»Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«

Der letzte Versuch, eine rot-grüne Regierung von links zu prägen, ist lautlos gescheitert. Warum sollten wir es noch einmal probieren? Von Jan Maas

Vielleicht ist es schwer vorstellbar, aber der Regierungsantritt von Rot-Grün 1998 war mit einigen Hoffnungen verbunden. Das scheint in der LINKEN heute weitgehend vergessen. Es ist leicht erklärlich, denn die Wurzeln der Partei liegen im Widerstand gegen die »Agenda 2010«, die Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Anfang 2003 verkündete. Wut und Enttäuschung darüber prägen DIE LINKE bis heute. Doch vor 1998 diskutierte die Linke noch die Möglichkeit, mit einer rot-grünen Regierung einen »ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft« einzuleiten.

Das klingt bekannt. Heute spricht man zwar eher von einem »Green New Deal«, aber auch dieser wird oft an die Bedingung einer Regierung von Grünen, SPD und LINKEN geknüpft. Programmatische Schnittmengen zwischen diesen Parteien lassen sich schnell finden; heute wie damals. Doch mit den Gemeinsamkeiten auf dem Papier beschäftige ich mich hier nicht; auch nicht mit der Frage, ob eine linke Regierung überhaupt eine Voraussetzung für linke Reformen ist.

Mir geht es hier darum, in sehr groben Zügen zu umreißen, wie in den 90er Jahren die konservative Kohl-Ära zu Ende ging, welche gesellschaftlichen Kämpfe in dieser Zeit stattfanden, wie sich die Linke auf den Regierungswechsel vorbereitete, der sich ab 1996 abzeichnete, und was sie schließlich daraus machte. Denn der »ökologisch-soziale Umbau der Industriegesellschaft« blieb bekanntlich aus. Im Grunde ist das Stoff für einen viel ausführlicheren Artikel. Hier bleibt es jetzt bei einer Skizze.

Eine Niederlage der Linken

Es gäbe gute Gründe, bei der Entstehung der Grünen 1980 vor dem Hintergrund des Niedergangs der Bewegungen nach 1968 zu beginnen. Ich fange aber bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 an. Das hat unter anderem den Grund, dass der Spitzenkandidat der SPD damals Oskar Lafontaine war. Grundlage war das neue Berliner Programm, das 1989 verabschiedet worden war. Es hatte das Godesberger Programm von 1959 ersetzt. Interessant daran ist, dass der Diskussionsprozess seit 1984 die Herausforderung durch die neuen sozialen Bewegungen (und die Grünen) widerspiegelte.

Lafontaine hatte seit 1987 an der Spitze der Programmkommission gestanden. Das endgültige Programm war zwar gegenüber dem linken wachstumskritischen Entwurf abgeschwächt worden, nannte aber dennoch den »demokratischen Sozialismus« als Ziel und forderte einen »ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft«. Dann fiel wenige Wochen vor dem Programmparteitag im Dezember 1989 die Mauer. Am selben Tag, an dem die SPD ihr neues Programm verabschiedete, sprach Helmut Kohl in Dresden vor einem Meer von Deutschlandfahnen.

Die SPD hielt am »ökologisch-sozialen« Thema fest. Zugleich war Lafontaine Gegner einer schnellen Wiedervereinigung. Die Folge ist bekannt: Kohl gewann die Wahl haushoch. Lafontaine schlug daraufhin den SPD-Vorsitz aus und zog sich aus der Bundespolitik zurück. Die Grünen wiederum schieden aus dem Bundestag aus, nachdem sie zwei Legislaturperioden lang darin vertreten gewesen waren. Diese Niederlage beschleunigte die realpolitische Wende, die mit der ersten Regierungsbeteiligung in Hessen 1987 eingeleitet worden war. Parteilinke wie Harald Wolf und später Jutta Ditfurth verließen die Grünen. Kurz: Es sah gar nicht gut aus für einen »Umbau«.

Gesellschaftlicher Rechtsruck

Neben dem Ende der DDR 1990 und der Auflösung der Sowjetunion ein Jahr später war das katastrophale Wahlergebnis ein Grund dafür, dass sich auf der Linken mehrheitlich ein Gefühl der Niederlage und des Scheiterns breit machte. Der gesellschaftliche Rechtsruck, der nun folgte, verstärkte dieses Gefühl noch. Auf die Euphorie nach der Wiedervereinigung folgte bald Ernüchterung, als die Treuhandanstalt ihre Arbeit aufnahm und Betriebe abwickelte. Die CDU setzte auf Nationalismus und begann, Stimmung gegen Asylbewerber:innen zu machen.

