Beitrag von Matthias Danyeli
Die Invasion der russischen Armee auf die Ukraine hat nicht nur alles in den Schatten gestellt, was die meisten Ukrainer für möglich gehalten haben. Erst Recht wurde die gesamte westliche Linke nicht nur überrascht, sondern viele Analysen, Forderungen, Glaubenssätze und Phrasen wurden über Nacht auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Insbesondere in der ukrainischen Linken gab es einige Stimmen, die leider zuletzt und auch seit Ausbruch des Krieges umso vehementer massives Umdenken eingefordert haben. Die letzten Tage haben eine so unterschiedliche Sicht auf die jetzige Lage in der ukrainischen und nicht unerheblichen Teilen auch der deutschen Linken zu Tage gefördert, dass diese im Sinne einer internationalistischen Position aufzulösen nützlich und geboten erscheint. Dabei wurden sowohl Ursachen, Timing als auch das Invasions-Ausmaß in der ukrainischen Linken teilweise öffentlich vorhergesagt, wie Volodymyr Artiukh mit Verweis auf Rob Lee zeigte. Während unsere hiesige Linke dabei stark auf dem falschen Fuß erwischt wurde, sollten wir uns dem wenigstens jetzt stellen, wo der Krieg in die besonders heiße, potenziell sich verfestigende, massiv gefährlicher werdende Phase übergeht und wie zu zeigen ist, massive Handlungsspielräume für uns bestehen – nicht nur den Krieg zu stoppen, sondern in eine Friedensbewegung gegen die Aufrüstung zu starten, die wir seit Jahrzehnten nicht gesehen haben.
Zunächst sollten wir uns vergegenwärtigen, was eine Invasion des einwohnerstärksten Staats der ehemaligen Sowjetunion auf das zweit-einwohnerstärkste Land konkret bedeutet. Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten, hunderttausende Freiwillige im bewaffneten Kampf auf ukrainischer Seite, Millionen Ukrainer:innen mit kreativen Protestformen gegen die Besatzung und vierzig Millionen Menschen mittendrin gefangen. Und leider ein Tag für Tag verfestigter, erbitterterer Krieg mit inzwischen zunehmend wahllosem Artilleriebeschuss auf Plattenbauten. Teilweise schon jetzt verminte Städte, sodass weder Nahrungsmittelversorgung noch humanitäre Hilfe gewährleistet ist, weil niemand gegen die Kontrolle russischer Truppen herein oder heraus kommt. Im Fall der Niederlage droht eine Besatzungsdiktatur, die angesichts des außerordentlichen ukrainischen Widerstands und Hasses gegen die Besatzungsmacht sich nur durch nackte Gewalt, die Ausschaltung alter Funktionseliten und kritischer Geister sowie nahezu vollständige Organisationsfeindlichkeit etablieren könnte. Und obwohl auf beiden Seiten Staaten mit eigenem offiziellem Militär sind, kann kaum bestritten werden, dass es nicht annähernd dem ersten Weltkrieg gleicht, in dem verschiedene Seiten ähnlich ambitionierter Großmächte sich gegenseitig nur den Miesepeter zugeschoben haben, bis beide Seiten bereitwillig ihre Truppen in die Schützengräben geschickt haben. Vielmehr ist es heute ein Feldzug einer Kolonialmacht gegen seine ehemalige Kolonie mit dem offensichtlichen Ziel einer Besatzungsdiktatur und offener Gewaltherrschaft. Wieso dieser Besatzungskrieg gestoppt werden muss, liegt auf der Hand.
Der mitunter kursierende Vorwurf, Nationalisten in der Ukraine würden die Spaltung des Landes vorantreiben, ist spätestens seit der Besatzung und angesichts des massiven Widerstands in der gesamten Ukraine schlicht anachronistisch und hilft nicht weiter.
