Kategorie: Debatte

Verteilungsfragen wieder politisch machen

Foto: Created with DALLE•E, an AI system by OpenAI

Diskussion um das LINKE Europawahlprogramm

Die Europäische Integration hatte immer das Ziel den Wettbewerb zwischen Menschen und Staaten zu intensivieren.  Als Folge verschwinden Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen aus der politischen Debatte. Dies ist kein Zufall, sondern strukturell in den Europäischen Verträgen angelegt. DIE LINKE muss das Wahlprogramm zuspitzen und einen denkbaren Plan zur Überwindung der aktuellen Europäischen Verfassung präsentieren. Eine Blaupause dafür ist das „Manifest für die Demokratisierung Europas“ von Thomas Piketty und anderen Wissenschaftler*innen.

Von Jan Siebert

Kürzlich hat der Vorstand der Partei DIE LINKE den Entwurf für das Wahlprogramm zur Wahl des 10. Europäischen Parlamentes vorgelegt. Auf über 80 Seiten präsentiert die Partei, wie sie sich ein solidarisches, ökologisches und gerechtes Europa vorstellt. Viele der konkreten Forderungen haben eine Gemeinsamkeit: Sie lassen sich unter Einhaltung der aktuellen Europäischen Verträge nicht umsetzen.

In die Europäischen Verträge ist eine wirksame Barriere gegen eine gemeinsame, abgestimmte Sozial- und Steuerpolitik fest eingewebt. Eine gemeinsame europäische Steuerpolitik müsste einstimmig im Ministerrat entschieden werden. Unabhängig von der Einwohnerzahl reicht die Stimme eines Mitgliedlandes, um eine gemeinsame Steuerpolitik zu verhindern. Die Steuerparadiese Irland oder Luxemburg können bspw. ein koordiniertes Vorgehen gegen Steuerdumping auch dann verhindern, wenn alle anderen 26 Mitgliedsländer geschlossen dafür wären. 

Eine koordinierte Steuerpolitik als Antwort auf die wachsende Ungleichheit hat innerhalb dieses Reglements keine Chance auf Umsetzung. Als Konsequenz hat eine gemeinsame Sozial- und Steuerpolitik in der Diskussion auf europäischer Ebene nie eine große Rolle gespielt. Zeitgleich stehen sich die Mitgliedsstaaten in starker Konkurrenz auf dem gemeinsamen Binnenmarkt gegenüber. Das schwächt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer und Gewerkschaften, was das Lohnwachstum im Vergleich zum allgemeinen Wachstum deutlich bremste. Im Wettkampf stehen auch die nationalen Steuer- und Abgabensysteme. Die Besteuerung des Kapitals und die Besteuerung der mobilen, gebildeten Oberschicht, ist stark zurückgegangen. Der Spielraum für Umverteilung auf nationaler Ebene hat abgenommen. Als Folge verabschiedet sich diese Diskussion um sozialen Ausgleich und Umverteilung von der öffentlichen Bühne.

Wo jedoch über Sozial- und Steuerpolitik nicht diskutiert werden kann, weil jeder Fortschritt unmöglich erscheint, entzünden sich andere Diskussionen. Wo vor Jahren noch zwischen „mehr Gerechtigkeit“ auf der einen und „mehr Freiheit“ auf der anderen Seite diskutiert wurde, entspannt sich die Debatten heute zwischen den Polen Liberalkonservativ und Nationalkonservativ. Linke, sozialistische Positionen kommen nur noch am Rand der Debatte vor. Dies gilt auf europäischer Ebene, aber betrifft auch immer mehr Mitgliedsstaaten.

Die Partei DIE LINKE darf vor dieser Situation nicht kapitulieren, indem sie sich einer der dominanten Pole anschließt. (Wobei es in der LINKEN sowohl Vertreter*innen gibt, die die nationalkonservative Seite stärken wollen, als auch Vertreter*innen, die die liberalkonservative Seite stärken wollen. Beides wäre falsch.) Stattdessen muss DIE LINKE klar sagen welchen Weg sie gehen will und gehen muss, wenn sie am Ziel des demokratischen Sozialismus festhalten will. Dieser Weg führt an einer Überwindung der aktuellen Europäischen Verträge nicht vorbei. Es gibt keine Abkürzungen.

