Beitrag von Thomas Goes
Matthias Höhn hat vor dem Parteitag im Juni (erneut) ein Papier vorgelegt[i], in dem er eine Neubesinnung in der Sicherheits- und Außenpolitik der Bundespartei fordert. Damit ist er nicht allein, auch Caren Lay, Paul Schäfer[ii], Wulf Gallert und Susanne Hennig-Wellsow haben sich zu Wort gemeldet. Gegen den Anspruch einer Neuverhandlung regt sich Unmut, und das verständlicherweise bei denen, die der Meinung sind, dass die augenblicklichen programmatischen Positionen völlig ausreichend sind. Ich denke, das wird uns nicht weiterhelfen. Wo Debatte eingefordert wird, muss man sie führen. Eine Partei, die sich lediglich in Feldschlachtordnung begegnen kann, hat ein vielleicht tödliches Problem.
Susanne Hennig-Wellsow hat in einem Interview nach dem saarländischen Wahldesaster wissen lassen, dass in naher Zukunft die außen- und sicherheitspolitischen Positionen neu bestimmt werden sollen. Sie hat ergänzt, dass diejenigen, deren Position sich nicht durchsetzt, sich dann fragen müssen, ob sie noch in der richtigen Partei sind. Das hat für einen Aufschrei der Entrüstung gesorgt. Ich denke, das ist übertrieben. Wir alle ringen um das Programm, und in einer demokratischen Partei ist das ein normaler Vorgang. Am Ende des Tages wägen wir alle das ständig ab: setzen sich unsere Vorstellungen nicht durch, sind wir am richtigen Ort? Die LINKE ist keine Kirche, sondern eine Bewegung, die die Wirklichkeit verändern will. Also lasst uns diskutieren. Ich bin ein außen- und sicherheitspolitischer Laie, dessen Arbeitsschwerpunkte woanders liegen. Gerade deshalb misch ich mich ein, denn es sollte eine Diskussion in der breiten Mitgliedschaft sein, nicht lediglich unter Expert:innen.
Theorie und Praxis
Ich möchte mit einer längeren Vorbemerkung beginnen. Im Beitrag von Matthias, aber auch bei anderen, etwa Caren Lay[iii] und Wulf Gallert[iv], fällt auf, dass nicht unterschieden wird zwischen Programmlage, Mehrheitshaltungen in der Partei und Positionen, die durch sehr sichtbare Vertreter:innen unserer Partei nach Außen getragen werden. Es geht in den Texten ein wenig durcheinander. Durch alle genannten Beiträge zieht sich beispielsweise die Kritik daran, die Außenpolitik an Staaten auszurichten, Bezugspunkt dürften nicht Diktaturen sein. Aber hat das etwas mit unserer Programmlage zu tun? Wenn ja, was genau? Oder ist es nicht eher so, dass bestimmte Vertreter:innen der Partei die Neigung haben, unser Programm auf eine besondere Art und Weise auszulegen? Ich hörte einmal einer Diskussion zwischen führenden Genoss:innen zu, bei der es um China ging. Für die einen ein positiver Bezugspunkt, für die die anderen ein abschreckendes Beispiel. Alle bezogen sich auf das Erfurter Programm. Oder: Finden sich wirklich in unserer programmatischen Selbstverständigung die Ursachen dafür, dass wir im Fall Russlands und der Ukraine danebenlagen? Zugespitzt: Ist es die NATO-Kritik, die blind machte für die Eskalation im Osten? Für den Kriegskurs der russischen Regierung? Ich habe meine Zweifel. Es dürfte eher an einer unzureichenden Imperialismusanalyse und einem Mangel an gemeinsamer lernender Verständigung in den Führungsgruppen unserer Partei darüber liegen, was eigentlich im imperialistischen Weltsystem passiert und wie wir uns dazu verhalten sollten. Kommt hinzu, dass in der Praxis unsere Positionen in der Öffentlichkeit von Leuten vertreten wurden (und zum Teil werden), die eher eine Parteiminderheit repräsentierten. Ich will – ohne Polemik – daran erinnern, dass etwa Diether Dehm, der ein besonders schillerndes außenpolitisches Weltbild vertritt, das mit dem von Matthias Höhn nur wenig gemein haben dürfte, einer der Architekten des „Hufeisenbündnisses“ in der Bundestagsfraktion gewesen ist. Sevim Dağdelen ist jedenfalls nicht zu einer einflussreichen sicherheits- und außenpolitischen Stimme der Fraktion geworden, weil es der Zufall so wollte. Und Sahra Wagenknecht wurde bis vor nicht allzu langer Zeit alles Außenpolitische erlaubt, weil sie das bekannteste Gesicht der Partei ist. Ich komme darauf am Ende zurück. Es wäre also ratsam, genauer zu unterscheiden, wo denn nun unsere Probleme liegen – in der Programmatik, in der auf dieser Basis immer wieder zu vollziehenden tagespolitischen Analyse, oder in der Praxis selbst? Zumindest ein Teil derjenigen, die sich heute eine Neuausrichtung wünschen, muss sich jedenfalls nach ihrer Verantwortung für das desaströse Bild fragen lassen, das unsere Bundestagsfraktion zum Teil abgegeben hat. Das gilt meines Wissens nach auch für Matthias Höhn. Wenn die Partei eine Zukunft haben will, dann muss diese „Der Gegner meines Gegners ist mein Freund Politik“ in der Partei aufhören, ganz sicherlich in der Bundestagsfraktion, und wir müssen dazu zurückkehren, dass Inhalte wichtiger sind als Machtbündnisse. Dazu gehört auch eine Diskussionskultur, die am Argument interessiert ist, Neugierde und die Bereitschaft, die eigene Meinung zu verändern.