Die schon früher verkürzten Kategorien von prorussisch und prowestlich in der Ukraine als Kategorien zur Beschreibung vermeintlich relevanter Bevölkerungsteile in der Ukraine sind schlicht zerstört und haben keine Erklärungskraft mehr. Sogar die russischsprachige Bevölkerung ist fassungslos ob des Invasionskriegs und hat absolut jedes Bedürfnis nach Russlandanbindung verloren – von Ausnahmen wie der Krim abgesehen, von der aber ohnehin niemand und wohl inzwischen nicht mal mehr die ukrainische Regierung erwartet, dass sie wieder Teil des ukrainischen Staates würde.
Für uns Linke gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das ukrainische Volk wurde in den letzten hundert Jahren wie kaum ein anderes Volk in Europa geteilt, im Holodomor ausgehungert, im Nazifeldzug zu Millionen vernichtet, mit unaufgearbeitetem antislawistischem Rassismus behandelt und bis heute als eines der ärmsten Länder Europas einfach ignoriert. Der massive Widerstand der Ukrainer (sogar linker, liberaler und genuin russischsprachiger Teile der Bevölkerung, sogar in Zentral- und Ostukraine) belegt gerade eindrücklich, dass die Ukrainer ihre Entscheidung gegen eine enge Russlandanbindung sehr deutlich getroffen haben. In voller Gänze und überwältigender Mehrheit wird sich das erst nach einem gewonnenen Krieg zeigen, wenn Umfragen oder Volksabstimmungen erst einmal vollzogen werden. Russland nach der kolonialen Geschichte gegenüber der Ukraine und dem jetzigen Invasionskrieg jetzt ein „berechtigtes Sicherheitsinteresse“ zuzugestehen, welches auf Kosten der Selbstbestimmung der historisch kolonial unterdrückten Ukraine geht und russischen Großmachtsansprüchen sich unterordnet ist schlicht keine linke Position. Insofern überhaupt mit dem Begriff des Sicherheitsinteresses hantiert werden soll, darf dieser nicht ungleich gewichtet werden und das historisch gewachsene imperialistisch-koloniale und aggressive Verhältnis von Russland gegenüber der Ukraine legitimieren. Vielmehr muss zumindest und zuvörderst das bisher kolonialgeschichtlich stets negierte und in westlich-linken Diskursen bisher kaum berücksichtigte ukrainische Sicherheitsinteresse ernst genommen werden. Eine auch militärische Integration Russlands in den Westen wäre zwar ein wünschenswert, ist jedoch kaum mehr wahrscheinlich und angesichts der proaktiven russischen Militärpolitik kaum Hauptaugenmerk einer ernsthaften linken Position.
Die Hauptangst vieler Linker im Westen ist bisher, dass wir unseren „eigenen“ Block unterstützen würden, wenn wir zum Beispiel härtere Sanktionen fordern würden – z.B. auch Rohstoffimporte einzustellen. Es ist doch bemerkenswert, dass auch manche westliche Linke vielfach vom neuen kalten Krieg sprechen und damit die Regierungserzählung reproduzieren, wonach die Bande zu Russland quasi schon gekappt wären. Entscheidende wirtschaftliche Beziehungen zwischen Russland und westlichen Kernplayern wie Deutschland und den USA dauern fort, als würde gerade nicht der größte Besatzungskrieg in Europa seit dem zweiten Weltkrieg stattfinden.
Vielmehr hilft zum Verständnis des Regimes Putin weiter die wirtschaftliche Rolle Russlands im weltweiten Akkumulationsregime zu verstehen. Putin als Lenker einer
wirtschaftlich relativ absteigenden Großmacht erfüllt für den Westen trotz der Konkurrenz auch eine durchaus profitable Rolle. Wenn auch mit eigener Großmachtsagenda, die er spätestens seit 2014 durch zunehmend rohe Gewalt durchsetzt.
