The Time is now: die Gelegenheit ergreifen! Warum eine Regierungsbeteiligung 2021 das Ziel der Linken sein muss

von Anne Trompa

Dies ist ein Diskussionsbeitrag zum Call for ideas: Die Bewegungslinke stellt sich die/der „Regierungsfrage“. Er spiegelt die Position der Autorin/des Autors wider, nicht der Bewegungslinken insgesamt. Wir freuen uns auf eine kontroverse, solidarische und lebendige Debatte. Wenn du Widerspruch, eine andere Perspektive oder Ergänzungen zum Beitrag hast, melde dich gerne zu Wort!

„Lassen Sie uns etwas tun, während wir die Chance haben… An diesem Ort, in diesem Moment, ist die ganze Menschheit wir, ob es uns gefällt oder nicht. Lassen Sie uns das Beste daraus machen, bevor es zu spät ist! (…) Was sagst du? “ (Samuel Beckett: Warten auf Godot)

In seiner Rede vor dem Kongress zur Vorstellung eines rund 2,4 Billionen Dollar schweren Investitionspakets sagte der amerikanische Präsident Joe Biden am 29.05.2021 einen Satz, der nicht weniger als eine ideologische Kehrtwende illustriert: „Trickle-down economics has never worked.“ Die anwesenden Demokraten im Kongress erhoben sich und applaudierten. Nicht ohne Grund: Die von Biden aufgelegten Programme in Höhe von 1,3 und 2,4 Billionen Dollar sind größer als Roosevelts New Deal. Sie haben schon jetzt dazu geführt, dass die real verfügbaren Einkommen der Amerikaner:innen trotz über 10%ger Arbeitslosigkeit gestiegen sind. Aber die Qualität der Programme geht über ihre bloße Höhe hinaus. Die Kehrtwende besteht in der Abkehr von der jahrzehntelang dominierenden, neoliberalen Vorstellung eines deregulierten Marktes, der den Wohlstand der Reichsten irgendwann auch bis nach ganz unten spülen soll. Stattdessen setzt Biden ganz auf die Aufnahme hoher Staatsschulden und staatlich gelenkte Umverteilung in Form von höheren Steuern für große Konzerne und gezielte Investitionen in die Infrastruktur, auch für mehr Arbeitsplätze und eine bessere Daseinsfürsorge, wie z.B. durch die Einführung eines Kindergeldes.

Diese Entwicklung ist keine amerikanische Besonderheit. Trotz der Inflexibilität und Behäbigkeit, die die große Koalition in der Corona-Pandemie gezeigt hat, gibt es auch in Deutschland deutliche Anzeichen einer Zeitenwende: Das vielleicht größte strukturelle Hindernis für den künftigen Erfolg von progressivem Regieren hier, die seit 2009 im Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremse, wackelt. Kanzleramtschef Helge Braun himself schlug in seinem Gastbeitrag für das Handelsblatt am 27.01.2021 vor, die Begrenzung der Schulden auf 0,35 % des BIP aufgrund der Krise gleich für mehrere Jahre auszusetzen. Auch wenn dieser Vorschlag sich bisher nicht durchgesetzt hat, macht er doch einen diskursiven Raum auf, der einer künftigen Regierung deutlich mehr Spielraum gäbe, in z.B. Bildung, Forschung, Gesundheit und (grüne) Infrastruktur zu investieren.

Sicher: Selbst wenn die Schuldenbremse wieder aus dem Grundgesetz gestrichen würde, sind die Vermögen noch genau so ungleich verteilt wie zuvor. Und natürlich sind die „Bidenomics“ kein Sozialismus: ein Verein freier Menschen bleibt das Ziel der Linken, er wird weder Gemeinschaftsprojekt noch Kollateraleffekt eines progressiven Bündnisses sein. Aber eines zeigt die gegenwärtige Krise des Neoliberalismus doch ganz deutlich: die Zeit der Alternativlosigkeit ist vorbei. Die Stunde praktischer Veränderung ist da. Wohin die Veränderung geht, ist offen, aber sicher ist: die Gelegenheit für die emanzipatorischen Kräfte in der Gesellschaft, die Politik nach links zu treiben, war lange nicht mehr so günstig wie jetzt. Das ist das eine.

