Jörg Schindler – Thesen zur Migrationsfrage

  1. Migrationsbewegungen gab es historisch schon immer. Menschen überwinden Grenzen und ganze Kontinente. Die Gründe dafür sind vielfältig: Flucht vor Hunger und Armut und politischer Verfolgung zählen genauso dazu, wie die Suche nach einem Arbeitsplatz. An ihren neuen Lebensorten entwickeln Menschen soziale Bezüge und tragen zum gesellschaftlichen Leben bei. Sie gründen Familien, beteiligen sich am politischen Gemeinwesen und am kulturellen Leben. Die Welle der Migration 2015, die Europa erreichte, hat allerdings die Diskussion der Linken hierüber neu entfacht.
  2. Migrationsbewegungen sind im Kapitalismus regelmäßig nicht selbstbestimmt, sondern Ergebnis tiefgreifender gesellschaftlicher Konflikte oder faktisch naheliegender oder gar direkt erzwungener Entscheidungen. Deshalb ist a) ein schlichtes liberales “Recht auf Bewegungsfreiheit” für sozialistische Politik nicht ausreichend, da es die Menschen nicht als gesellschaftliches, sondern als isoliertes Individuum betrachtet. Umgekehrt ist jedoch auch b) ein bloßer “Zwang zum Verbleiben” – sei es durch Mauern, Grenzanlagen oder Gewalt, aber auch zur Verwirklichung hehrer Fortschrittsziele – keine sozialistische Politik. Es ist keine Option, durch Mauern, Grenzen oder rigide rechtliche Regelungen (Obergrenzen o.ä.) verhindern zu wollen, dass  Menschen ihren Lebensort ändern. Sie ist ohne Rückfall hinter bestimmte zivilisatorische Standards noch überhaupt sachlich erfolgversprechend. Zugleich ist aber auch eine “liberale Großzügigkeit” ungeregelter Migration keine Option. Es ist keine sozialistische Politik, Menschen einfach in unseren Staat einreisen zu lassen und sie dann hier ihrem Schicksal zu überlassen. Aus der Einreise und der Anwesenheit erwachsen materielle Ansprüche – auf soziale Absicherung und gleiche gesellschaftliche Teilhabe; auf konkrete Verwirklichung der sozialen Bezüge.
  3. Die formale Möglichkeit von Einreise und Anwesenheit in unserem Staat muss deshalb verknüpft werden mit der materiellen Möglichkeit, als anerkannter Teil der Gesellschaft hier zu leben, zu arbeiten und demokratisch teilzuhaben. Migration ist kein freiwilliges, sondern sogar ein extrem vermachtetes Verhältnis. Deshalb ist Flucht und Einwanderung regelungsbedürftig, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen im Sinne des Ermöglichens, zum anderen aber auch im Sinne des regelnden Ordnens nach den individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen, die aus dem Hiersein der Menschen folgen. Die Forderung nach “Offenen Grenzen für alle Menschen” im Erfurter Programm muss deshalb in dieser zweifachen Gestaltung konkretisiert werden. Nicht die anarchische Vorstellung, einfach alle Grenzanlagen niederzureißen oder eine vereinfachte “kommunistische” Vorstellung der Auflösung aller Staatlichkeit ist sozialistische Politik – im Übrigen ebenso wenig wie umgekehrt die propagandistische Verlagerung “offener Grenzen” als Ziel einer fernen Utopie und damit die schmerzarme Entsorgung im politischen Alltag. Die Tatsache der Migration und deren Eigensinnigkeit sowie die Anwesenheit von MigrantInnen in der Bundesrepublik und an ihren Grenzen verlangen von sozialistischer Politik, bereits unter existierenden kapitalistischen Bedingungen um soziale und demokratische Ansprüche kämpfen. Gerade, weil MigrantInnen Ansprüche (auf Einreise und folgend Teilhabe) erhalten müssen, aber auch, weil das Zusammenleben mit den bereits hier Lebenden auf der Grundlage von Solidarität und Anerkennung beruhen soll, sollte sozialistische Politik für gesetzliche Regelungen eintreten, die diese Ansprüche stützen. Die Konzeption für eine linke Einwanderungsgesetzgebung, die die Projektgruppe Einwanderung vorgeschlagen hat, schafft solche Ansprüche. Es sind Ansprüche auf geregelte Einwanderung mit sozialen und demokratischen “Leitplanken”. Das ist sozialistische Migrationspolitik.
  4. Sozialistische Migrationspolitik orientiert sich am Leitbild einer demokratischen und sozialen Einwanderungsgesellschaft. Wir setzen auf ein inklusives “Wir, die hier leben“ (wollen). Das entspricht den Ansprüchen, vielfach bereits gelebter Praxis in Kommunen, in der Arbeit und der Freizeit, in Gewerkschaften genauso wie in Sportvereinen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Es gilt, diesen Ansprüchen in der Praxis einen Rahmen zu geben und dort ordnend einzugreifen, wo Benachteiligungen für Unsicherheit und Desintegration sorgen.
  5. Sozialistische Migrationspolitik hat auch konkrete Träger und Adressaten: Es sind die Menschen, die das “inklusive Wir” praktizieren wollen oder bereits praktizieren – rebellisch gegen Rassismus und hohem politischen Bewusstsein oder “einfach so” als Teil ihres Alltags. Wir vertreten ihre praktischen Interessen. Zugleich kämpfen wir im Alltag um die Schwankenden, weil wir überzeugt sind, dass auch diese mit Regelungen des Ermöglichens und Ordnens für ein gemeinsames attraktives Zusammenleben aller, “die hier leben” (wollen), gewonnen werden können – gegen die Neoliberalen und Konservativen.