Russische Rohstoffe werden massiv weiterhin geliefert, damit die westliche Wertschöpfung weiterhin auf Hochtouren läuft und westliche innenpolitische Stabilität hier nicht gefährdet wird durch hohe Preise von Gas (v.a. in Deutschland), Öl (v.a. in den USA) und all den vielen weiteren Exportrohstoffen Russlands. Putins Regime erfüllt für die weltweite westlich dominierte Kapitalakkumulation die Rolle, stabil und unterm Strich günstig Rohstoffe zu liefern und durch die jahrzehntelange Repression jeglicher Opposition auch für den Westen hochprofitable Bedingungen zu bieten. Selbstverständlich ist naheliegend, dass Russlands wohl derzeit zunehmende Orientierung nach China stimmen mag. Jedoch auf Kosten des ukrainischen Volkes derzeit diese China-Orientierung wegen Angst vor Autoritarismus zu verhindern, wie teils aus der Linken gefordert, indem aus Deutschland nur suboptimaler wirtschaftlicher Druck ausgeübt wird, wäre für das ukrainische Volk und die moralische Integrität der Linken ein Bärendienst.
Das Thema Sanktionen wird zu Recht in der Linken mit großer Ernsthaftigkeit bedacht. Dabei muss zwischen Ziel, Zeitpunkt und durchsetzendem Akteur unterschieden werden. Dass Sanktionen meistens von imperialen Mächten zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen eingeführt, v.a. gegen kleine Länder angewandt werden und blutige Folgen haben, ist kaum zu bestreiten. So ist haben die 12 Jahre langen Sanktionen gegen das abtrünnige und tatsächlich grausame Regime Husseins den Irak grausam ausgehungert, was absolut unverzeihlich ist. Als Beispiel gegen die Nützlichkeit von Sanktionen gegen den Stopp eines Invasionskrieges können die Irak-Sanktionen dennoch nicht gelten, da der Krieg schon militärisch durch Eingreifen vieler Großmächte entschieden wurde und die Sanktionen nur barbarisches Bestrafungs- und Disziplinierungsmittel waren, das kaum überraschenderweise den Haupthass auf den Westen kanalisiert hat. Gleichwohl haben die Sanktionen gegen Südafrika eine nützliche Rolle beim Fall der Apartheid gespielt. Diese Sanktionen kamen aber nicht von ungefähr, sondern waren zunächst jahrelang u.a. von den USA mit Vetos gestoppt worden, wurden z.B. von der Bundesregierung nicht befürwortet und von Schweizer Banken sogar nach deren Einführung regelmäßig ignoriert. Hervorgegangen sind sie erst aus dem enormen Druck der internationalen Anti-Apartheids-Bewegung, die den Druck auf ihre eigenen Regierung hochgehalten hat.
Grundsätzlich gilt: Invasionen sind immer enorm ressourcenaufreibend. Gerade wechselseitige Abhängigkeitsbeziehungen des Invasionsstaates zu anderen Staaten führen für gewöhnlich dazu, dass in der Invasionsplanung mit keinesfalls sofortigen Maximalsanktionen wie Gasembargos zu rechnen ist. Eben dieser Umstand lässt sich ausnutzen: Wie der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung mit täglich hunderten gefallenen russischen Soldaten deren Mütter wie schon 1989 in der afghanischen Besatzung in Protestwut versetzen wird, so können auch Sanktionen, die unerwartet– weil von unten im wirtschaftlichen Partnerland durchgesetzt – hart ins Herz der Ökonomie des Invasionslandes fallen, und damit die innenpolitische Stabilität des Invasors weiter und unerwartet schnell gefährden. Dazu kommt noch, dass der gesamte Kriegsverlauf bisher viel schwieriger für die russischen Truppen war als geplant und Oligarchen schon erste Kritik äußern.
