Kategorie: Außenpolitik

Als einzige Kraft gegen die Aufrüstung

Beitrag von Janis Ehling

Nun, ein paar Tage nach dem Schock und zwei Demonstrationen gegen diesen Krieg später, bin ich auch nur unwesentlich schlauer, aber zumindest etwas gesammelt. In keiner Welt konnte ich mir diesen russischen Angriff auf die Ukraine vorstellen. Im schlimmsten Fall dachte ich an einen Angriff im Osten der Ukraine. Schlimm genug. Aber das, was wir jetzt erleben, kann ich bis heute kaum fassen. Die russische Armee rückt weiter von Norden, Süden und den Grenzübergängen im Nordosten in die Ukraine ein. Was dieser Angriff bezwecken soll, ist noch immer unbekannt. Will Putin tatsächlich seine panslawistischen Großrusslandträume wahr machen oder nur den Osten und Süden der Ukraine „erobern.“ Hat er darauf gehofft, dass die Ukraine schnell kapituliert? Wir wissen es nicht.

Klar ist nur, in der Ukraine herrscht Krieg. Im Kriegsgebiet der nächsten Tage wohnen über 20 Millionen Menschen. Die russische und ukrainische Armee versuchen noch Rücksicht zu nehmen auf die Zivilbevölkerung, aber das ändert sich in den letzten Stunden mehr und mehr. Die russische Armee setzt vermehrt Artillerie oder Bombardements in den Innenstädten ein. Die Gefechte beschränken sich meist noch auf die Straßen. Putin war sich seiner Sache offenbar noch nicht so sicher. Der Angriff auf die Ukraine dürfte in Russland auf weit weniger Zustimmung als andere Kriege treffen. In der Ukraine können alle Menschen russisch sprechen. Die Entmenschlichung fällt den Beteiligten – Gott sei Dank – noch schwer. Gegen Syrer, Tschetschenen und Georgier geht offenbar, was in der Ukraine (noch) nicht geht.

Seit dem russischen Angriff auf die Krim und den Osten der Ukraine 2014 hat der ukrainische Nationalismus aber massiv zugenommen. Auch die russischsprachigen Gebiete im Osten der Ukraine sind überwiegend von Ukrainern besiedelt. Russische Bevölkerungsmehrheiten gibt es nur hier und da in den Städten.

Die Ukraine und die Ukrainer haben ein Selbstverteidigungsrecht, dass die Menschen vor Ort ausüben – egal, was andere ihnen dazu sagen. Die ukrainische Luftabwehr ist noch nicht geschlagen, wenngleich einem Gutteil der ukrainischen Armee um die sogenannten „Volksrepubliken“ in den nächsten Tagen die Einkesselung droht, weil die „Südfront“ der ukrainischen Armee von Tag 1 an komplett kollabiert ist. Von der Krim ist die russische Armee über 150 Kilometer nach Norden und Osten vorgerückt. Anders sieht es in den großen Städten im Norden und Osten aus. Kiyew, Charkiw, Tschernichiw. Hier kommt es seit Tagen zu massiven Feuergefechten. Kiyew und Charkiw sind Millionenstädte. Viele Menschen harren hier in den U-Bahnen aus. Die Lebensmittelversorgung ist zusammengebrochen, Strom und Wasser sind aber noch da, aber unklar ist wie lange noch – um die Kraftwerke wird gekämpft. Alle drei Städte stehen davor umschlossen zu werden. Der Westen der Ukraine gilt als sicher, weil er bis auf die Flugplätze von russischen Bombardements verschont blieb. Dem ukrainischen Westen scheint der russische Angriff (noch) nicht zu gelten.

Hält sich die ukrainische Armee und scheitern die Verhandlungen, wird dieser Krieg so eskalieren wie jeder Krieg. Wie schon in Syrien ist es auch ein Krieg um Bilder. Die russischen Medien desinformieren scheinbar massiv. Noch vermeiden beide Seiten daher größtenteils die Einbeziehung der Wohnhäuser, Krankenhäuser und der zivilen Infrastruktur. Wie lange noch?