Eine Serie von Morden, Pogromen und Anschlägen folgte, von denen Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen nur die bekanntesten bezeichnen (übrigens in Ost und West). In Reaktion darauf entstanden die ersten Lichterketten gegen Rechts, an denen sich im Winter 1992/93 in vielen Städten Hunderttausende beteiligten. Die Regierung Kohl hielt jedoch Kurs und steuerte auf die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl zu. Bedeutsamer war, dass die SPD trotz einer Großdemonstration in Bonn im Sommer 1993 der Regierung die dazu nötige Zweidrittelmehrheit verschaffte.

Tausende linke SPD-Mitglieder verließen daraufhin ihre Partei. Bündnis 90/Die Grünen (seit 1993 vereinigt) unterfütterten indessen 1994 mit Regierungsbeteiligungen in Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt (»Magdeburger Modell«) ihre realpolitische Wende. Zur Bundestagswahl im selben Jahr trat die SPD mit einer »Troika« an. Kanzlerkandidat war der Parteivorsitzende Rudolf Scharping. Neben Lafontaine, der für den »Umbau« stand, verkörperte Schröder den wirtschaftsfreundlichen Flügel der Partei. Nach einem profillosen Wahlkampf (Slogan: »Stark«) ging auch diese Wahl verloren.

Kurswechsel auf Rot-Grün

Auf dem folgenden Mannheimer Parteitag 1995 vermochte Scharping es nicht, der Partei eine neue Orientierung zu geben. Lafontaine entschloss sich (nach eigener Darstellung wurde er gebeten), spontan bei der Wahl zum Vorsitzenden gegen Scharping anzutreten. Obwohl die SPD-Linke nach dem »Asylkompromiss« stark geschwächt war, gewann Lafontaine. Er trat für einen Kurswechsel in dem Sinne ein, dass ein rot-grünes Bündnis offen als Ziel der SPD und als Weg, Kohl abzulösen, propagiert werden sollte. Das missfiel insbesondere dem wirtschaftsfreundlichen Flügel in der SPD.

Jedenfalls stand Rot-Grün bei Lafontaine damit ebenso für die bloße Möglichkeit, eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen, wie für ein (wenn auch begrenztes) Reformprojekt. Darum erhielten die Hoffnungen auf einen »ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft« langsam wieder Auftrieb, auch in der Linken. SPD-Linke, grüne Linke und PDS-Mitglieder organisierten unter der Überschrift »Crossover« eine Konferenz in Berlin Anfang 1996, um Chancen auszuloten, Rot-Grün von links zu prägen. Eingeladen hatten die Zeitschriften SPW, Andere Zeiten und Utopie kreativ.

Im Bericht der Koordinationsgruppe hieß es später: »Gegenwärtig entwickelt sich ›Rot-Grün‹ zu einer griesgrämigen, zankenden Verwaltung von Schnittmengen, von der keine nennenswerten Impulse für Veränderungen oder gar einen Aufbruch ausgehen. Demgegenüber wollen wir ein eigenständiges gemeinsames Reformprojekt herausarbeiten und deutlich machen.« (SPW 88, S. 20) Die Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Ideen in den eigenen Parteien sahen die Beteiligten von SPD und Bündnisgrünen realistischerweise kritisch.

So schrieb etwa SPW-Redakteur Ralf Krämer über die Lage in seiner Partei: »Die SPD wird immer mehr zu einer sozialpatriotischen Wirtschaftsförderungspartei.« (SPW 88, S. 9). Rüdiger Brandt von »Andere Zeiten« meinte, dass der Parteilinken bei den Bündnisgrünen unter dem Druck des »Machtzentrums der neuen Bundestagsfraktion« nur »die defensive Rolle der Verteidigung der Programmatik« blieb (SPW 88, S. 7). An Problembeschreibungen und Reformkonzepten mangelte es nicht, dafür aber an einer Strategie, die über die Einladung zur nächsten Konferenz hinausging.

