Von der Aktualität des Antiimperialismus

Beitrag von Christine Buchholz

Der grausame Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine ist eine Katastrophe. Dass die Bundesregierung und das sicherheitspolitische Establishment in Deutschland ihn nutzen wollen, um lange geforderte Aufrüstungsforderungen durchzusetzen, verwundert nicht. Das Plädoyer von Hedwig Richter, Historikerin an der Bundeswehruniversität in München, den «Friedenswunsch und den Verteidigungswillen in Einklang zu bringen», wird auch von Linken positiv aufgegriffen. DIE LINKE sollte aber keine friedenspolitische «Zeitenwende» einläuten und ihre friedenspolitischen Grundpositionen nicht aufgeben. Eine Verurteilung des russischen Angriffskriegs ist genauso geboten wie die Kritik an der NATO und der Aufrüstung der Bundeswehr. 

Russlands Überfall auf die Ukraine ist ein Akt imperialistischer Aggression

Russlands Überfall auf die Ukraine reiht sich ein in eine Serie blutiger Militärinterventionen unter Putins Oberbefehl. Russland unter Putin hat die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung niedergeschlagen, Krieg gegen Georgien geführt, die Krim annektiert, Syrien bombardiert, um die brutale Diktatur Baschar al-Assads zu retten, und kürzlich gegen die breit getragenen Proteste in Kasachstan interveniert. Putin hat den Krieg um einen Regime-Change in der Ukraine angekündigt und mit chauvinistischen Argumenten begründet. Die Expansionspolitik der russischen Regierung, ihre Militäreinsätze im Kaukasus, in Osteuropa und im Nahen Osten, sind imperialistischer Natur. Sie sind Ausdruck der Expansionsbestrebungen des russischen Kapitalismus und stehen in der Tradition der Unterdrückung nicht-russischer Völker durch das Zarenreich und den Stalinismus.

Den Preis für den Krieg zahlt die Bevölkerung in der Ukraine und darüber hinaus

Die Bevölkerung in der Ukraine ist das erste Opfer des Kriegs. Menschen werden getötet, verletzt und traumatisiert. Familien werden zerrissen, Städte verwüstet. Die Bilder aus der Ukraine bewegen zu Recht Menschen überall auf der Welt, die sich gegen den Krieg stellen und Solidarität mit den Opfern des Kriegs ausdrücken. Darüber hinaus bezahlt auch die Arbeiterklasse in Russland für diesen Krieg. Russische Soldaten sterben, und die Mehrheit der russischen Bevölkerung bekommt, im Unterschied zu den Oligarchen und Reichen, die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen im Alltag schmerzhaft zu spüren. Auch anderswo in Europa machen sich die Kriegsfolgen bemerkbar. Bereits jetzt droht der Konflikt auf den Westbalkan überzuspringen. Die Eskalationsdynamik, die sich entfalten würde, wenn ein NATO-Staat mit in den Krieg einbezogen würde, beträfe die breite Bevölkerung.

«Imperialismus» ist kein Etikett, das man einzelnen Staaten aufkleben kann 

Historiker*innen beklagen die «Rückkehr des Imperialismus». Als imperialistisch erscheint dieser Tage vor allem die Politik Putins. Aber so wenig, wie die ausschließliche Kritik an den USA oder der NATO als «imperialistisch» je richtig war, so falsch ist es jetzt, Russland als alleinige imperialistische Macht darzustellen. Der Imperialismus ist ein System rivalisierender Mächte der wirtschaftlich entwickeltesten und mächtigsten kapitalistischen Staaten, die um die Aufteilung der Welt untereinander im Streit liegen. Dieser Streit ist vor allem ökonomischer Natur, droht aber in Phasen der Stagnation und der Krisen politisch-militärische Formen anzunehmen. 