Ich weiß nicht, auf was ich hoffen soll. Natürlich sympathisiere ich mit dem Widerstand gegen die russische Armee und hoffe im Herzen, dass die Ukrainer diese Invasion zurückschlagen. Gleichzeitig wird mir speiübel, wenn ich darüber nachdenke, was das für die Bevölkerung bedeutet. Alle ukrainischen Männer wurden nun einberufen. Für Russland kämpfen teils 18-Jährige wie auf den Bildern zu sehen ist. Die Ukraine ist eines der bevölkerungsreichsten Länder Europas. Soll ich in den Millionenstädten Kiyew und Charkiw auf einen Häuserkampf hoffen? Sollen dafür Waffen geliefert werden?

Die EU und die USA haben die Ukraine zum Spielball ihrer Interessen gemacht. Russland ohnehin schon lange vorher. Kann „der Westen“ die Ukraine im Stich lassen? Er tut es jedenfalls nicht und schickt Waffen gegen den alten, neuen Feind. Und natürlich hat der Westen eine Mitschuld an dieser Eskalation. Statt Russland in den 00er Jahren näher an den Westen zu holen und zu integrieren, passierte viel zu oft das Gegenteil. Das der Westen zu lange versuchte, Russland zu integrieren und auf Diplomatie und gute Beziehungen setzte wie Friedrich Merz und Alexander Dobrindt am Sonntag in der Sondersitzung des Bundestages behaupteten, ist schlicht gelogen. Als LINKE hatten wir uns dafür immer eingesetzt, um eine militärische Konfrontation der NATO mit Russland zu vermeiden, wollten wir eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur mit Russland, um Kriege wie diesen wirklich zu vermeiden. Mit diesem Krieg hat Putin das nun selber zunichte gemacht – vermutlich auf Jahrzehnte. Der Kalte Krieg ist zurück. Unsere Position war nicht falsch, aber die Wirklichkeit hatte sie längst überholt.

Nach der Abweisung durch den Westen wandte Putin sich dann offen rechten Ideologen wie Alexander Dugin und der russisch-orthodoxen Kirche zu. Statt sich damit zu begnügen, der Präsident zu sein, der Russland nach dem Chaos der 90er wieder organisierte, stellt sich Putin nun offenbar in eine Reihe mit den Zaren. Als solcher muss er natürlich Eroberungen vorweisen. Für diese rechte Kehrtwende ist Putin allein verantwortlich. Diesen Wandel haben einige in meiner Partei unterschätzt. Mit den brutalen Konsequenzen dieses Nationalismus aber hat fast niemand gerechnet – auch ich nicht. Auch wenn die Anzeichen da waren in Georgien, Syrien und mit der Besetzung der Krim. Klar ist: Das Blut der Ukrainer und der jungen russischen Truppen klebt an den Händen Putins – daran ändert auch keine Vorgeschichte etwas.

Der Krieg scheint in Russland nicht besonders beliebt zu sein. Zwar gibt es augenblicklich große Friedensdemonstrationen aller Orten, aber das wird sich wahrscheinlich schnell geben. Die Sanktionen des Westens sind sehr hart und sie werden die russische Zivilbevölkerung voll treffen. Zwar behauptete Kanzler Scholz im Bundestag, die Sanktionen würden sich nur gegen die Putin-nahe Führung richten. Aber das ist nicht so. Die Sanktionen – bis in den Alltag – betreffen die ganze russische Bevölkerung und vermehrt kommt es wieder zu Anfeindungen gegenüber Russinnen und Russen. Auch hier werden sich die Sanktionen vielfältig bemerkbar machen. Ganz ehrlich, gegen unsere Parteilinie der letzten Jahre, halte ich Sanktionen gegen Putin, seine Oligarchen und die Fähigkeit der russischen Führung, Krieg zu führen, für richtig. Krieg als Mittel der Auseinandersetzung muss geächtet werden. Aber dann muss das auch für die saudische Führung gelten, die im Jemen einen grausamen Krieg führt, in dem tausende sterben und noch mehr verhungern. Und was ist mit denen, die Libyen in einen Failed state verwandelt haben, indem bis heute Bürgerkrieg herrscht? Ist das alles vergessen? Ich kann das nicht vergessen. Für mich gibt es keine Menschen zweiter Klasse.

