendender Klassenpolitik auch die Herausforderung, unterschiedliche Lebensbereiche in Kämpfen zusammenzubringen und dabei andere, neue Wege zu finden, um das Verhältnis von Politik und Ökonomie, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Lohnkampf und dem Kampf um politische Rechte zu vermitteln. Vielleicht hilft also ein anderer Blickwinkel. Einer der von den Lebensbereichen der Menschen ausgeht, um die Klasse zu verbinden. Nehmen wir das Verhältnis von Arbeit und Nachbarschaft: Wenn wir erstmal begriffen haben, dass Arbeiter*innen, auch nachbarschaftliche, stadtpolitische und andere Interessen haben, geht es im ersten Schritt nicht darum, die Arbeiterin mit der Klimaaktivistin zusammenzubringen. Die Frage ist: Wie und wo trifft Klimapolitik auf die Lebensbereiche und Interessen der Arbeiterin.

Ein Beispiel in der Perspektive klassenorientierter Klimapolitik: Unseren Akteur – die Klasse – finden wir: im Betrieb. Wir beginnen also nicht wie üblich bei der Politik, sondern versuchen aus der Logik des Betriebs heraus eine Kampagne zu entfalten. Dann ist zuerst die Frage: In welchen Betrieben besteht am ehesten ein Interesse an Klimapolitik? D.h. wir fragen uns, welche Arbeiter*innen aus ihrer Beschäftigung heraus am unmittelbarsten ein Interesse an klimapolitischen Verbesserungen haben.

Wir finden: eine Busfahrer*in, die ein Interesse daran hat, dass der ÖPNV besser bezahlt wird und mehr Leute einstellt werden. Die Busfahrer*in wohnt in Bielefeld, am viel befahrenen Stadtrand. Als Städterin hat sie ein Interesse am Ausbau von verkehrsberuhigten Zonen, die bringen weniger Lärm und weniger dreckige Luft. Sie ist also ebenso klimapolitisch zu gewinnen.

Diese Busfahrerin hat eine Nachbarin. Die arbeitet bei der Sparkasse in Bethel und schickt ihre Kinder morgens immer mit dem Bus zur Schule. „Klimakrise“ ist bei der Sparkasse sicherlich nicht das Top-Thema, aber wenn sie ihre Kinder morgens pünktlich zur Schule bekommen würde und nicht täglich im von tausenden PKWs verursachten Stadtverkehr stecken bliebe, hätte sie einiges an Lebensqualität gewonnen.

Und jetzt das: In der kleinen Innenstadt von Bielefeld hängen Plakate auf denen steht: „Busfahrer*innen sind Klimaretter*innen“. Und gleich darunter: Komm zum ersten Aktiven-Treffen vom „Bündnis kostenloser ÖPNV – besser für uns, besser fürs Klima“. Beim ersten Treffen trifft die Frau von der Sparkasse den Studi Arne, der seit Jahren im Hambi gegen die Abholzung kämpft und sich einen Keks freut, dass die Klimabewegung endlich auch den Weg in die Stadt und die breite Bevölkerung gefunden hat. Der erste Tagesordnungspunkt Treffens wird von der Busfahrerin eingeleitet: Bericht aus den Tarifverhandlungen. Steffi, Linkspartei-Aktive moderiert, grinst und denkt sich: „Walter wird sich ärgern, wenn ich ihm erzähle, dass heute Arbeiter*innen da waren, der war nämlich immer der Meinung dass Klimapolitik was für die Mittelschicht ist und mit Klassenpolitik nichts zu tun hat“.

4. Steffi ist ein Vorbild dafür, wie verbindende Klassenpolitik von Linkspartei-Aktiven unterstützt und vorangetrieben werden kann: Steffi zeigt, dass wir als Aktive nicht nur Podiumsmenschen, Sitzungsmenschen, Plakatehänger*innen und Mobi-Tisch-Betreuer*innen sind. Um es mit Antonio Gramsci zu sagen: Wir müssen wir unsere Aufgabe als Parteiaktive auch sehen in der „aktiven Einmischung ins praktische Leben, als Konstrukteur, Organisator, ›dauerhaft Überzeugender‹, weil nicht bloß Redner“.

5. Verbindende Klassenpolitik wird bei aller Planung und Systematik jedoch nur dann wirksam, wenn wir bereit sind in den Kämpfen selbst zu lernen. Um Panagiotis Sotiris zu paraphrasieren: Tatsächliche Kämpfe und tatsächliche Bewegungen tragen mehr strategische Phantasie als wir, werfen immer mehr Fragen und manchmal mehr Antworten auf als wir uns ausmalen konnten, verweisen immer auf neue Wege wie Erfahrungen und Empfindlichkeiten verbunden werden können. Und sie deuten auf Lösungen hin, die wir uns vom jetzigen Standpunkt aus nicht hätten herbei philosophieren können.