Bewegung von unten

Unterdessen begann die gesellschaftliche Stimmung, sich nach links zu drehen. Deutschland galt aufgrund großer Schulden und hoher Arbeitslosigkeit als »kranker Mann Europas«. Finanzminister Theo Waigel (CSU) schnürte ein »Sparpaket«, das herben Sozialabbau bedeutet hätte. Die Gewerkschaften mobilisierten im Sommer 1996 mehrere hunderttausend Menschen zu einer Großdemo in Bonn. Wenig später verhinderte die IG Metall mit Streiks, dass die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – Teil des »Sparpakets« – umgesetzt wurde. Das »Sparpaket« war damit gescheitert, die Regierung an ihrem Kernprojekt geschlagen.

Im folgenden Winter initiierten Intellektuelle und Gewerkschafter:innen – darunter Bodo Ramelow – die »Erfurter Erklärung«, einen überparteilichen Aufruf für einen Politikwechsel. Sie entstand parallel zu und in Austausch mit dem »Crossover«-Projekt, hatte jedoch eine deutlich größere Wirkung in der Öffentlichkeit. Es entwickelte sich eine regelrechte »Anti-Kohl-Stimmung«, welche die SPD allerdings kanalisierte, anstatt sie zu schüren. Im Frühjahr 1997 stürmten protestierende Bergarbeiter aus Wut über den »Kohlekompromiss«, der ihre Arbeitsplätze gefährdete, die Bonner Bannmeile. Es war Oskar Lafontaine, der die Situation mit einer Rede beruhigte und die Kumpel mit Verweis auf die kommende Bundestagswahl wieder nach Hause schickte.

Nichtsdestotrotz blieb die »Anti-Kohl-Stimmung« auf der Straße spürbar. Zu Beginn des Wintersemesters 1997/98 protestierten Studierende in Gießen gegen die schlechten Bedingungen an ihrer Uni. Bald breitete sich die größte Studierendenbewegung seit 1968 von Hessen über Deutschland aus. Im Dezember wurde die Bonner Bannmeile ein zweites Mal in diesem Jahr gestürmt. Mit der Wahl Gerhard Schröders zum Kanzlerkandidaten 1998 signalisierte die SPD dann allerdings, dass auf Kohl kein »sozial-ökologischer Umbau der Industriegesellschaft«, sondern eine Modernisierung des »rheinischen Kapitalismus« folgen würde.

Harte Landung

Im Herbst 1998 war es dann tatsächlich so weit: Kohl verlor die Wahl und Deutschland hatte seine erste rot-grüne Regierung. Doch selbst bescheidene Reformprojekte des neuen Finanzministers Lafontaine zogen sofort Angriffe seitens des Kapitals auf sich. Über seinen Rückzug aus der Politik Anfang 1999 gibt es verschiedene Darstellungen von ihm. Zunächst argumentierte Lafontaine in seinen Buch »Das Herz schlägt links« mit dem mangelnden Rückhalt Schröders für seine Finanzpolitik. Später schob er die Vorbereitungen für den Krieg gegen Jugoslawien als Begründung nach.

Wie dem auch sei: Weder gegen das Eine noch gegen das Andere gab es aus den Reihen der SPD-Linken und der linken Bündnisgrünen, die auf einen »Umbau« orientiert hatten, wirksamen Widerstand. Die Friedensbewegung ging zwar auf die Straße, war aber durch die Begründung des grünen Außenministers Joseph Fischer, durch den Krieg werde ein neues Auschwitz verhindert, de facto gespalten. Ähnlich lähmend wirkte sich später der Einfluss der SPD in den Gewerkschaften aus. Der Farbbeutelwurf auf Fischer auf dem Parteitag in Neumünster stand symbolisch für die Machtlosigkeit der gesellschaftlichen Linken gegenüber der neuen Regierung in der ersten Zeit.

Die Tatsache, dass Rot-Grün eben nicht für einen »Umbau«, sondern für eine Modernisierung stand, führte zu einer Reihe von kleineren Austrittswellen aus den beteiligten Parteien in den folgenden Jahren. Zu denjenigen, die die SPD 1999 verließen, gehörte nicht nur der Autor dieser Zeilen, sondern beispielsweise auch Ralf Krämer, der in seinem Austrittsschreiben seine Auffassung begründete, »dass das weitere Festhalten an der parteipolitischen Orientierung auf die SPD für SozialistInnen keine überzeugende Perspektive mehr bietet«. (SPW 111, S. 49) Beim größten Teil dieser Austritte handelte es sich um individuelle Rückzüge ohne gemeinsame Perspektive.

