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Regieren ist noch keine »Machtoption«

Eine Antwort auf Katjas Kippings Vorschlag »Das Warnsignal ernst nehmen«

Katja Kipping hat als Parteivorsitzende das schlechte Wahlergebnis der LINKEN bei den EU-Wahlen zum Anlass genommen, um in einer Erklärung für »Regierungsmehrheiten links der Union« zu werben. Wenn die LINKE als irrelevant erachtet wird, verliere sie; wenn sie hingegen – wie bei der Bremer Bürgerschaftswahl – bereit sei, ihr Programm in einer Regierung umzusetzen, sähen die Wähler*innen den Nutzen. Auch wenn der Begriff im Text nicht auftaucht, steht dahinter das alte Argument, dass die LINKE »eine Machtoption« benötige.

Ich will versuchen, diesen Vorstoß so aufzugreifen, dass wir nicht in den sterilen Debattenstil verfallen, der für die LINKE so typisch ist, und regelmäßig in Verrats- bzw. Sektierervorwürfen mündet.

Als Bewegungslinke sind wir mit einer Kipping einer Meinung, dass es einen ermutigenden Stimmungsumschwung in der Gesellschaft gibt. Nach Jahren rechter Hetze stehen Klimaschutz, bezahlbare Mieten und Vergesellschaftung im Mittelpunkt der Debatte. Und es ist auch richtig, dass die LINKE diese Aufbrüche viel aktiver zum Ausgangspunkt ihrer Politik machen sollte: Mieter*innen-Bewegung, Seebrücke, Fridays for Future, die Streiks bei RyanAir oder Amazon … – das ist die Kraft, die Solidarität sichtbar macht und etwas verändert. Anstatt lähmende innerparteiliche Schlachten auszutragen, bei denen es letztlich doch nur um die Profilierung einzelner geht, müssen wir solche Bewegungen mit aufbauen und unterstützen.

Sehnsucht nach Mitte-Links

Kipping zieht daraus den Schluss, dass die LINKE nun an neuen politischen Mehrheiten arbeiten müsse, damit aus »linken Ideen auch linke Lösungen« würden. Man könnte das jetzt leicht mit dem Hinweis abtun, dass sich hier wieder mal jemand nach einem Regierungsposten sehnt, aber hinter dem Vorschlag steckt auch eine Überlegung, die sich nicht einfach vom Tisch wischen lässt: Soziale Bewegungen und Kämpfe brauchen konkrete Erfolge, wenn andere zur Nachahmung angeregt werden sollen. Und tatsächlich sehnen sich in den Bewegungen viele nach einer Mitte-Links-Regierung, die die extreme Rechte stoppt, den Klimaschutz vorantreibt und etwas gegen die soziale Ungleichheit macht. Besteht die Aufgabe einer linken Partei nicht per Definition darin, so eine Regierung auf den Weg zu bringen?
Vor einer Antwort müsste man sich aber auch die Gegenfrage stellen: Sind Regierungsbeteiligungen wirklich eine »Machtoption«? Zeigen unsere Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit nicht eher das Gegenteil, dass die Linke nämlich an der Regierung sein kann und trotzdem nichts zu melden hat?

Die Ohnmacht linken Regierens

Seit den 1980er Jahren haben wir immer wieder erlebt, wie linke Regierungen rechte Reformen umgesetzt haben. New Labour zementierte den Sieg des Neoliberalismus in Großbritannien und schwächte die Gewerkschaften weiter. Die rot-grüne Koalition in Deutschland machte das, was sich die Union nicht getraut hatte: Hartz IV, Teilprivatisierung der Rentenkasse, Beteiligung an NATO-Angriffskriegen … Und auch die von uns allen mit so großer Hoffnung begleitete Syriza-Regierung in Griechenland beweist doch vor allem die Ohnmacht linken Regierens. Syriza hat die Sparmaßnahmen der Troika umgesetzt, Gemeineigentum privatisiert und die sozialen Bewegungen demobilisiert. Der Weg in die Regierung war das genaue Gegenteil einer »Machtoption«.

Woran liegt das? Nicht in erster Linie an »Verrat« oder »den falschen Leuten«. Aus den Landesregierungen mit Beteiligung der LINKEN, wissen wir doch, wie es läuft. Die Berliner PDS stimmte dem Verkauf von 140.000 Wohnungen aus kommunaler Hand zu. Die Alternative wäre gewesen, die von der CDU hinterlassenen Schulden nicht zu bezahlen und einen schweren Konflikt mit der Bundesregierung und dem Finanzkapital zu provozieren.