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die militärischen Führungsmächte der NATO – die USA, Großbritannien und Frankreich – zusammen mehr als 80 Kriege und militärische Operationen in allen Erdteilen geführt bzw. durchgeführt. Allein seit 1999 waren es vonseiten der NATO oder einzelner Staaten des Bündnisses 13 Kriege oder Militäroperationen, zum Beispiel gegen Irak, Afghanistan, Libyen, Jemen, Jugoslawien/Serbien, Tschad, Somalia, Mali. Keiner der Kriege war ein Verteidigungskrieg. Die NATO dient weder dem Friedenserhalt noch dem Erhalt der Unabhängigkeit kleinerer, wirtschaftlich schwächerer Nationen, sondern der militärischen Sicherung der wirtschaftlichen Expansionsbestrebungen der führenden westlichen Industriestaaten. Die Konkurrenz zwischen kapitalistischen Nationalstaaten ist die Triebfeder der Kriege. Wirtschaftliche Konkurrenz zwischen nationalen Monopolen und Konzernen schlägt in militärische Konkurrenz zwischen Nationalstaaten um. 

Vorgeschichte – Zerfall und Wiedererstarken des von Russland beherrschten Imperiums

Die sowjetische Armee wurde 1989 zum Rückzug aus Afghanistan gezwungen. Der russische Imperialismus hatte eine schwere Niederlage erlitten. Gorbatschow verkündete, die russische Armee werde – anders als in der DDR (1953), in Ungarn (1956) und in der Tschechoslowakei (1968) – nicht mehr bei Aufständen in Osteuropa intervenieren. Es kam zu großen Aufständen in der Sowjetunion, bei denen Bergarbeiter in Sibirien und in der Ukraine eine zentrale Rolle spielten. Die Arbeiterbewegung verschmolz mit den nationalen Unabhängigkeitsbewegungen. Insgesamt 14 Staaten spalteten sich von der Sowjetunion ab, das unmittelbare geografische Herrschaftsgebiet Moskaus verringerte sich um ein Viertel. Der Zerfallsprozess setzte sich in den 1990er-Jahren fort und drohte das restliche Russland zu ergreifen. Mitte des Jahrzehnts wurde die russische Armee in Tschetschenien geschlagen und war gezwungen, sich zurückzuziehen. Versuche, den Einfluss Russlands aufrechtzuerhalten, etwa über die sogenannte Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), blieben erfolglos. 

Die Wende erfolgte unter Putin. Im Zweiten Tschetschenienkrieg zwischen 1999 und 2009 gelang es der russischen Armee, die Kontrolle über Tschetschenien wiederzuerlangen. Die Vernichtung der Städte, Massenmorde an jungen Männern, Vergewaltigungen und Plünderungen waren Teil der russischen Kriegsstrategie. Im Jahr 2008 überfiel die russische Armee Georgien. Als Begründung diente auch dort der angebliche Schutz russischer Bürger*innen im Ausland. Von daher war es schon immer falsch, den russischen Imperialismus zu negieren oder kleinzureden. Er dient den kapitalistischen Interessen und Bedürfnissen der russischen Oligarchen. Für den russischen Kapitalismus spielt die Ukraine eine wichtige ökonomische und geopolitische Rolle. Die Industrieproduktion war bis 2013 eng mit dem russischen Markt verbunden, das Land ist ein wichtiges Empfänger- und Transitland für russische Rohstoffe. Zudem hatte die Ukraine eine herausragende geopolitische Bedeutung. 

EU, NATO und interimperialistische Konkurrenz

Die Länder Osteuropas wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts sehr schnell wirtschaftlich und politisch in den Westen integriert, erst mit Freihandels- und mit Assoziierungsabkommen, schließlich mit der Aufnahme in die EU. Die Mehrheit der Menschen in Osteuropa begrüßte diese Entwicklung und verband damit die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Die NATO-Osterweiterung und die EU-Beitritte der osteuropäischen Staaten gingen Hand in Hand. Es kam zu einer schrittweisen Neuaufteilung von Macht- und Einflusssphären in Ost- und Südosteuropa. Der Westen führte einen Wirtschaftskrieg gegen die ehemalige Sowjetunion, die zunehmend auf eine Beteiligung an der internationalen Arbeitsteilung angewiesen war.