Wie Parlamentarisierung entgegenwirken? von Violetta Bock

Bewegungslinke heißt nicht Parlamentslinke, Bewegungslinke heißt nicht eine Sitzungslinke. Einer der Kernpunkte der Bewegungslinken ist: wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, wenn wir die Kräfteverhältnisse so verändern wollen, dass der Kapitalismus überwunden wird, brauchen wir eine breite gesellschaftliche Front und dürfen nicht auf das Parlament setzen. Das gelingt aber nicht mit der Partei, wie wir sie jetzt haben. Denn die LINKE ist ja bereits mitten drin. In der Ankündigung hieß es „Wie Parlamentarisierung entgegen wirken?“. Das ist eigentlich der falsche Begriff. Denn DIE LINKE ist doch an zu vielen Orten bereits in erster Linie Wahlkampfmaschine, Ochsentour, fixiert auf Posten und Kandidaturen, Fraktionsvorsitzende die tun, was sie selbst und nicht was die Partei für richtig hält, Starren auf Prozente statt Proteste, bürokratisiert, etabliert und assoziiert mit Spitzenpolitikern. Und wenn wir ehrlich sind, sind doch auch auf Bundesparteitagen viel zu oft Hauptamtliche.

Es geht also um eine Entparlamentarisierung. Denn dennoch können wir auf die LINKE nicht verzichten. Sie ist Ressource für viele Bewegungen, sammelt Linke aus verschiedensten Richtungen, ist stabil in den Kernthemen Frieden und Soziales, ist erster – weil öffentlich wahrgenommener – Anlaufpunkt für Anpolitisierte, erstellt Studien, macht Anfragen, setzt Punkte mit Anträgen, ist eine Bühne etc. Von daher können wir auch auf das Parlament nicht verzichten. Die Kunst besteht darin, dass das Parlament nicht die Führung erhält. Denn Parlament ist Feindesland.

Wer von euch hat denn ein Mandat? Oder arbeitet für eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten?

Ich mach das auch. Ich bin seit drei Jahren im Kommunalparlament für die Kasseler LINKE. Also die fast unterste Ebene. Aber in der LINKEN gibt es ja viele, die ein kommunales Mandat inne haben. Kommt jemand zur Partei, ist das neben Wahlkampfstand, Vorstand ja auch oft das nächste Angebot, um aktiv zu werden. Ich war zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht in der LINKEN, vielleicht muss ich das dazu sagen. Mir war klar, wie ein Parlament wirken kann, nicht nur auf einen selbst, sondern auch auf das Umfeld. In meinem Stadtteil glaubten sie, ich krieg jetzt 8000 Euro und könnte alles für sie regeln. Da war es wichtig immer wieder zu sagen: nein, damit ändert sich nichts, ich kann gar nichts für dich lösen, wir müssen uns immer noch gemeinsam organisieren. Und ich hab den Leuten im Stadtteil und in der Nahverkehrsinitiative auch gesagt, dass sie auch mit dafür sorgen müssen, dass ich am Boden bleibe. Denn so klein das Kommunale ist, es ist krass was für eine Parallelwelt dort schon herrscht. Und die Sachzwänge sind enorm 😉 Verschuldung, alles Grundsätzliche wird auf oberen Ebenen entschieden, blablabla. Das ist ein unheimlicher Sog, und wie viel stärker muss er erst auf anderen Ebenen sein.

Es gilt also diesen Sog zu stoppen. Und weil das ja nichts unbekanntes ist, wurden in der Geschichte der Arbeiterbewegung Maßnahmen entwickelt, in anderen europäischen Ländern werden sie zum Teil angewendet: Rotationsprinzip, zeitliche Begrenzung des Mandats, Rückführung oder Teilrückführung des Lohns usw.

Ich habe mit mir angefangen, weil das wie natürlich viele Fragen aufwirft, es Konsequenzen hat und einem doch eingebläut wird: Das geht nicht anders, wir müssen uns doch professionalisieren, um mithalten zu können, zwei Legislaturen sind viel zu wenig, die Leute erwarten auch, dass man sich mit allem beschäftigt um Skandale aufzudecken etc.

Und klar, inzwischen kann ich Bebauungspläne und den Anteil der Dachbegrünung lesen – wirklich nicht unwichtig – aber dadurch konnte ich noch niemanden vom Sozialismus überzeugen. Um sich nicht im Detail zu verlieren braucht es kollektive Strukturen. Es reicht nicht einfach die richtigen Leute reinzuschicken, die Gefahr ist zu groß, dass wir sie darin verlieren oder ihnen die Führung überlassen. Wir müssen Strukturen schaffen, die dem Parlamentarismus entgegen wirken und können heute anfangen damit zu experimentieren.

Ich finde die Erdung im Stadtteil wichtig, einen Kreis an Leuten um sich, und hierbei übrigens auch Hälfte Parteimitglieder, Hälfte nicht Parteimitglieder, um nicht in die Parlamentsfalle zu tappen oder drin sitzen zu bleiben. Wenn Mieter*innen zu mir kommen und von einem Eigentümerwechsel sprechen, schreibe ich ihnen nicht als erstes einen Antrag sondern sage deutlich, ich werde es nicht für sie lösen, ihr müsst Druck aufbauen, dürft nicht auf Umarmungstaktiken rein fallen, und wir helfen ihnen dabei sich zu organisieren und stehen beratend zur Seite, verleihen ihren Anliegen im Parlament eine Stimme.

Und mit weitere Maßnahmen sollten wir einfach experimentieren, um eine sozialistische Kultur zu prägen. Und das wird nicht über einen Antrag beim Parteitag gelingen. Denn es erfordert einen grundlegenden Wandel der Partei. Und auch dafür brauchen wir das Wechselspiel mit den Bewegungen. Denn sonst ist die Gefahr groß, dass die Kontrolle durch die Partei zu einer bürokratischen Führung wird statt einer demokratischen durch soziale Bewegungen.