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Veränderung kommt aus der Gesellschaft

Soziale und emanzipatorische Errungenschaften müssen durch Proteste, zivilen Ungehorsam, Demonstrationen, Streiks und Kämpfe erobert werden

Von Jan van Aken, Raul Zelik, Sofia Leonidakis, Harald Weinberg, Rhonda Koch, Michel Brandt, Nina Eumann und Konstantin Gräfe.

Die AfD sitzt jetzt in allen Landtagen, die extreme Rechte wird international immer stärker. Nach jedem Wahlabend hören wir die Klagen über den Rechtsruck, die Krise linker Parteien und das Fehlen von »Machtoptionen«. Das alles aber ist nur die halbe Wahrheit, denn es gibt durchaus Bewegung für einen linken Aufbruch im Land. Im Moment gewinnen in dieser gesellschaftlichen Polarisierung allerdings vor allem die Grünen.

An #unteilbar haben sich im Oktober in Berlin 240.000 Menschen beteiligt. Bemerkenswert war nicht nur die Größe der Demonstration, sondern auch ihr Ansatz. #Unteilbar wurde von einem breiten Bündnis getragen und verteidigte das Recht auf Unterschiede. Gleichzeitig hat die Demonstration aber auch die gemeinsamen Interessen betont: Soziale Rechte können wir nur gemeinsam gegen die Umverteilung von unten nach oben verteidigen und wir dürfen dabei nicht zulassen, dass das Recht auf Migration und das Recht auf gute Löhne oder bezahlbaren Wohnraum gegeneinander ausgespielt werden.

Auch die Klima- und Umweltbewegung ist extrem ermutigend. In Nordrhein-Westfalen sind in den letzten Wochen immer wieder 50.000 Menschen zusammengekommen, um einen Ausstieg aus der Kohleverstromung und wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel zu fordern. Viele Aktionen haben sich durch kreativen sozialen Ungehorsam ausgezeichnet. Den meisten Klima-AktivistInnen ging es nicht nur um Umweltschutz, sondern auch um Solidarität – nämlich mit den besitzlosen Menschen im globalen Süden, die nicht das Geld haben, sich vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Und den meisten war und ist auch bewusst, dass die Lage für die von Arbeitsplatzverlust bedrohten »Kumpels« dramatisch ist und dass wir solidarische Lösungen brauchen, damit die Bergleute weder in Armut noch in Isolation fallen.

MigrantInnen organisieren sich selbst: In Hamburg haben 35.000 Menschen, viele von ihnen Refugees, für Solidarität und das Recht auf ein gutes Leben – demonstriert? – nein, gefeiert. Ihr Protest war so zuversichtlich und gut gelaunt, wie der rassistische Hass trostlos ist. In Chemnitz waren 65.000 AntifaschistInnen bei einem Konzert, das nicht nur den Rechtsextremismus, sondern auch die soziale Spaltung und den staatlichen Rassismus anprangerte.

Es gibt neue, kreative Streiks! Bei Ryanair haben sich Beschäftigte zu einem internationalen Arbeitskampf zusammengefunden, um die Dumping-Fluglinie RyanAir zu einem Tarifvertrag zu zwingen. Die KollegInnen bei Amazon, einem der größten Konzerne der Welt, kämpfen hartnäckig gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik und für Löhne oberhalb der Armutsgrenze. In Krankenhäusern in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Augsburg haben die Pflegekräfte – viele von ihnen Frauen und EinwandererInnen – wichtige Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen durchgesetzt. Und bei dem Metallunternehmen Halberg Guss wurde im Sommer wochenlang von der Belegschaft gestreikt. Überall hat die Belegschaft die Streiks in die eigenen Hände genommen und mit Leben gefüllt.

Und dann ist da schließlich auch noch die MieterInnenbewegung, die gegen den Lohnraub durch Immobilienfonds und SpekulantInnen kämpft. Es gibt Hunderte von kleinen Kämpfen gegen Mieterhöhungen, Privatisierungen, Luxussanierungen, Kündigungen … Immer wieder organisieren sich Menschen in ihrem Wohnhaus oder Viertel selbst, um die Verdrängung aus den Innenstädten zu stoppen.