Der Entwurf für das LINKE Europawahlprogramm lässt auch keinen Zweifel daran, dass die LINKE neue Europäische Verträge will. Sie hat diese Erkenntnis jedoch auf Seite 70 des Programmentwurfs versteckt. Es scheint, als wolle die Partei sich und ihre Wähler*innen vor der unbequemen Wahrheit schützen. Es gibt sicher Gründe für diese Aufteilung im Wahlprogramm. Niemand in der Partei will die plumpe Diskussion aus dem Jahr 2019 wiederholen. Zum anderen will die Partei den Eindruck vermeiden, jeder sozialen Verbesserung in Europa müssen die Vertragsänderungen zwingend vorrausgehen. (Dieser Eindruck wäre falsch und muss tatsächlich unbedingt vermieden werden. Schon jetzt bieten sich zahlreiche Stellschrauben mit denen Europa sozialer und ökologischer gemacht werden kann. Es braucht nur eine Partei, die den Willen hat, sie zu drehen.) 

Wer jedoch – nicht weniger – als neue Europäische Verträge will, tut gut daran dies den potenziellen Wähler*innen nicht erst auf Seite 70 zu verraten. Ein Hinweis auf das Ziel die alte Europäische Union zu überwinden, gehört direkt zu Beginn in die Präambel des Wahlprogramms.

DIE LINKE darf im Wahlkampf keinen Zweifel daran lassen: Die ökonomischen Verhältnisse der Arbeitenden haben sich nicht trotz, sondern wegen der Europäischen Verträge verschlechtert. 

Hoffnung machen

Doch DIE LINKE ist eine Partei, die die Verhältnisse nicht nur beklagen will. DIE LINKE muss auch den Willen und die Kompetenz haben die Dinge zu ändern. Nur wenn ein anderes Europa möglich ist, macht es Sinn, wählen zu gehen und sich bei Protesten zu engagieren. Kann eine Klimapolitik, die den Klimawandel verhindert, eine humane Fluchthilfe, eine demokratische Union, eine progressive Wirtschaftspolitik und vor Allem eine gerechte Verteilungspolitik innerhalb der Europäischen Union gelingen?

Dazu muss festgestellt werden: Die Verhältnisse in der Europäischen Union sind nicht in Stein gemeißelt. Die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, dass die EU sich wandelt, wenn der Druck groß genug ist. Eurokrise, Coronakrise, Klimakrise und zuletzt während der Energiekrise: Wenn der Druck groß ist, wandelt sich die EU und verstößt auch gegen ihre eigenen – vorher für sakrosankt gehaltenen – Regeln. Es spricht also nichts dagegen einen hoffnungsvollen Plan zur Überwindung der aktuellen Europäischen Union zu präsentieren, auch wenn zu dessen Erfüllung noch viel passieren müsste. Um Hoffnung zu geben, ist es wichtig, dass es einen denkbaren Plan gibt. Bislang präsentiert der Entwurf für das LINKE Wahlprogramm lediglich die Forderung nach Einberufung eines neuen Verfassungskonventes. Wie der Konvent zustande kommen soll oder wie das Einstimmigkeitsprinzip umgangen werden kann, dazu schweigt der Programmentwurf.

Hoffnungsvoller und denkbarer ist das „Manifest zur Demokratisierung Europas“ von Thomas Piketty und anderen Wissenschaftler*innen. Es kann als Blaupause für den Aufbau eines demokratischen, gerechten Europas dienen. Obwohl der Plan schon in die Jahre gekommen ist und als Antwort auf den Brexit gedacht war, ist es nach wie vor der klügste Plan zur Überwindung der aktuellen, undemokratischen Verfassung der Europäischen Union. Der Plan sieht vor, dass eine Gruppe williger Staaten vorweg geht und eine Parlamentarische Europäische Union gründet. Indem eine neue Union innerhalb der alten Europäischen Union gegründet wird, wird das – eigentlich vorgesehene – Prozedere der Einstimmigkeit umgangen.

In der Parlamentarischen Europäischen Union sollen dann etwa Steuerfragen nicht mehr vom Ministerrat, sondern von einer zweiten, europäischen Kammer entschieden werden. 