Die NATO hatten die USA und ihre westlichen Verbündeten gegründet, um die im Zweiten Weltkrieg gewonnenen Einflussgebiete militärisch abzusichern. Später ermöglichte diese feste «Front» den USA, in der Welt Kriege zu führen, ohne Entlastungsangriffen in Europa befürchten zu müssen. Die NATO, deren Existenz mit der Bedrohung durch den Ostblock begründet wurde, blieb nach dessen Zusammenbruch bestehen und nutzte die Schwäche ihres russischen Rivalen, um nach Osten in dessen früheren Einflussbereich vorzustoßen. Durch Abkommen wie die NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 sollte ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis aufgebaut werden, um einen «gemeinsamen Raum der Sicherheit und Stabilität» zu schaffen. Übersetzt bedeutete dies die Anerkennung der Neuaufteilung Osteuropas durch Russland. Im Gegenzug versprach die NATO, keine weiteren einseitigen Schritte zu unternehmen, die den geostrategischen Interessen Russlands schaden würden.

Zu dieser Zusage gehörte auch die Vereinbarung, dass es in den neuen osteuropäischen NATO-Staaten zu keiner nennenswerten Stationierung von Truppen aus anderen NATO-Staaten oder von Atomraketen kommen sollte. Aber in der kapitalistischen Weltordnung lässt sich die zwischenstaatliche Konkurrenz nicht dauerhaft durch Verträge und Absichtserklärungen eindämmen. Während Moskau die Tatsache akzeptieren musste, dass die drei baltischen Staaten 2004 der NATO beitraten, kam es zu offenen Konflikten um wirtschaftliche und geopolitische Interessen in der Ukraine, die über ein enormes wirtschaftliches Potenzial verfügt und als nördlicher Anrainerstaat des Schwarzen Meers strategisch wichtig ist.

Im Jahr 2013 unterbreitete die EU der ukrainischen Regierung ein Assoziierungsabkommen, das den Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland vorsah. Dies führte zu einer Spaltung unter den auch in der Ukraine wirtschaftlich herrschenden Oligarchen, da die Industriekonzerne der Ostukraine (Eisenerz, Kohle, Stahl, Gas) traditionell eng mit Russland verflochten waren. Die Massenproteste auf dem Maidan waren vor allem durch die sozialen Verwerfungen, die die Herrschaft der verschiedenen Oligarchen hervorgebracht hatte, und die Hoffnung motiviert, durch die Annäherung an die EU die Lebensumstände in der Ukraine zu verbessern. Die Frage der EU-Assoziierung wurde schließlich zum dominierenden Thema und führte in den Bürgerkrieg. Nachdem der Westen jahrelang militärisch immer weiter nach Osten vorgedrungen war, nutzte er seine wirtschaftliche Stärke, um russisches Kapital auch aus der Ostukraine zu verdrängen. Moskau reagierte militärisch, annektierte im März 2014 die Halbinsel Krim und unterstützt seitdem Sezessionsbestrebungen im Osten des Landes.

Mit der Krim-Krise ist eine neue Phase der Eskalation eingetreten

Ein neues Wettrüsten war die Folge. Beide Seiten demonstrierten Stärke und provozierten sich gegenseitig mit einem Ausmaß an militärischer Aktivität, wie es sie seit den 1980er-Jahren nicht mehr gegeben hatte. Diesen Prozess haben Russland ebenso wie die NATO in großem Umfang vorangetrieben. Die russische Regierung hat ihre Waffensysteme modernisiert, Kampfdrohnen entwickelt und die Rüstungsexporte gesteigert. Und die NATO hat eine «schnelle Eingreiftruppe» aufgebaut, ihre Truppenstationierung an der Ostflanke sowie ihre Marinepräsenz verstärkt und hält regelmäßig Manöver an Russlands Westgrenze ab. Das festzustellen ist keine Rechtfertigung für Putins Angriffskrieg. Es zeigt, dass das Reden von «Verteidigung» als eine rein defensive Taktik nicht der materiellen Realität der Genese des Konflikts entspricht.

Die NATO ist kein defensives Verteidigungsbündnis – sie ist ein imperialistisches Bündnis