Viele Menschen, die in der LINKEN aktiv sind, spielen in diesen Bewegungen eine tragende Rolle. Und viele der Neumitglieder, die der LINKEN in den letzten zwei Jahren beigetreten sind, wollen als LINKE genau diese Politikansätze stark machen. Sie interessieren sich mehr für das konkrete Handeln im Alltag als für die Auftritte von »SpitzenpolitikerInnen« in Talkshows und Parlamenten. Und auch die letzten Wahlkämpfe wurden genutzt, um soziale Kämpfe zu stärken. In Bayern wurden im Landtagswahlkampf mehr als hunderttausend Unterschriften für bessere Pflege gesammelt, davon allein 5.547 im Klinikum Augsburg – in einem einzigen Betrieb! In Frankfurt haben LINKE im Wahlkampf zusammen mit Betroffenen den Volksentscheid gegen hohe Mieten gestartet und demonstrieren Woche für Woche gegen Fluglärm.

Auch wir sind unteilbar

Unser Anliegen ist es, diese bewegungslinke, klassenorientierte Praxis viel stärker sichtbar zu machen. Wir wollen die LINKE erneuern und zu einer demokratischen Mitgliederpartei weiterentwickeln, die vor allem für die Kämpfe im Alltag da ist. Wir sind davon überzeugt, dass es nicht die glorreichen Wahlerfolge der ParteiführerInnen sind, die die Welt verändern. Soziale und emanzipatorische Errungenschaften müssen immer aus der Gesellschaft heraus erobert werden – durch Proteste, zivilen Ungehorsam, Demonstrationen, Streiks, Kämpfe … Das sind die entscheidenden Mittel, um Kräfteverhältnisse zu ändern!

Linken kommt in diesen Kämpfen eine wichtige Bedeutung zu. Unsere Aufgabe ist es, Anliegen zu formulieren, die die Unterschiede zwischen uns nicht leugnen, aber doch das Gemeinsame sichtbar machen. Wir müssen dafür sorgen, dass KlimaschützerInnen und Bergleute, HartzIV-EmpfängerInnen und MigrantInnen, GewerkschafterInnen und Bewegungslinke, Feminismus und Arbeiterbewegung, Junge und Alte zusammen kommen. Wir müssen dazu beitragen, dass gegen die neoliberale Gesellschaft, die stets das Individuum, die Konkurrenz und den Unterschied betont, kollektive Forderungen stark gemacht werden, denn Freiheiten und Rechte lassen sich immer nur gemeinsam erobern.

Das ist es, was viele von uns als »neue Klassenpolitik« bezeichnen: Wir, die wir nicht vom Vermögen leben können, haben starke gemeinsame Interessen: an sicherer Beschäftigung und höheren Löhnen, an kostenlosem Nahverkehr und Krankenhäusern mit mehr Personal, an Renten, die hoch genug sind, dass niemand im Alter Flaschen sammeln muss. An kommunalem und genossenschaftlichem Wohnungseigentum, das den Immobilienfonds die Stadt wieder streitig macht. Wir alle, egal ob Feminist oder Gewerkschafterin oder beides, haben ein Interesse daran, dass der Klimawandel gestoppt wird und der kapitalistische Wachstumszwang als Kern des Problems erkannt wird. Und wir alle, auch diejenigen, die nicht schwul oder schwarz sind, haben ein Interesse daran, dass Schwule oder Schwarze nicht diskriminiert werden, denn Solidarität und rechtliche und soziale Gleichheit machen die Gesellschaft lebenswerter für uns alle. Diese Gemeinsamkeiten zu formulieren – das ist die Aufgabe verbindender Klassenpolitik.

