Kategorie: Außenpolitik

Wo wir stehen

Beitrag von Jürgen Seitz

Der Krieg
Einen Krieg anzufangen ist ein Verbrechen. Ein Anklagepunkt in Nürnberg hieß „Angriffskrieg“.
In Falle der Nazis war das eindeutig, im Falle des jetzigen Krieges ist es das auch. Wie immer auch dieser Krieg ausgeht, ein zurück auf „vorher“ wird es nicht geben können. Ein Krieg ändert alles.
Es nützt nun nichts mehr, auf den unterlassenen Interessenausgleich mit Russland hinzuweisen, der in der Tat nicht gewünscht war von wichtigen Playern, vor allem außerhalb Deutschlands (und vor allem wollte die Ukraine kein Preisgeld sein). Nun ist der Krieg da.

Waffen
Wenn man sich verteidigen will, braucht man Waffen. In allen Kriegen behaupten beide Parteien, sich nur zu verteidigen, aber ein eigenes Urteil trauen wir uns doch wohl zu, diesmal!
Wenn also klar ist, wem das Messer an den Hals gesetzt wurde, wie kann man dann Waffenlieferungen ablehnen. Vertragt euch doch? Dabei muss man ehrlich sein, es geht um „tödliche Waffen“; „Defensivwaffen“ gibt es nicht. Das ist Propaganda von interessierter Seite.
Natürlich war es richtig seitens der Ampel, bis zum Kriegsausbruch eine Verhandlungsposition zu behalten. Auch wenn sich nun herausgestellt hat, dass es vergebliche Mühe war. Bis zum letzten Augenblick zu reden ist nicht falsch.

Die Strategie der Ukraine
Die Ukraine hat wie gesagt das Messer am Hals. Militärisch können sie Russland nicht besiegen, das wissen sie auch. Nicht nur in den Talkshows ist die Strategie klar zu erkennen, dass die Ukraine versucht, die NATO Stück für Stück in diesen Krieg hinein zu ziehen. Verständlich, aber nicht in „unserem“ Interesse, denn an der Wand ist das Menetekel des Atomkriegs klar zu sehen. Das kann der Ukraine egal sein. Die USA wollen das natürlich nicht, aber es scheint, dass einige deutsche Journalistinnen* das wollen. Auch sehen wir schon, wie einzelne osteuropäische Länder scheibchenweise auf diese Strategie eingehen (z.B. Lettland, Slowakei). In der deutschen Öffentlichkeit muss man diese Gefahr darstellen. Sie ist real.

Die Sanktionen
Nur Russland kann diesen Krieg beenden. (Außer er eskaliert). Dazu ist offensichtlich eine Machtverschiebung im Kreml die Voraussetzung. Es kann gut sein, sicher ist das nicht, dass Sanktionen in diese Richtung wirken. Deshalb sind Sanktionen richtig und die einzige vernünftige Möglichkeit (es sei denn, man wäre „pazifistischer Defätist“ und hält sich einfach raus. An diesem Punkt erinnere ich an Brechts „Die Gewehre der Frau Carrar“).

100 Milliarden für die Bundeswehr
Das ging schnell. Die Ampel suchte der Befreiungsschlag unter dem Druck der vom Krieg geschockten Bevölkerung, dem Druck der kalten Krieger/innen in den Medien, dem Druck von illoyalen Bundeswehroffizieren, und dem schon lange anhaltenden Druck der US-Waffenhändler. Dabei ist klar: Deutschland wird gar nicht angegriffen, und wenn doch, dann mit Atomwaffen. Wenn tatsächlich die Bundeswehr „blank“ dasteht bei 52 Mrd. Rüstungsetat, wo ist dann das Geld? Wie kann es sein, dass Russland laut transperancy international ein komplett korrupter Staat ist mit einem offiziellen Wehretat von 62 Mrd (durchaus in Wahrheit einiges mehr), aber eine für Deutschland, ja die ganze NATO so gefährliche Armee aufstellen konnte? Wo ist das deutsche Geld?
Die LINKE konnte diesem Coup auf keinen Fall zustimmen.

Die Flüchtlinge
Hundertausende werden kommen, erst mal. Erst mal werden die europäischen Regierungen sie auch mit offenen Armen aufnehmen (es sind ja keine Moslems). Niemand weiß aber zur Zeit, wie lange die Sache dauert. Ein zivilgesellschaftliches Engagement ist deshalb unverzichtbar, gerade für Linke.

Geschichtstheoretische Fragen
Sind die Ukrainer „ein Volk“? Nun, in Deutschland hat der Begriff „Volk“ ja eine geradezu mystische
Bedeutung – anders als „Folk“ im Englischen. Auch der Begriff „Völkerrecht“ ist in diesem Sinne missverständlich, handelt es sich doch international um „United Nations“, also Nationen. Eine Nation wird von den Bürgern eines Staates gebildet. Die Ukraine ist ein Staat, also auch eine Nation. In der Tat beschreibt das nichts anderes als die moderne Ordnung der Erde nach den Weltkriegen. Die ist aber trotzdem nicht in Stein gemeißelt (Südsudan, Kosovo).
Lenins Nationalitätenpolitik war die Geburtsstunde der Ukraine als Substaat der Sowjetunion. Im ersten Weltkrieg sind drei „Imperien“ untergegangen (Russland, Osmanisches Reich, Österreich-Ungarn) und im Ergebnis entstanden „nationale“ Nachfolgestaaten, (die im übrigen alles andere als ethnisch homogen waren). Lenin hatte es u.a. damit geschafft, den staatlichen Zerfallsprozess für Russland aufzuhalten, aber natürlich war auch der neue Substaat (ungeachtet des politischen Zentralismus in Moskau) keineswegs ethnisch homogen. (Was Lenin natürlich klar war, realistische Lösungen erforderten Kompromisse.) Wobei die Frage zu beantworten ist, was unter „ethnisch“ zu verstehen ist. M.E. geht es um Kultur, vor allem anderen um Sprache sowie Religion. Die verhängnisvolle Versuchung in fast allen „nationalen“ Nachfolgestaaten der untergegangenen Imperien war, eine erträumte ethnische Einheitlichkeit mit Gewalt durchsetzen zu wollen – etwas das wir zuletzt in Jugoslawien gesehen haben. Die Bolschewiki haben das weitgehend verhindert. Wir haben allerdings auch in der Ukraine nach der Unabhängigkeit politische Kräfte gesehen mit jener Agenda, und das ist es, auf das sich Putin bezieht, wenn er von „Faschisten“ spricht. Allerdings handelt es sich klar um eine Propagandalüge insofern, als die Ukrainer sich inzwischen sichtbar für den demokratischen Weg entschieden haben.
Eines muss man den Trotzkisten lassen: Sie haben den Zerfall der Sowjetunion richtig vorausgesagt. Auch, dass die kommunistische „Nomenklatura“ sich dann das Staateigentum unter den Nagel reißen würde. Es ist aber nicht zutreffend, den Oligarchen den Ukrainekrieg zuzuschreiben (weil sie ja nun mal Kapitalisten seien). Im kapitalistischen Sinne macht der Krieg keinen Sinn. Vielmehr sehen wir in Russland schon wieder (oder immer noch) einen hierarchischen Staatsapparat, der von einer Clique angeführt wird, und dessen Machtkern der Geheimdienst ist. Nur ohne Kommunismus. Aber mit Novitschok.