Das heißt: Eine Kalkulation, die heute noch aufgegangen ist, kann morgen schon für den Invasor untragbar werden, sodass der Invasor seine Truppen zurückzieht. Wie sowohl verschiedene Invasionen Afghanistans als auch die des Iraks gezeigt haben, sind sie zudem für die Besatzungsmacht oft nicht von Erfolg gekrönt. Jedoch diesen Misserfolg der Besatzungen zu beschleunigen oder gegebenenfalls das Zünglein an der Waage im ukrainischen und russischen Widerstand zu sein – darum geht es. Sanktionen sollten wir insgesamt also nicht anders angehen, wie all Jenes, was wir auch im Rahmen des bürgerlichen Staates gegen dessen hegemonialen Block durchzusetzen versuchen.
Ob Sanktionen gut oder schlecht sind, hängt also davon ab, mit welchem Ziel und entsprechend auch wie lange sie eingerichtet sind, ob sie im Interesse der Herrschenden eingesetzt werden oder von unten gegen diese erkämpft werden. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt auch (wieder) bekämpft werden. Das heißt, ob sie zum Regime Change als Selbstzweck angewandt werden, obwohl schon lange keine zermürbende Besatzung mehr vorliegt und der Ansatz offensichtlich eher kontraproduktiv ist. Oder, ob Sanktionen während eines Invasionskrieges – durch die Tirade von Destabilisierung, Protest, Spaltung und Intrigen in der Elite bis hin zum Coup oder zur Revolution – einen Truppenabzug befördert.
Die bisherige Sanktionspolitik der Halbherzigkeit ist vor diesem Hintergrund kaum überraschenderweise Ausdruck eben dieser bisherigen Partnerschaft.
Die Sanktionen gegen die russische Zentralbank schienen auf den ersten Blick durchaus innovativ. Sie hatte für einen Tag wirklich erste Instabilitäten erzeugt, indem sie den Rubel haben abstürzen lassen und die russischen Großbanken einen Bankrun nur durch Abhebesperre verhindern konnten. Die russische Zentralbank konnte durch ihren Konter den Kurs zumindest teilweise stabilisieren: Indem sie russische Exportunternehmen angewiesen hat, ihre in USD und EUR ausgezahlten Deviseneinnahmen zu 80% gegenüber dem Rubel anzubieten hat sie die Nachfrage nach Rubel steigert und Angebot an Fremdwährung gesenkt. Die Achillesferse von Sanktionspolitik, der bisherige Trumpf der russischen Politik und umgekehrt das Potenzial zum Durchbruch liegen also in den unmittelbaren Rohstoffsanktionen. Aber hier kommt das übergeordnete Akkumulationsregime wieder ins Spiel – bisher scheint kaum absehbar, dass die Regierungen des Westens das ohne Druck von unten schnell, wenn überhaupt in absehbarer Zeit, durchsetzen werden. Wenngleich die Zentralbanksanktionen wohl trotz allem erste Wirkungen entfaltet haben, scheint der Vormarsch russischer Truppen gegen den ukrainischen Widerstand bisher trotz allem zu schnell, als dass der russische Widerstand gegen die massive Repression schnell genug ankäme. Zeit ist also entscheidend. Solange wir in Deutschland das moralische Momentum gegen den Putinschen Feldzug nicht in ein umfassenderes Rohstoffembargo lenken, desto besser wird die Bundesregierung ihre Aufrüstungskampagne unter Krokodilstränen über die ukrainische Bevölkerung weiterführen können.