Das Ziel ist es, die Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen wieder zum Objekt der Politik zu machen. Eine breite, europäische Öffentlichkeit soll darüber streiten und entscheiden (!), wie eine gerechte Verteilungspolitik aussehen kann. So könnten etwa als wirksames Mittel gegen die steigende Ungleichheit eine europäische Einkommenssteuer für große Einkommen, eine europäische Vermögenssteuer und ein europäisches Finanztransaktionsregister eingeführt werden. Der zermürbende Steuerwettkampf zwischen den Nationalstaaten könnte so beendet werden.

Bislang verhindert dies die Einstimmigkeitsregel im Ministerrat bei Steuerfragen. Der Entwurf für das LINKE Wahlprogramm spricht sich immerhin dafür aus, die Einstimmigkeitsregel zu streichen (S.29). Es reicht jedoch nicht aus die Einstimmigkeitsregel einfach zu streichen. Dann wären noch immer die nationalen Minister*innen und Minister in der Verantwortung. Diese vertreten dann weiterhin ihre nationalen Interessen. Eine breite Diskussion in der europäischen Öffentlichkeit wäre so noch immer unwahrscheinlich.

Die andere naheliegende Lösung scheint es zu sein, die Steuerpolitik in die alleinige Verantwortung des Europäischen Parlamentes zu geben. Hiervon raten jedoch Piketty und Co ab. Die Steuer- und Sozialpolitik, die sich im 20. Jahrhundert in den Nationalstaaten entwickelt haben, gehören zu den größten sozialen Errungenschaften. Den nationalen Parlamenten diese Kompetenz einfach zu entziehen, würde der gewachsenen Struktur nicht gerechtet.

Stattdessen schlagen die Wissenschaftler*innen vor eine zweite Kammer auf europäischer Ebene für die grundsätzlichen Fragen einzurichten. Sie schlagen vor eine Europäische Versammlung bestehend aus den Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und den Mitgliedern der nationalen Parlamente einzuberufen. Das Konzept gleicht in etwa dem der Bundesversammlung. Die Wissenschaftler*innen lassen die Frage nach dem Verhältnis von Mitgliedern des EPs und der nationalen Parlamente ebenso offen, wie die Frage mit welcher Gewichtung die einzelnen Nationen vertreten sein sollen. Sie weisen lediglich darauf hin, dass der Anteil der Mitglieder des EPs den Anteil der nationalen Parlamentarier nicht übersteigen sollte, um der historisch gewachsenen nationalen Struktur der Steuer- und Sozialpolitik gerecht zu werden. In dieser neuen Versammlung sollen dann nationale Parlamentarier und Europaabgeordnete gemeinsam darüber beraten und entscheiden, welche Maßnahmen weiterhin national geregelt sein sollen und für welche Situationen eine europäische Lösung Sinn ergibt.

Piketty und Co sind sich darüber im Klaren, dass der Plan ein Bruch der alten Europäischen Verträge bedeutet. Die Staaten, die bereit wären diesen Weg zu gehen, müssten zum Äußersten bereit sein. Das Äußerste wäre der Bruch mit der alten EU. Es könnte aber auch ganz anders ablaufen. Wenn die Gruppe der Staaten groß genug ist, müssten die anderen mitziehen. Auch wenn dann kleine Steueroasen vor den Europäischen Gerichtshof ziehen würden, ist unklar wie dieser entschiede. In der Vergangenheit hat sich das Gericht oft sehr pragmatisch im Umgang mit Krisen gezeigt.

Ob das „Manifest für die Demokratisierung Europas“ nun die Abschaffung der alten EU oder nur eine grundlegende Reform der EU bedeutet, ist nicht absehbar. Entscheidend ist, dass das Manifest einen denkbaren Plan zur Überwindung der aktuellen Verhältnisse in der EU bietet. Es kann der ablehnenden Haltung gegen die jetzige EU Ausdruck verleihen und bietet gleichzeitig einen hoffnungsvollen, konstruktiven Umgang damit an.

DIE LINKE sollte sich den Forderungen des Manifests für die Demokratisierung Europas in Ihrem Wahlprogramm anschließen oder dort zumindest aufzeigen, dass es denkbare Wege raus aus dem Status Quo der EU gibt.