Die drei Säulen sozialistischer Migrationspolitik nach dem Vorschlag der “Projektgruppe Einwanderung”:

  1. Sozialistische Migrationspolitik kämpft – als erste Säule – für den Erhalt und den Ausbau des Rechts auf Asyl sowie der Rechte nach Genfer Flüchtlingskonvention. Die unmittelbare Gefährdung von Leib und Leben ist zwingender und nicht an anderen Interessen abzuwägender Grund für die Aufnahme von Menschen in unserem Staat. Es ist schlicht Gebot von Humanität.
  2. Sozialistische Migrationspolitik tritt darüber hinaus – als zweite Säule – dafür ein, dass die Ansprüche von MigrantInnen, in unserem Staat gleichberechtigt zu leben, auch wenn sie nicht der ersten Säule unterfallen, formell und materiell erfüllt werden können. Maßstab ist nicht Abstammung und nicht Verwertbarkeit, sondern das Bestehen sozialer Anknüpfungspunkte zu unserer Gesellschaft. Diese sind: familiäre Beziehungen zu bereits hier lebenden Personen, die Aufnahme eines Studiums/einer Ausbildung bei Vorliegen der dafür notwendigen persönlichen Voraussetzungen, die Suche nach oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bei Vorliegen der dafür notwendigen persönlichen Voraussetzungen, die Aufnahme einer Gemeinwohltätigkeit in Vereinen und Organisationen, bei staatlichen Einrichtungen oder in ehrenamtlichen Tätigkeiten. Haben also MigrantInnen diese sozialen Anknüpfungspunkte in der Bundesrepublik oder wollen sie diese unmittelbar herstellen, treten wir dafür ein, dass sie einen gesetzlichen Rechtsanspruch erhalten, in die Bundesrepublik einreisen und hier leben zu können. Die bestehenden Ausländerbehörden als Teil der Ordnungsbehörden sind aufzulösen und stattdessen Einwanderungsbehörden als Teil der Sozialverwaltungsbehörden einzurichten, die die Einreisevoraussetzungen prüfen und die Integration der MigrantInnen unterstützen (etwa bei Sprachkursen, Bildungsabschlussanerkennung, Zusammenarbeit mit Kita, Schulen, Jugendämtern, den Arbeitsagenturen/Jobcenter, Weiterbildung, Durchsetzung von sozialen Rechtsansprüchen usw…). Hierfür ist ein ermöglichendes und ordnendes linkes Einwanderungsgesetz erforderlich.
  3. Sozialistische Migrationspolitik tritt zudem als dritte Säule dafür ein, dass MigrantInnen nach einer Phase der Einreise und der sozialen Integration zügig die Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit erhalten. Konkret wollen wir das StAG wie folgt reformieren: Ermöglichung der Mehrstaatlichkeit/Wegfall der so genannten “Optionspflicht”, Einbürgerungsanspruch nach drei Jahre legalem Aufenthalt, Umstieg auf Ius-solis-Staatsangehörigkeit. Hierdurch sollen die MigrantInnen die Möglichkeit gleicher demokratischer Rechte auch bei Wahlen und Abstimmungen sowie im Rahmen beamtenrechtlicher Vorschriften erhalten sowie die kompletten Schutzwirkungen der Grundrechte nutzen können.

Wittenberg/Potsdam, 31.03.2018