Die jetzigen Sanktionen werden Russland nicht nur jetzt bestrafen. Sie sorgen dafür, dass sich die russische Wirtschaft und Politik dauerhaft Richtung China orientieren muss. Zahlungssysteme ändert man nicht über Nacht und Russland wird in Zukunft sicher keine Investitionen mehr in Europa tätigen oder dort seine Devisen einlagern. Das gleiche gilt umgekehrt. Ab jetzt herrscht wohl auf Jahrzehnte Kalter Krieg und die russische Bevölkerung wird sich wahrscheinlich an die Seite Putins stellen.

Und ganz ehrlich, ich habe sogar Sympathien für Waffenlieferungen an die Ukraine. Ich will nicht, dass Putin mit seinem Krieg irgendetwas gewinnt. Trotzdem habe ich mich nach einigem Nachdenken dafür entschieden, auch diese Waffenlieferungen abzulehnen, denn die Waffenlieferungen an die Ukraine befeuern das Muster des Kalten Krieges, andere für sich kämpfen und den Blutzoll tragen zu lassen. Eine direkte Einmischung aber hätte womöglich einen Weltkrieg zur Folge und das will ich noch weniger.

Putin hat sich mit diesem Angriff ins Abseits gestellt und gehört geächtet. Nur hätte ich mir diese Klarheit bei allen völkerrechtswidrigen Kriegen im Land gewünscht. Was der Westen in Afghanistan, Libyen und dem Irak darf, darf Russland natürlich nicht. Das ist kein „whataboutism“, sondern ein Denken gegen die Feindlogik. Ich finde es ehrlich gesagt erschreckend, wie jetzt weite Teile der sonst so aufgeklärten und toleranten Mitte nach Aufrüstung und „harten“ Maßnahmen rufen. Vom Studierendenprogramm mit russischen Studierenden bis zu russischen Partnerstädten wird jetzt alles eingestellt. Es sind ja jeweils „die anderen, der Feind.“ In Europa bricht eine politische Eiszeit aus und wir werden vermutlich wieder – meine Generation zum ersten Mal – mit beständiger Kriegsgefahr leben müssen. Auch die Option der Selbstauslöschung Europas durch einen Atomkrieg ist wieder eine Option. Ich kannte die Angst vor einem Atomkrieg bislang nur aus Filmen, Büchern und Gesprächen – seit letztem Donnerstag habe ich das erstmals gefühlt.

Und ganz nebenbei sind die Debatten gerade auch hier ziemlich verlogen. In den derzeitigen Nachrichten scheint völlig vergessen, dass die Bundeswehr 20 Jahre in Afghanistan Krieg führte bei dem hunderttausende starben. Dass NATO-Mitglied Türkei noch immer regelmäßig in Nordsyrien Bombenangriffe fliegen lässt (der letzte erst vor ein paar Tagen). Aber die Kriege waren offenbar weit genug weg und es betrifft ja nur die „Anderen“. Ich richte meinen Finger da nicht auf andere. Ich sehe das an mir selbst. Es berührt trotz meiner Überzeugungen weniger als dieser Krieg. Ich habe Verwandte aus der Ukraine und viele kennen jemanden aus der Ukraine. Dieser Krieg geht uns im wahrsten Sinne des Wortes nah.