Ergo: Putin ist immer noch sowohl Partner als auch Konkurrent. In wirtschaftlicher Hinsicht war Russland die letzten Jahre in erster Linie Partner, was schon seit dem Zerfall der Sowjetunion durch die eingeflogenen Wirtschaftsberater der Friedman-Schule auch kaum anders geplant war, die das Land maximal auf Ressourcenextraktivismus ohne eigenes wirtschaftliches Vorherrschaftsprojekt zusammengetrimmt haben. Natürlich kann dem Putinregime dennoch keineswegs eine eigene Handlungsmacht abgesprochen werden, wie es sehr deutlich demonstriert hat. Die Aggressionen der letzten Jahre waren bisher für das weltweite wirtschaftliche Akkumulationsregime kaum entscheidend ins Gewicht gefallen und das wird sich in den nächsten Wochen auch nicht von heute auf morgen ändern. Trotz aller Lippenbekundungen und auch tatsächlichen, langfristig angelegten Beschleunigungen wirtschaftlicher und militärischer Umstrukturierungsmaßnahmen im Westen der letzten Tage wird der Bedarf an Ressourcen für den Westen kurzfristig überwiegen. Die russischen Konzerne und Putin ihrerseits werden ihre Rohstoffe gen Westen verkaufen wollen – ganz egal, ob Putin den Krieg gewinnt oder nicht. China wird in den nächsten Monaten, nicht mal in den nächsten Jahren die gesamte Nachfrage des Westens kompensieren können. Die inzwischen nur noch 5%-igen Wachstumsraten Chinas reichen bei Weitem nicht, um plötzlich Exporteinbrüche im Wert von hunderten Milliarden Dollar aus dem Nichts zu kompensieren. Sogar wenn China einige Anteile abkaufen würde, wäre ein massiver Abschlag im Preis vorprogrammiert. Insgesamt dürften wir im Westen eine peinliche, verwerfliche und orwellsche Politik fortdauern sehen. Militärische Drohgebärden, Aufrüstung und zwar stärkere, aber doch begrenzte Sanktionen werden mit wirtschaftlicher Kooperation in allen Kernbereichen der Ökonomie kombiniert. Ein Schlaraffenland für jeden größeren bürgerlichen Regierungs- oder Konzernchef weltweit.
Hingegen gilt: Umfassende Rohstoff-Sanktionen könnten Zentralbanksanktionen erst zur Wirkungsmacht verhelfen und eröffnen also ein ganz neues Potenzial gegen den putinistischen Feldzug. Dass nebenbei die westlich dominierte, weltweite Wertschöpfungs-Ordnung, die Putin immer noch wirtschaftlich integriert hält, getroffen wird, sollte uns als Linke nicht verunsichern. Immerhin kam Putin erst als Stabilisator der Folgen der vom Westen durchgesetzten Schockdoktrin der 90er überhaupt zur Macht.
Die hiesige Linke plagt derzeit ein weiterer Punkt: Ist Russland nicht aber doch eher Gegner westlicher Staaten und Supermacht wegen seiner Atomwaffen? Und droht nicht durch ökonomische Eskalationen potenziell ein Weltkriegsszenario oder weitere Invasionen? Der Supermachtstatus entspringt nicht aus Atombomben, sonst wäre auch Nordkorea eine Supermacht. Ein Weltkriegsszenario droht nur insofern Putin sich auch selbst vernichten will – was abwegig ist. Die teils verbreitete Angst vor einer nuklearen Apokalypse ist ein vielleicht nachvollziehbarer, aber dadurch nicht besserer Indikator dafür, dass vielerorts im Westen doch eher über die eigene Gefahr nachgedacht wird, anstatt sich zu überlegen, ob es nicht vielleicht doch Potenziale gibt, die akute und zunehmend ohne jegliche Rücksicht auf Zivilisten geführte Besatzungsinvasion zu stoppen. Eine Invasion anderer postsowjetischerLänder ist kaum zu erwarten, da die zentralasiatischen Republiken loyal regiert und das Baltikum mit US-Raketen ausgestattetes Nato-Mitglied ist. Eine Invasion in das kulturell und logistisch stark westintegrierte Finnland wäre das Anfang vom Ende des russischen Regimes – der zermürbende Kriegsverlauf in der Ukraine drohte sich zu wiederholen und eine stabile Besatzungsmacht wäre kaum denkbar. Ganz zu schweigen davon, dass die jetzige russische Operation ganz offensichtlich keineswegs läuft wie erwartet und die russische Armee sogar jetzt schon zentralasiatische Armeen zur Unterstützung hinzuziehen muss. Selbstverständlich kann dennoch niemand vorhersehen, ob Putin nicht zumindest doch überraschende neue Kriege beginnt. Aber anstatt eher abwegige Kriegsszenarien in der ganzen Welt herbei zu fantasieren, sollten wir nicht vergessen, dass gerade 40 Mio Menschen mit aus jahrehundertelangen Unterdrückungserfahrungen entsprungener Nationalidentität unter Besatzung stehen.