Der Fall zeigt deutlich, dass nicht die »politischen Mehrheiten«, sondern erst die Veränderung von Kräfteverhältnissen und die Kampfbereitschaft von Linken in und außerhalb der Institutionen zu einem Politikwechsel führen.

Ohne eine Mobilisierung, die stark genug ist, einen ähnlich großen Druck aufzubauen, wie ihn die Medien, Großkonzerne und Kapitalfonds auf die Regierenden ausüben, gibt es keine Reformperspektive.

Die linke Machtressource sind soziale Kämpfe

Zu sagen, was ist, gehört bekanntlich zu den wichtigeren Aufgaben von Linken. Eine dieser Wahrheiten, die viel öfter gesagt werden müssten, ist, dass die Linke eine völlig andere Ausgangsposition als bürgerliche Parteien hat: Erstens weil sie nicht nur das Bestehende verwalten, sondern strukturell etwas verändern will.

Und zweitens, weil sie nicht über dieselben Machtinstrumente verfügt: keine Konzernspenden, keine eigenen Medien mit Massenreichweite, keine Verankerung in der Verwaltung und in den staatlichen Gewaltapparaten. Die einzige »Machtressource«, die die Linke hat, ist die gesellschaftliche Mobilisierung: soziale Kämpfe, Bildungsarbeit, solidarische Alltagskultur, Organisierung.

Katja Kipping hat in einem Punkt dann allerdings auch wieder recht: Die Debatte über eine linke Regierung kann ein gesellschaftliches Klima verändern helfen. Die Kampagne von Bernie Sanders in den USA war ein Beispiel dafür. Doch sprechen unsere Erfahrungen dafür, dass sich das hier wiederholen würde?

Die Regierungsbeteiligung der LINKEN in Brandenburg dürfte wenig Euphorie wecken. Die Partei hat sich der Logik des Verwaltens verschrieben und mit der Verabschiedung des Polizeigesetzes nun auch den letzten Kredit gegenüber der gesellschaftlichen Linken verspielt. Nicht einmal wahltaktisch war das intelligent. Hätte die LINKE in der Frage Rückgrat gezeigt, hätte sie sich als Bürgerrechtspartei profilieren und weit über Brandenburg hinaus beweisen können, wozu sie nützlich ist.

Was Thüringen angeht, ist die LINKE in symbolischen Fragen sehr glaubwürdig aufgetreten und hat den Widerstand gegen rechts gestärkt. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass von Gewerkschaften zu hören ist, es sei unter R2G schwerer geworden, gewerkschaftliche Forderungen einzubringen, als zuvor unter Schwarz-Rot. Woran liegt das? Möglicherweise an den beiden SPD-Wirtschaftsministern. Wahr ist aber auch, dass die LINKE in Thüringen vor allem beweisen wollte, wie reibungslos sie regieren kann. Das hat Bodo Ramelow populär gemacht. Aber ist das eine »Machtoption«? Mein Bruder, Mitglied bei den Grünen, und seine Frau, SPDlerin, die beide vermutlich bescheidene Erwartungen an die Koalition hatten, sagen, sie hätten wenig Politikwechsel bemerkt.

Andererseits sollten Kritiker*innen auch ein wenig Demut an den Tag legen. Die Maxime »Protestieren und streiken« ist auch noch keine Strategie und die Erfolge von Bewegungen sind oft nicht minder bescheiden als die von Mitte-links-Regierungen. Außerdem zeigen viele Aktionen der außerparlamentarischen Linken, dass auch Bewegungspolitik verknöchert und bürokratisch werden kann. Nicht zuletzt deshalb sind gerade Jüngere heute oft überraschend pragmatisch: Selbstverständlich würden sie eine linke Reformpolitik befürworten: für Klimaschutz, kostenlosen Nahverkehr, Seenotrettung und die Rekommunalisierung von Wohnungen … Kaum noch jemand käme heute auf den Gedanken das als reformistische Befriedungspolitik zu attackieren.

Radikale Politik muss eine Praxis sein

Wirklich radikale Politik ist nämlich nicht die antikapitalistische Pose, sondern eine Praxis, die mit Erfolgen beweist, dass es sich zu kämpfen lohnt. Das politisiert dann nämlich auch andere. Und wenn wir vor diesem Hintergrund die linke Regierungsbeteiligung in Berlin betrachten, dann müssen wir anerkennen, dass sich die Ausgangslage für soziale Kämpfe keineswegs verschlechtert hat.