Vorgestern hieß es auf der Berliner Großdemonstration – die Ukrainer kämpften auch für unsere Freiheit. Ich verstehe den Pathos, aber das war etwas zu viel. Die Demokratie in der Ukraine ist ebenfalls eine Oligarchenherrschaft. Mit Freiheit und Demokratie hat das alles wenig zu tun, sondern mit nationaler Selbstbestimmung. Ich bitte das nicht falsch zu verstehen, wenn die Ukrainer den russischen Angriff zurückschlagen, bin ich froh, dass sie Putins Großmachtfantasien in die Schranken gewiesen haben. Ich bin kein Pazifist und jedes Land hat ein Selbstverteidigungsrecht.

Bis zum Sonntag war ich mir mehr als unsicher über unsere Rolle als Partei in diesem Konflikt und eine Restunsicherheit habe ich, weil auch ich das Gefühl habe die Ukrainer nicht im Stich lassen zu können. Das sage ich ganz offen. Nur haben mir die Bundestagsreden von Scholz, Merz, Lindner und Baerbock klar gemacht, wo und wie wir gebraucht werden: als Partei, die Nein sagt zu Krieg, Aufrüsten und Freund-Feind-Denken.

Das Kanzler Scholz unabgesprochen 100 Milliarden für die Aufrüstung der Bundeswehr ausgeben will, damit Deutschland jetzt wieder eine Militärmacht „gemäß seiner Rolle in Europa“ werden soll, geht für mich einfach nicht. In den letzten Jahren war kein Cent da für die Pflegekräfte, die uns durch diese Pandemie brachten. Die Bundeswehr wurde in den letzten Jahren massiv aufgerüstet und hat fast den Etat der russischen Streitkräfte. Gleichzeitig war sie trotzdem fast eine Friedensarmee, weil sie schlicht kaum einsatzfähig war. Wer mit einem Etat von 50 Milliarden keine Flugzeuge in die Luft bekommt, nicht die richtigen Geräte bestellt und den Bundeswehrsoldaten keine Unterwäsche zu Truppenmanövern bringen kann, schafft das auch nicht mit einer Verdopplung des Geldes. Friedrich Merz ist der Zustand der Bundeswehr peinlich, aber wer stellte den Verteidigungsminister in den letzten 16 Jahren? Richtig, die CDU. Auch Inkompetenz hat Namen und Adressen. Aber um Schuldzuweisungen soll es hier nicht gehen. Finanzminister Christian Lindner sagte gestern morgen klar, wer diese Aufrüstung zahlen soll „die Bürgerinnen und Bürger.“ Statt Kredite aufzunehmen, müssten bei den Ausgaben „andere Prioritäten gesetzt werden“, so Lindner im besten Politikersprech. Was das heißt, können sich alle ausmalen: unter anderem für die Krankenhäuser und die Renten ist dann wieder kein Geld mehr da.

Ein neues Wettrüsten lehne ich ebenso ab wie jetzt alle Russinnen und Russen unter Verdacht zu stellen. Irgendwelche Hitler-Putin-Vergleiche verbieten sich übrigens für Deutsche. Deutschland hat im 2. Weltkrieg über 20 Millionen Menschen in der damaligen Sowjetunion umgebracht und hat dabei planmäßig versucht, riesige Landstriche von Warschau bis Moskau über Hunger und Mord zu entvölkern für einen „Lebensraum im Osten“. Deswegen bin ich im Umgang mit Russland vorsichtiger – aber nicht weil ich Putin für einen imperalistischen Kriegsverbrecher halte.

Es kann sein, dass es für uns als LINKE mit unseren Positionen für Frieden, gegen Nationalismus und Imperialismus, gegen die Blocklogik und gegen die Aufrüstung, jetzt wieder etwas einsamer wird. Wir werden harten Anfeindungen ausgesetzt sein. Aber genau da werden wir historisch gerade gebraucht – wie viele Generationen von Linken vor uns. Ich habe Verständnis für andere Positionen, weil es unterschiedliche Wege zu diesem Ziel gibt. Und ja, ich bin mir meiner Position auch nicht sicher, weil ich den Weg, der vor uns liegt, nicht kenne. Aber ich bin mir sicher, dass das jetzt unsere Aufgabe ist.