Insgesamt ist also das nukleare Arsenal Russlands weniger eine Bedrohung an sich, sondern in Kombination mit dem Ressourcenreichtum die perfekte Garantie des russischen Regimes gegenüber der westlichen Welt, sich militärische Aggressionen gegenüber kleineren Nationen zu erlauben, um sich innenpolitisch, geopolitisch und schlussendlich auch wirtschaftlich zu stärken. Der Westen will sicherlich die zumindest softpower-basierte Vorherrschaft über Regionen, die vom russischen Regime invadiert werden, nicht gerne hinnehmen. Dennoch können westliche Regierungen, wenn sie dem Treiben mal wieder nur zuschauen, bisher bequem immer wieder auf die Nuklearwaffen Russlands verweisen und damit legitimieren, dass eben weiterhin Rohstoffe auch von genau diesem Regime gekauft werden müssen, weil es ein anderes dort erst mal nicht geben wird.
Wie steht es nun um das Handlungspotenzial der westlichen, insbesondere deutschen Linken? Hat die westliche Linke eine Möglichkeit, die Besatzung zu schwächen? Und welche Wirkungen ließen maximale Sanktionen ins Herz der Bestie, dem durch wirtschaftlich-innenpolitische Stabilität selbst stabilen Regime Putin, erwarten?
Um die Möglichkeiten zu veranschaulichen, seien drei mögliche Szenarien veranschaulicht:
Szenario 1: Die russische Armee gewinnt den Besatzungskrieg. Eine Besatzungs-Diktatur mit massiver Repression gegen wütende ukrainische Bevölkerung wäre die Folge. Ein riesiges Volk unter Besatzung ohne politische Organisierungsrechte als lebendiges Laboratorium für die Putinsche und weltweite politische Rechte.
Szenario 2: Ein anderes Szenario ist, dass die russische Armee weiter und leider einen langen, zermürbenden Krieg führen wird und am Ende dennoch abziehen muss, weil die Kriegskosten doch zu hoch werden. Materieller Armeeverschleiß paar sich mit innenpolitischen Problemen durch stetig wachsende Gefallenenzahlen und ggf. sanktionsbedingt erzeugte wirtschaftliche Probleme. Ein Sieg für das ukrainische Selbstbestimmungsrecht, zumindest Rudimente politischer Organisierungsfreiheiten in der Ukraine und eine Schwächung für das russische Regime. Die Gefahr, dass ein sich abzeichnendes Szenario 2 (Siegesszenario) doch zu Szenario 1 (Besatzungsszenario) wird, ist leider immer gegeben in den Wirren des Krieges, der seinem Grundcharakter gemäß nie komplett vorhersehbar ist.