»Aufstehen« ist angetreten, einen gesellschaftlichen Aufbruch über DIE LINKE hinaus in Gang zu bringen. Man will eine »Sammlungsbewegung« sein, bei der die Verteidigung sozialer Grundrechte im Mittelpunkt steht. Dieses Anliegen teilen wir durchaus. Im Unterschied zu »Aufstehen« sind wir allerdings überzeugt, dass Bewegungen nicht durch Proklamationen von oben, sondern durch eine Praxis von unten entstehen.

Dass Sahra Wagenknecht in ihrer herausgehobenen Rolle die Beschlüsse von Partei und Fraktion infrage gestellt und sich unmittelbar vor der bayerischen Landtagswahl von der #unteilbar-Demonstration distanziert hat, haben wir als unerträglich empfunden. Genauso inakzeptabel finden wir es, dass mit Unterstützung der Fraktionsvorsitzenden und anderer Fraktionsmitglieder bundesweite Organisationsstrukturen aufgebaut werden, die auf eine neue Wahlpartei hinauslaufen.

Wir brauchen einen linken Aufbruch! Aber das geht nicht mit Statements, die gegenüber der migrationsfeindlichen Hetze von Rechts rhetorische Zugeständnisse macht. Stärker werden wir dann, wenn wir dagegen halten, konsequent solidarisch sind und uns in bestehenden Kämpfen engagieren.

Die LINKE erneuern

Natürlich muss die LINKE dazu wachsen und sich gleichzeitig noch weiter ändern. Weg von der Dominanz der Parlamentsarbeit, hin zur organisierenden, bildenden und verbindenden Kraft. Wir müssen im Alltag sichtbarer werden. Mehr Initiativen starten, neue Kanäle und Formate nutzen. Mehr ausprobieren und praktisch organisieren. Immer gemeinsam mit anderen aktiv werden, immer etwas lernen. Wir müssen ambitionierter werden, müssen deutlich machen, dass es nicht reicht, »Politik mitzugestalten«, sondern ausstrahlen, dass wir die Republik grundlegend ändern wollen. Eine Partei sein, die gewinnen will.

Um uns in diese Richtung zu entwickeln, haben wir uns als übergreifende Erneuerungsbewegung für klassenorientierte Politik zusammengetan. Wir sind keine neue Strömung, denn das aufreibende Ringen um Wahlprogramme und Listenplätze ist ein Teil unseres Problems. Wir streiten uns zu viel um Anträge und Texte und sprechen zu wenig über praktische Erfahrungen. Wir fragen uns zu wenig, wo die Ansätze der verbindenden Partei überhaupt schon vorhanden sind. Die Organizing-Projekte in Stadtteilen und Betrieben sind klein. Unsere Strukturen in den Kreisverbänden sind zu schwach, die Arbeit hängt an zu wenigen Aktiven.

Doch es gibt auch viele praktische Ansätze, aus denen wir lernen können: Teile der LINKEN sind Bezugspunkt für soziale Bewegungen, manche Kreisverbände haben eine große Verankerung im Alltag vor Ort, durch die Pflege- und Mietenkampagnen hat sich die Perspektive von Parteiarbeit bei vielen Menschen verschoben. Nur so entsteht Sammlungsbewegung: im Alltag, in Bewegungen, in Streiks und Kämpfen.

Als bewegungs- und klassenorientierte LINKE wollen wir diese Erneuerung der Partei anschieben. Weil wir wissen, dass unser Anliegen von vielen in der Partei geteilt wird, wollen wir in den nächsten Monaten mit vielen AktivistInnen und Mitgliedern reden – eintausend Gespräche haben wir uns vorgenommen.

Im Juni 2019 treffen wir uns zu einer bundesweiten Konferenz und tauschen uns über konkrete Erfahrungen und Experimente aus – in den Kampagnen zu Pflege und Miete, in der Stadtteilarbeit, bei der Unterstützung von Streiks oder Refugees, in der Umweltbewegung oder in der Initiative für einen Frauenstreik.

Aber schon jetzt werden wir uns als Bewegungslinke stärker einmischen.

Die Autor*innen sind alle Poltiker*innen bei der LINKEN