Wer jetzt fordert, nicht länger die NATO zu kritisieren, der geht der Rhetorik der NATO auf den Leim, die ihre imperialen Interessen als Verteidigung tarnt. Und er verkennt die Realität imperialistischer Kriege, die immer grausam ist – auch wenn Medien und bürgerliche Öffentlichkeit einige von ihnen wahrnehmen, andere nicht. Die NATO bombardierte 1999 Serbien. Der Kosovokrieg führte zu Tausenden Toten, einer Herauslösung des Kosovos und einer permanenten NATO-Besatzung auf dem Balkan. Dem Angriff auf Afghanistan 2001 folgte eine 20-jährige Besatzung unter Führung der NATO. Viele NATO-Staaten waren zudem an der US-geführten «Koalition der Willigen» 2003 im Krieg gegen den Irak beteiligt (so Großbritannien, Italien oder die Niederlande) ebenso wie viele ehemalige Ostblockstaaten (darunter nicht nur neue NATO-Mitglieder, sondern auch die Ukraine, Georgien, Albanien und Mazedonien) sowie einzelne Staaten des globalen Südens. Die Bilanz dieser Kriege ist verheerend, Hunderttausende Menschen wurden verletzt und getötet, Millionen vertrieben. 

Der Umbau der Bundeswehr zur Einsatzarmee und ein Aufrüstungsschub sind langfristige Projekte des politischen Establishments

Die von Olaf Scholz ausgerufene «Zeitenwende» reiht sich ein in das Vorhaben der herrschenden Klasse Deutschlands seit 1991, die Bundeswehr in eine weltweit einsetzbare Armee umzuwandeln. Dieser Prozess, angestoßen unter der Regierung Kohl, vollzog sich Schritt für Schritt über die 1990er-Jahre, wie wir in einem gemeinsam von der Linksfraktion und der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2016 herausgegebenen Schwarzbuch, dem «Kritischen Handbuch zur Aufrüstung und Einsatzorientierung der Bundeswehr», detailliert nachgezeichnet haben. 

Der frühere Bundespräsident Horst Köhler bezahlte seine Aussage zur Verteidigung wirtschaftlicher Interessen mit militärischen Mitteln 2010 noch mit seinem Amt. Es war nicht opportun, offen darüber zu sprechen, was bereits 1992 in die «Verteidigungspolitischen Richtlinien» als vitales Sicherheitsinteresse Deutschlands zur Begründung von Auslandseinsätzen geschrieben worden war: «Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt.» 

Auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Januar 2014 verkündeten der sozialdemokratische Außenminister Steinmeier, die konservative Verteidigungsministerin von der Leyen und Bundespräsident Gauck ein offensiveres Verständnis von der Rolle Deutschlands. «Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren», so Steinmeier. Von der Leyen ergänzte: «Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns zu engagieren.» Gauck forderte, die Bundesrepublik sollte sich «früher, entschiedener und substanzieller einbringen».

Die neue Doktrin, die von der Leyen als «Münchner Konsens» bezeichnete, wurde im Januar 2014 vorgestellt. Das war sowohl vor der Massenflucht aus Syrien nach Europa und bevor der IS als Gefahr definiert wurde. Auch die Krimkrise eskalierte erst ab dem 25. Februar 2014, also mehr als drei Wochen nach den Reden Gaucks, von der Leyens und Steinmeiers in München. Da der Anspruch, Deutschland solle zu einer «Gestaltungsmacht» werden, die öfter und entschiedener militärisch eingreifen soll, für die kriegskritische Öffentlichkeit zu offensiv klang, wurde er nicht mit eigenen Interessen, sondern mit der vermeintlichen «Verantwortung» begründet. Dieser Gedanke wurde unter anderem in einem im September 2013 erschienenen Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik mit dem Titel «Neue Macht, Neue Verantwortung» entwickelt. Im Weißbuch 2016 wurde der Faden fortgesponnen und der Anspruch erhoben, «die globale Ordnung aktiv mitzugestalten».

Verteidigungsministerin von der Leyen forderte massive Aufrüstungsschritte ein. Diese umfassten die Beschaffung zusätzlichen Materials vor allem im Zusammenhang mit dem Konflikt mit Russland, Maßnahmen zur Modernisierung bereits vorhandenen, aber technisch veralteten Materials sowie Maßnahmen zur «qualitativen Erweiterung des Fähigkeitsspektrums der Bundeswehr» für die zukünftigen Auslandseinsätze. In diesem Zusammen forderte das Ministerium in einem Schreiben an die Abgeordneten des Verteidigungsausschusses: «Die Ausgaben für Verteidigung müssen über die nächsten Jahre schrittweise deutlich ansteigen und dann verstetigt werden.» Ziel sei es, den Anteil der Rüstungsinvestitionen von etwa 14 auf 20 Prozent der Gesamtausgaben für Verteidigung zu steigern. Der Bedarf allein für diesen Ausgabenbereich betrage 130 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030. 