Das andere ist: auch die Dringlichkeit der Umsetzung progressiver Vorschläge war nie größer. Um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen und die kommende Klimakatastrophe abzuwenden, ist ein umfassender Umbau der Gesellschaft erforderlich – und zwar sofort. Gerade angesichts der knappen Zeit zur Abwendung einer völligen Eskalation von Klimakatastrophe und Artensterben: Stichwort planetare Kipppunkte. Die Rettung der Welt können wir dabei nicht einem funktionalistischen Vertrauen in die Selbsterhaltungskräfte des Systems überlassen. Denn der Versuch der herrschenden Kapitalfraktionen, mit einer sanften ökologischen Modernisierung das bestehende Geschäftsmodell (auf Kosten der Ärmeren) zu stabilisieren, wird die Krisen nicht lösen. Zudem wird sie bekanntermaßen soziale Verwerfungen in hohem Ausmaß mit sich bringen. Es bleibt also dabei: Alles muss man selber machen. Die Rettung der Welt vor dem Kapitalismus ohnehin, die Rettung der Welt im Kapitalismus aber leider auch. Zumindest solange eine grundsätzliche Alternative zu ihm nicht auf der Tagesordnung steht. Und seien wir ehrlich: Das tut sie gerade leider nicht. Die Aufgabe der nächsten Jahre ist daher erstmal ein umfassender, sozial-ökologischer Umbau der Gesellschaft. Für die Linke ist das mehr als ein notwendiges Übel, für uns bedeutet es immerhin die Chance für ein besseres Leben für alle Menschen.

Was dafür als LINKE zu tun ist, liegt erstmal auf der Hand – und gibt uns ein echtes Alleinstellungsmerkmal: Statt liberaler Symbolpolitik und Sonntagsreden über Freiheit, Vielfalt und Offenheit, können wir die Frage ihrer materiellen Voraussetzungen stark machen. Gegen die Verkürzung des Antirassismus auf Fragen von Diversity, stellen wir die Frage gleicher Rechte nach vorne. Wir wissen: Es geht darum, Klimagerechtigkeit gegen den Markt durchzusetzen und nicht (weiter) von ihm zu erhoffen. Das Streiten für mehr Demokratie können wir als Frage der Verfügung über Eigentum und Reichtum ausbuchstabieren, anstatt als Haltungsfrage. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es versteht sich dabei von selbst, dass das etwas ganz anderes ist als reaktionärer Populismus, weil es darum geht, über die liberalen Verkürzungen von Bewegungen hinaus zu gehen, anstatt dahinter zurück zu fallen. Ein linker Green New Deal muss schließlich per se als grenzübergreifendes Projekt entwickelt werden. Und auch in Bezug auf den Modus ist eigentlich klar, was es braucht: Parteien und Bewegungen, die bereit sind, sich mit den Reichen und Mächtigen wirklich anzulegen. Denn jeder Green New Deal, der etwas taugt, muss gegen massive Widerstände von Vermögensbesitzern, fossilem Kapital und seinen Profiteuren durchgesetzt werden.

Aber halt – da war doch was. Mit „fortschrittlichen Regierungen“ hat die Linke ja tatsächlich einige schlechte Erfahrungen gemacht. Unsere berühmten Haltelinien sind ein Ausdruck des rot-grünen Traumas, dass mit der Modernisierung der Gesellschaft nach 16 Jahren Kohl dann Hartz IV und Kriegseinsätze kamen. Rote Haltelinien klingen vor diesem Hintergrund erstmal gut: Nach klarer Haltung und Prinzipientreue. Gleichzeitig schwingt in ihnen das Misstrauen sich selbst gegenüber mit, die Angst, die eigene Macht tatsächlich zu nutzen und falsche Entscheidungen zu treffen. Wie Odysseus sich an den Mast fesseln lässt, um dem Gesang der Sirenen nicht zu verfallen und das Schiff ins Verderben zu steuern, sollen die roten Haltelinien die Partei auf Kurs halten und ihr strittige Entscheidungen im Voraus abnehmen. Doch ist es – anders als bei Homer – in der Realität wirklich so einfach, die Versuchungen und ihre Folgen eindeutig zu bestimmen? Zumal die Situation heute in mehrfacher Hinsicht anders ist als vor dem rot-grünen Turn zum Neoliberalismus: Einerseits sind die Krisen existentieller und bedrohlicher, andererseits sind die Chancen größer. Bei einer progressiven Regierung geht es heute eher um die Frage, ob es weit genug oder an den entscheidenden Punkten in die richtige Richtung geht.