In Berlin steht plötzlich das Gemeineigentum an Wohnraum und sogar die Rückaneignung von Immobilienfonds auf der Tagesordnung. Das war kein Verdienst der rot-rot-grünen Regierung, aber die LINKE hat eine produktive Rolle darin gespielt. Ein Netzwerk von Mieter*innen-Gruppen, die den Parteien skeptisch gegenüber stehen, aber seit Jahren pragmatisch den Dialog suchen, hat eine schlaue Initiative gestartet. Sie haben daran erinnert, dass das Grundgesetz keineswegs den Kapitalismus vorschreibt, sondern die Wirtschaftsform 1949 offen gelassen wurde. Und sie haben die soziale Situation von Hunderttausenden mit einer konkreten Forderung verknüpft: Enteignung großer Immobilienfonds. Auf diesen Druck musste die Berliner Koalition reagieren.

Das Gute war, dass die LINKE sich schnell und klar positioniert hat – auch deshalb, weil es eine aufmüpfige Parteibasis gibt. Damit steht nun plötzlich ein konkretes Projekt auf der Agenda, für das es sich für alle zu kämpfen lohnt. Auf der Straße, aber auch in der Landesregierung.

Sicher, auch andere Regierungskoalitionen hätten den gesellschaftlichen Druck irgendwie verarbeiten müssen, aber die LINKE hat die Rekommunalisierungsfrage auf produktive Weise in die Landesregierung getragen. Es gibt also durchaus die Möglichkeiten, an verschiedenen Stellen in dieselbe Richtung zu wirken. Das ist der Schlüssel der Debatte.

Die einzig realistische Machtoption für Linke ist das Erzeugen von gesellschaftlichem Druck, der sich in die Institutionen fortsetzt und von dort nicht abgebügelt, sondern verstärkt wird.
Deswegen ist das Projekt einer »Partei in Bewegung« (oder wenn man den Begriff nicht mag: einer kämpferischen Politik in der Gesellschaft) so wichtig. Und dazu gehört selbstverständlich auch, die richtigen Themen in der öffentlichen Debatte durchzusetzen und ein bestimmtes Klima mit herzustellen. Die Begeisterung für »neue Regierungsmehrheiten links der Union« soll, so Kippings Hoffnung, auch die Bewegungen für Klimaschutz, Gemeineigentum und Solidarität stärken. Auf diese Weise könnten Parteipolitik und gesellschaftliche Dynamik zusammenwirken.

Aber ist Anbetracht der eigenen, durchwachsenen Regierungserfahrungen, einer neoliberal vermachteten SPD und der zunehmend bürgerlichen Grünen realistisch? Es stimmt, dass sich gerade wieder Debattenfenster öffnen und wir überall in der Gesellschaft auf neue Verbündete stoßen.

Kippings Idee, »Diskussionsformate und Plattformen zu schaffen, bei denen wir mit gesellschaftlichen Akteuren darüber reden, wie ein gesellschaftlicher Kurswechsel aussieht«, ist sicher nicht falsch. Das Institut Solidarische Moderne versucht das seit Langem, und auf ihre Weise wollte ja auch die Aufstehen-Bewegung in diese Richtung wirken. Das Problem ist jedoch, dass zwar von Gesellschaft die Rede ist, aber am Ende doch Parlamentarier*innen gemeint sind, die sowieso eine fatale Neigung zur Verselbständigung haben.

Ein Politikwechsel im Bund, der die Macht der Automobilkonzerne und Kapitalfonds beschneidet, würde gewaltigen Widerstand erzeugen. Um hier bestehen zu können, brauchen wir keinen Parteiendialog, sondern gesellschaftliche Mobilisierung, einen kämpferischen Pakt von unten, der eine Mitte-links-Regierung dann auch vor sich hertreiben könnte. Eine Plattform aus NGOs und Gewerkschaftsapparaten, die schnell dazu tendieren dürfte, Loyalität gegenüber der »eigenen« Regierung einzufordern, würde dafür nicht genügen. Aber wie lassen sich diese Einwände konstruktiv umkehren?

Dieser Beitrag von Raul Zelik erschien zuerst im neuen Deutschland.