Angela Merkel bekräftigte wiederholt das Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für den Verteidigungshaushalt bereitzustellen. Zwischen 2014 und 2021 wurde der Militärhaushalt um 50 Prozent erhöht.  

An Krieg gewöhnen – niemals

«Die nüchterne Demokratie und Distanz zum Kriegerischen sind nobel», schreibt Hedwig Richter in ihrem Artikel in der Zeit. Und weiter: «Doch beides gehört zusammen, es muss zusammengehören: die diverse, freie Welt des Friedens und die rohe militärische Verteidigung.» Glaubt Hedwig Richter wirklich, es gäbe eine militärische Antwort auf die aktuelle Eskalation? Mich erinnert ihre Aussage an etwas anderes. 1991 hat der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Admiral Dieter Wellershoff, auf einer Kommandeurstagung vor 480 ranghohen Offizieren beklagt: «Nicht die Überwindung von Angst, sondern das Ausleben von Angst ist zur Nationaltugend erhoben worden. […] Es ist zu fragen, ob wir nicht den Gedanken an Krieg, Tod und Verwundung zu weit in den Hintergrund geschoben haben.»

Die Anti-Kriegs-Stimmung in der Bevölkerung und eine kritische Haltung gegenüber Auslandseinsätzen der Bundeswehr sind lange Zeit Hindernisse für die Militarisierung der deutschen Außenpolitik gewesen und haben unter anderem Hunderttausende gegen den zweiten Golfkrieg 1991 und den Irakkrieg mobilisiert. Beide Mobilisierungen haben SPD und Grüne unterstützt – anders als die gegen den Kosovo- und den Afghanistankrieg. Im Zusammenhang mit der Beteiligung der Marine an Patrouilleneinsätzen der NATO zur Durchsetzung eines Embargos gegen Serbien in der Adria während des beginnenden Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien bemerkte der Spiegel 1992, dass «weder die Bürger noch die Bundeswehr auf solche militärischen Ausflüge vorbereitet» seien. Darauf antwortete Verteidigungsminister Rühe: «Das ist ja meine These. Deswegen müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht nur darum, die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf diese neuen Aufgaben vorzubereiten.» Diese Taktik in Richtung Einsatzarmee wurde in den folgenden Jahren systematisch umgesetzt. 

Letztlich war es die rot-grüne Bundesregierung mit der Beteiligung am Kosovokrieg 1999 und später am Afghanistankrieg, die den Tabubruch vollzog. Dies verunsicherte Teile der Bevölkerung, die noch gegen vorherige Kriege auf die Straße gegangen waren, und erschwerte den Aufbau einer Anti-Kriegs-Bewegung. Die heutige, von weiten Teilen der Medien unkritisch begleitete angekündigte Aufrüstung folgt keinem friedenspolitischen Impuls und wird auch keinen Frieden sichern. Sie lässt vor allem die Rüstungsindustrie jubeln. Sie folgt den strategischen Linien, die alle Bundesregierungen seit 1990 verfolgt haben: Sie dient der Normalisierung des Militärischen. Und sie führt direkt in den Burgfrieden der ganz großen Koalition, die diese Normalisierung befürwortet. Es ist kein Zufall, dass es der sozialdemokratische Kanzler Scholz und die grüne Außenministerin Baerbock sind, die diese massive Aufrüstung durchsetzen.

Neue Friedensengel – alte Interessen

Die wahren Interessen hinter Kriegen werden durch Argumente verborgen, die das kriegerische Vorgehen legitimieren sollen. Deswegen gehören Kriegslügen zum Krieg. Der angebliche «Genozid» an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine, den Putin als Kriegsbegründung anführt, zählt genauso dazu wie die angeblichen Massenvernichtungswaffen des Irak, die die US-Regierung 2003 als Rechtfertigung für den Krieg anführte. Deswegen sollte man auch hellhörig werden, wenn sich auf einmal diejenigen als Friedensengel gerieren, die jahrelang dem ungehemmten Kurs der Aufrüstung, der Eskalation und den imperialen Ambitionen Deutschlands und der EU das Wort geredet haben. In anderen Worten: Wenn Markus Söder auf der Friedenskundgebung in München spricht, läuft etwas falsch. 