Szenario 3: Eine moralisch integere Bewegung in westlichen Ländern – allem voran in Deutschland als Kernland ökonomischer Wirtschaftsbeziehungen mit Russland – erkämpft von unten und gegen die Kollaboration der Regierung mit dem russischen Regime massive Sanktionen ins Herz dieser brutalen Bestie der weltweiten Wertschöpfungsordnung. Ukrainisch starker Widerstand militärischer und nicht-militärischer Art gegen die Besatzung, fortwährend unterschätzte Schwäche und Demoralisierung russischer Truppen kommen noch hinzu. Insgesamt wird die vom russischen Regime einkalkulierte Wirtschaftspartnerschaft mit dem Westen so unerwartet früh beendet. Die russische Wirtschaft würde durch Gas-, Öl-und sonstigen Rohstoff-Einkaufsstopp getroffen, Zentralbanksanktionen würden ihre Wirkung erst vollends entfalten, die Währung würde abwerten. Während mit 60% der weltweiten Weizenproduktion keine Nahrungsmittelengpässe zu erwarten wären (im Gegensatz zur Ukraine mit fortdauerndem Krieg), würde die russische Bevölkerung würde sich zum offensichtlichen Ausnahmezustand verhalten und das bisherige mehrheitliche Trittbrettfahrerverhalten hätte zumindest eine Chance darauf, durchbrochen zu werden. Die allgemeine Instabilität würde Putin mitten ins Herz seiner Machtbasis treffen: Stabilität. Sowohl die Bevölkerung als auch die Oligarchen unterstützen Putin bisher mehrheitlich, da er nach den traumatisierenden 90er Jahre für Stabilität sorgen konnte. Eine Polarisierung in der Bevölkerung hieße zwar ggf. auch die Verfestigung der passiven Zustimmung propagandagläubiger Teile der Bevölkerung, aber auch die schon laufenden Proteste anderer Teile der Bevölkerung dürften zunehmen, die sich im Trubel der Instabilität eher trauen dürften, ihren Unmut zu zeigen als in der jetzigen stabilen Situation. Innenpolitische Instabilität wäre für führende Oligarchen Russlands sowohl grundsätzlich unerwünscht als auch ein Punkt der Legitimation bis hin zur Notwendigkeit der Entledigung von Putin als Machthaber. Kurzfristige Intrigen gegen Putin, gesichtswahrende Verantwortungsabwälzung auf Putin für den verlorenen Krieg und die Installation eines weniger aggressiven russischen Machthabers könnten die Folge sein. Auch ohne Putins Sturz würde die Instabilisierung eine ernsthafte Nutzenabwägung Putins bestärken. Die verschärfte Abschottung wegen Aufrechterhaltung der Invasion stünde gegen das stabilitätsversprechende Invasionsende, welches schnell als attraktiver erscheinen könnte. Ohnehin hat Putin gute Gelegenheiten, auch die ukrainische Abtretung von beispielsweise lediglich dem Donbass halbwegs gesichtswahrend als Erfolg zu verbuchen und wieder gestärkten Rückhalt unter den Oligarchen zu haben. Dieses Szenario ließe sich selbstredend auch radikaler in Richtung eines Sturzes der repressiven, oligarchischen Regimes denken, was jedoch weder für den Stopp des Angriffskriegs notwendiges Szenario noch unmittelbar wahrscheinliches Szenario wäre. Dennoch würden radikaldemokratische, linke und revolutionäre Kräfte durch die Instabilität im Vergleich zum jetzigen repressiven und täglich noch organisationsfeindlicheren Zustand eher nur profitieren können von einem solchen Szenario.
Es gibt also Vieles zu tun für die westliche Linke. Mit dem Kampf um maximale Wirtschaftssanktionen insbesondere im Rohstoffsektor gegen die russische Wirtschaft können wir den Auftakt einer sehr konkreten Anti-Aufrüstungsbewegung legen und damit das bitter notwendige Revival einer Friedensbewegung testen. Die ersten Annäherungen an eine schlagkräftige Positionierung der Linken dürfte sicherlich kaum irreversibel, sondern vielmehr weiterentwicklungsfähig sein, da in Deutschland im Taumel der ersten Kriegstage wohl unsere 5%-Partei kaum zu allen durchgedrungen sein dürfte und wohl niemand ein perfektes Sofortprogramm gegen eine solche unfassbare Invasion erwartet hat. Umso mehr gilt es jetzt aber, die Potenziale einer konsequenten Entlarvung der Regierung und ein Nützlichwerden gegen den Krieg auszuschöpfen, die sich vor allem mit dem insofern selten dämlich getimten 100 Mrd-Aufrüstungsprogramm als besonders groß erweisen dürften.
Es geht also um eine Bewegung, die der militärischen Zockerei zwischen den dominanten, imperialistischen Kern-Ländern der westlich dominierten Weltordnung mit Russland und Co wirklich etwas entgegenzusetzen vermag.