Gründung der WASG und der LINKEN

Es dauerte bis zum Herbst 2003, bis sich gegen die Regierung Schröder ähnliche Proteste zeigten wie gegen Kohl in der Endphase. Der Auslöser dafür war die »Agenda 2010«, die das nachholte, was Waigel mit seinem »Sparpaket« 1996 nicht durchsetzen konnte. Dem trotz des Einflusses der SPD wachsenden Widerstand in den Reihen der Gewerkschaften gegen diesen Sozialabbau begegnete »Basta-Kanzler« Schröder mit dem Rauswurf von Funktionären wie Klaus Ernst und Thomas Händel.

Mit dem Aufruf von Ralf Krämer zu einer »Wahlalternative 2006« bot sich dann ein neuer organisatorischer Rahmen für diejenigen Linken, die SPD und Bündnisgrüne bereits verlassen hatten oder frisch rausgeworfen worden waren und noch nicht bei der PDS gelandet waren. Die Gründung der LINKEN aus WASG und PDS umfasst im Grunde organisatorisch genau diejenigen Kräfte, die vor 1998 versucht hatten, Rot-Grün von links zu prägen.

Ein anderes Übel

Selbstverständlich gibt es immer noch Linke in SPD und Bündnisgrünen. Und ebenso selbstverständlich kann es sein, dass es unter neuen Mitgliedern ohne frustrierende Vorgeschichte in diese Parteien Sympathien für einen »ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaft«, einen »Green New Deal« oder sonst irgendein Reformprojekt gibt. Die Frage ist, welche Schlussfolgerung daraus zu ziehen ist, dass die letzte rot-grüne Regierung das nicht geliefert hat.

Offensichtlich mangelte es weder am Programm noch an Rückhalt. Rot-Grün wurde von großen gesellschaftlichen Mobilisierungen und Kämpfen ins Amt getragen. Unmittelbar vor der Wahl fanden noch zwei Großdemos statt: »Aufstehen für eine andere Republik«, initiiert von der »Erfurter Erklärung«, in Berlin und das erste Festival »Her mit dem schönen Leben« der DGB-Jugend in Frankfurt am Main. nach der Wahl beugte sich Rot-Grün dann allerdings nicht deren Bedürfnissen, sondern denen des Kapitals.

Dieser Prozess lief nicht konfliktfrei ab und er dauerte seine Zeit. Aber die Richtung war immer klar. Am Ende senkte die »Agenda 2010« die Lohnkosten für das Kapital deutlich und machte Deutschland zum Exportweltmeister. Auch der Tabubruch, sich an dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu beteiligen, folgte dem Interesse des Kapitals, in der internationalen Konkurrenz mehr Macht ausüben zu können. Er ebnete den Weg für die folgenden Einsätze wie in Afghanistan und Mali.

Darum war Rot-Grün auch kein kleineres Übel, sondern ein anderes Übel. Ja, es gab eine gesellschaftliche Liberalisierung im Vergleich zur Kohl-Ära durch die »68er an der Macht«. Insbesondere die Springer-Presse attackierte Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin wegen ihrer linken Vergangenheit hart. Aber auf der anderen Seite standen die Durchsetzung von Sozialabbau und Kriegseinsätzen durch den lähmenden Einfluss in den Gewerkschaften und der Friedensbewegung.

Das würden SPD und Bündnisgrüne jederzeit wieder versuchen. Sie sehen sich einem funktionierenden Kapitalismus verpflichtet. Die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft – zu der sie selbst in erheblichem Maße beigetragen haben – werden sie auf keinen Fall gefährden. Im Grunde zeigt der Begriff des »Green New Deal« schon, unter welchem Motto die nächste Modernisierungsrunde auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausgetragen werden soll. Eine Beteiligung der LINKEN daran würde nur dazu führen, dass sich die Partei den Bedürfnissen des Kapitals beugt und als Teil des Widerstands ausfällt.

Autor: Jan Maas ist seit 1990 aktiv in der antifaschistischen Bewegung. Von 1993-1999 war er Mitglied der SPD und der Jusos. 2004 trat er in die WASG ein. Derzeit ist er aktiv in der LINKEN Berlin Treptow-Köpenick und Mitglied der Bewegungslinken. 1995-2007 Mitglied von Linksruck. Seit 2007 Redakteur von marx21.