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Aktiver streiken ohne Tarifvertrag

Violetta Bock meint, der zähe Kampf der Gewerkschaften gegen Amazon ist erfolgreich, auch wenn es anders aussieht

Für das Osterwochenende hatte ver.di an zahlreichen Standorten zum Streik aufgerufen. Außenstehenden mag der Arbeitskampf bei Amazon als müßig erscheinen. Seit Jahren kämpfen tapfere Frauen und Männer vergeblich für einen Tarifvertrag. Der erscheint heute so weit weg zu sein wie zu Beginn der organisierenden Arbeit. Es ist beachtenswert, wenn sogar das »Handelsblatt«, gewerkschaftsfreundlich kommentierend, der Geschäftsleitung von Chef von Amazon-Deutschland und nicht etwa ver.di oder den Streikenden Dogmatismus vorwirft: »In den 20 Jahren, in denen Amazon in Deutschland aktiv ist, hat sich der Konzern immer wieder gewandelt, weiterentwickelt und den Wünschen der Konsumenten angepasst. Nur in ihrer Haltung gegenüber den Gewerkschaften blieb die Firma stur. Es wird Zeit, dieses Dogma zu überdenken.«

Es ist eben nicht so, dass täglich das Murmeltier grüßt, auch wenn dies oberflächlich, bei immer wiederkehrenden Bildern und der schon zur Normalität gewordenen Meldung »Streik bei Amazon zu Ostern, Weihnachten und Black Friday«, so erscheint. Die Streiks haben, anders als das »Handelsblatt« vermuten lässt, Amazon heute schon verändert. Entfristungen, Weihnachtsgeld, Lohnerhöhungen, neue Kantine – vieles, was ein Tarifvertrag abschließend und zu oft unbefriedigend klären würde, ist zweifellos erstreikt worden, ganz ohne die im deutschen Arbeitsrecht drohende Friedenspflicht mitzeichnen zu müssen.

Zudem hat sich die Stimmung im Betrieb verändert, wie Kolleg*innen aus Bad Hersfeld immer wieder erzählen. Früher gab es aus Furcht Applaus bei allem, was der Manager verkündete, heute werden kritische Fragen gestellt. Die Würde im Alltag ist wohl einer der größten Erfolge für Gewerkschafter, die bei Amazon arbeiten. Was wäre in den letzten Jahren alles nicht geschehen, wenn sich Amazon in Deutschland zum Abschluss eines Tarifvertrags durchgerungen hätte: kein Streik am Frauenkampftag, keine Solidarisierung an gemeinsamen Streiktagen mit Kolleg*innen der Post, keine internationale Vernetzung von der Basis aus mit Kolleg*innen bei Amazon in Polen, Spanien und Spanien. Tatsächlich gibt es bei Amazon mittlerweile Hunderte proletarisch geprägte Aktivist*innen, die eine Ahnung davon geben, wie eine revitalisierte Arbeiter*innenbewegung aussehen wird.

So platt das von der Riege aller orthodoxen, marxistischen wie anarchistischen Traditionen überzeichnete und überstrapazierte Bild des Streiks als Ort der massenhaften Entwicklung von Klassenbewusstsein ist, so deutlich zeigt sich, welche Potenziale dieser Klasse heute innewohnen, wenn sie weder von der Gegenseite herzlich umarmt ihren Biss verliert, noch von den eigenen Leuten in ein allzu bürokratisches und legalistisches Korsett gesteckt wird. Keine Angst vorm »politischen Streik«, keine Formalisierung von Forderungen und kein Zurückweichen auf absehbare Prozentkommastellen, die dann vor den Kolleg*innen in Jubelberichten gerechtfertigt werden und eine neue Kaste Gewerkschafter*innen kreieren. Träumen linke Aktivist*innen vom klassenkämpferischen Frauenstreik (und erklären sich bei fehlender Beteiligung selbst dazu), ist er bei Amazon Realität. Rufen betriebsferne Propagandatruppen des reinen Sozialismus zum Solidaritätsstreik mit xy – wird das bei Amazon tatsächlich gemacht und kaum jemand wundert sich noch.

Natürlich geht es dennoch auch darum, wie vor Ort mehr Macht aufgebaut werden kann, wie der Druck erhöht wird. Doch dafür braucht es vor allem eins: Beharrlichkeit. Für die sollten wir uns alle bedanken. Sie hat Amazon nicht nur zu einem immer wieder zitierten Beispiel für die neuen Arbeitskämpfe gemacht, sondern gibt Mut in anderen Branchen oder Ländern, in denen Betriebe unorganisierbar scheinen.

Violetta Bock ist Politikwissenschaftlerin und Stadtverordnete der Kasseler LINKEN. Der Artikel erschien zuerst im neuen Deutschland.