Karl-Heinz Paqué, der Vorsitzende der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, sagt auf deren Webseite deutlich, worum es geht: «In jedem Fall hängt die Glaubwürdigkeit der Wende maßgeblich davon ab, dass der neue Kurs auf Dauer erhalten bleibt. Der (bedingungslose) Pazifismus darf nicht wieder auferstehen. Dies zu gewährleisten ist in der Ampelkoalition eine zentrale Aufgabe der FDP – als jener Partei, die traditionell der Landesverteidigung im Rahmen der NATO und ihrer Finanzierung vorbehaltloser gegenübersteht als Grüne und SPD. Parlamentarisch sollte die CDU/CSU diesen neuen Kurs unterstützen, was sie in der historischen Debatte am vergangenen Sonntag tatsächlich getan hat. Die NATO-Partner in West und Ost danken es mit Applaus. Deren Erleichterung über die Botschaft der historischen Parlamentsdebatte war mit Händen zu greifen. Eine große Chance für das wertegebundene Militärbündnis des Westens!»

Die Arbeiterklasse, die Mehrheit der Bevölkerung, zahlt überall den Preis für imperialistische Politik. Auch in Deutschland werden Lohnabhängige und ihre Familien wieder einmal die Kosten für diese Politik der Militarisierung und des Kriegs tragen. 

«Nieder mit den Kriegshetzern diesseits und jenseits der Grenze!» (Karl Liebknecht)

Viele fordern von der LINKEN, ihre friedenspolitischen Positionen und ihre Haltung zur NATO zu überdenken. Ich habe begründet, warum ich davon nichts halte.  DIE LINKE darf zwei Fehler nicht machen: Zum einen war und ist es ein Fehler, die imperialistische Politik Russlands unter Putin zu verharmlosen und mit Kritik an seinem Militarismus, seinen Chauvinismus und der Repression von Opposition und Arbeiterklasse zu sparen. 

Das ist in der Vergangenheit immer wieder passiert und das haben ich und viele andere wiederholt kritisiert. Gerade ist mir eine Kontroverse um einen «Offenen Brief an Gorbatschow» zur Ausrichtung einer Weltfriedenskonferenz wieder in die Hände gekommen. Diesen offenen Brief, der als Antrag an den Bundesparteitag der LINKEN 2015 in Bielefeld gerichtet war, kritisierten mein leider im letzten Jahr verstorbener Genosse Klaus-Dieter Heiser und ich öffentlich, weil er die Kritik an Putin aussparte und nicht den Militarismus im eigenen Lager thematisierte. 

Als Liebknecht davon sprach, «der Hauptfeind steht im eigenen Land», meinte er, dass die Arbeiterklasse sich nicht hinter dem Nationalismus und den imperialistischen Interessen der eigenen herrschenden Klasse sammeln sollte. Das bedeutete nicht, dass sich die Friedenskräfte den Standpunkt des Gegners der eigenen herrschenden Klasse zu eigen machen sollten. Liebknecht forderte: «Nieder mit den Kriegshetzern diesseits und jenseits der Grenze!» Zum anderen war und ist es ein Fehler, unter dem Schock der Ereignisse, die friedenspolitischen Positionen der LINKEN aufzugeben. Nichts anderes ist 1914 angesichts des beginnenden Ersten Weltkriegs bei der SPD und 1999 beim Kosovokrieg bzw. 2001 nach den Terroranschlägen des 11. September mit der Zustimmung von SPD und Grünen zum Afghanistankrieg passiert. 

DIE LINKE begründet ihre Position oft pazifistisch. In einer Situation wie jetzt wird deutlich: Sie muss ihren Standpunkt antimilitaristisch und antiimperialistisch begründen. Auch wenn ihr der Wind ins Gesicht bläst. Das schließt die Frage nach der Gegenmacht zu den Triebkräften des Imperialismus mit ein. Ihre unmittelbare Aufgabe ist es, für eine Deeskalation in dieser brandgefährlichen Situation einzutreten und die drohende Aufrüstung zu bekämpfen. Das würde helfen, eine Friedensbewegung aufzubauen, die all diejenigen stärkt, die nicht der Aufrüstung und der Konfrontation das Wort reden wollen. 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf rosalux.de