Endgegner-Beispiel Auslandseinsätze der Bundeswehr: mit oder ohne UNO-Mandat, bewaffnet oder unbewaffnet, das alles macht doch schon einen Unterschied. Zumal die Welt nicht automatisch eine bessere wird, wenn sich Europa einfach aus dem Elend, das es wesentlich mit angerichtet hat, heraus hält. Antimilitarismus heute auf die Formel zu reduzieren, sich nicht an Auslandseinsätzen zu beteiligen, fordert das machtpolitisch Unmögliche und zugleich viel zu wenig. Eine linke Alternative zur Nato-Politik müsste über rote Haltelinien hinausgehen anstatt sich darauf zurück zu ziehen. Und das bedeutet eben nicht, sich Habecks Forderung nach einem Bekenntnis zur Nato zu unterwerfen. Im Gegenteil: Ziel könnte ein praktischer Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik sein, der sich nicht an symbolischen Fragen, sondern an der realen Verteilung von Ressourcen festmacht. Eine linke Außen- und Sicherheitspolitik stünde in diesem Sinne für weniger Polizei und Militär, für mehr zivile Konfliktbewältigung, für Investitionen in Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen und Bildung: Defund the police and the military! Klar: Dabei geht es dann immer um graduelle Entscheidungen, sicher auch um schmerzhafte Kompromisse. Aber es gibt eben keine Versicherung gegen Fehler. Auch wenn der Wunsch danach verständlich ist, ist er eher Ausdruck einer politischen Vollkaskomentalität. Denn eine linke Regierungspraxis, die den Schwerpunkt der Außenpolitik weg vom Primat des Militärischen verschiebt, würde der Kriegspolitik tatsächlich schaden. Zumindest mehr als eine Linke in der ewigen Opposition, die sich wegen prinzipiellen Fragen selbst aus dem Spiel um die Macht nimmt. Denn Haltelinien, die in der aktuellen Offenheit der Situation ein „sich raushalten“ bedeuten, laufen Gefahr, am Ende des Tages vor allem politische Bequemlichkeit zu sein. Das wäre so schlimm nicht, wenn wir ganz viel Zeit hätten. Aber die Zeit haben wir nicht.

Das Warten auf eine vermeintlich bessere Konstellation zum Regieren können wir uns schlicht nicht leisten. Denn nochmal: In weniger als 15 Jahren muss Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land der EU CO2-neutral werden, um das 1,5 Grad-Ziel erreichen zu können. Die Zeit ist knapp. Zu knapp für linke Folklore und Symbolpolitik. Zu knapp für das Warten auf den großen Kladderadatsch. Und leider auch zu knapp dafür, allein auf die langfristige Verschiebung der Kräfteverhältnisse von Unten zu setzen, so wichtig Organisierung im Alltag und Druck von Bewegungen auf der Straße natürlich bleiben. Deswegen bin ich für eine Reformregierung, die die sozialökologische Wende versucht und einen außenpolitischen Paradigmenwechsel einleitet – und das sollte nicht an ein paar Bundeswehrsoldaten im Ausland scheitern. Denn auch wenn sie klein ist: Es gibt die reale Chance, eine grün-rot-rote Regierung zu einer tatsächlichen sozial-ökologischen Reform des neoliberalen Kapitalismus zu bewegen. Natürlich wäre das Ergebnis davon selbst im Erfolgsfall keine Gesellschaft der Freien und Gleichen, allerdings immerhin doch auch schon mal: kein Weltuntergang. Angesichts der aktuellen Lage gäbe es Schlimmeres.