Fehler ja – aber welche Vorschläge?
Deshalb nun also zu dem Text, den Matthias Höhn vorgelegt hat. Er beginnt damit, dass wir uns mit Blick auf die Politik Russlands gegenüber der Ukraine geirrt haben. Das stimmt. Aber es fehlen konkrete Ausführungen dazu, was wir denn anders gemacht hätten als Partei, wenn wir uns nicht geirrt hätten. Also wenn wir angenommen hätten, die russische Regierung könnte in die Ukraine einmarschieren. Wenn man an der Stelle nicht genauer wird, ist es schwer zu diskutieren. Wäre die Zustimmung zur NATO-Osterweiterung das, was Matthias vorschwebt? Abgesehen von der Vermeidung absurder Stellungnahmen (wie der von Sevim Dağdelen wenige Tage vor dem Einmarsch[1]) fällt mir wenig ein, was man hätte vermeiden können als LINKE. Ich meine in der Substanz, natürlich hätte man sich kritischer mit der russischen Regierung auseinandersetzen können. Aber welche Vorschläge zur Konfliktvermeidung hätten wir gemacht? Diese Antwort fehlt bei Matthias Höhn. Bei Caren Lay habe ich gelesen, dass die Forderung nach einem neuen Sicherheitsbündnis unter Beteiligung Russlands, durch das die NATO ersetzt werden soll, sich erledigt hat. Ich denke, da ist kurzfristig etwas dran, denn nach dem Überfall auf die Ukraine ist das nicht nur auf der Straße im Bürgergespräch schwer vermittelbar – es fehlt angesichts der russischen Aggression auch der realpolitische Strohhalm, mit dem man arbeiten müsste. Aber ist die Forderung deshalb mittelfristig falsch? Ich will dran erinnern – und zwar jetzt mit einem realistischen Blick auf das, was in Sicherheitsbündnissen passiert, nicht gemessen an unseren normativen Erwartungen -, dass in der NATO Staaten beteiligt sind, die ebenfalls zum Typus „gelenkte autoritäre Fassadendemokratie“ gehören, etwa die Türkei. Auch wenn man sich vollkommen andere innenpolitische Verhältnisse in der Türkei wünscht: Um Kriege zu vermeiden, kann es auch dann sinnvoll sein, die Türkei in Bündnis- und Verhandlungssysteme einzubinden, wenn immer noch demokratische Grundsätze missachtet und Menschenrechte verletzt werden. Entscheidend wäre – und das passiert in Wirklichkeit so gut wie nicht -, diese Einbindung der Türkei auch als Anlass und Mittel zu nehmen, um Menschenrechte und demokratische Rechte zu stärken (das gilt u.a. auch für Ungarn oder Polen, wo nationalistische und rechtspopulistische Parteien regieren). Kurzfristig jedenfalls, nicht mittelfristig, stellt sich mit Blick auf Russland und die Ukraine die Frage, was wir denn vorschlagen, um aus der Gewaltspirale rauszukommen. Das führt uns unmittelbar zur Frage des Krieges, natürlich. Für mich ist das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine unbestritten. Aber wenn wir über den Tag hinausdenken, was schlagen wir vor?
Wie konkret Demokratie und Menschenrechte stärken?
Es ist auch richtig, dass wir uns in unserer Außen- und Sicherheitspolitik nicht auf Diktaturen beziehen sollten, sondern – ich übersetze das mal in meine Sprache – auf Menschen vor Ort, auf die Stärkung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Das finde ich als Zielsetzung sehr richtig, deshalb stimme ich Matthias auch ausdrücklich in seiner Kritik an denen zu, die in der Logik von „Der Feind meines Feindes ist nicht so schlimm“ denken: „Wer glaubwürdig Menschenrechtsverletzungen in den Diktaturen des Nahen und Mittleren Ostens oder von Demokratien wie den Vereinigten Staaten in Guantanamo oder im Irak anprangern will, darf nicht mit zweierlei Maß messen und zu den Zuständen in China, Russland oder Venezuela schweigen. Wer den Völkerrechtsbruch der USA im Irak oder anderswo verurteilt, darf nicht wenige Jahre später die russische Annexion der Krim und die Besetzung des Donbas relativieren.“ Das ist einfach wahr. Ich finde auch richtig, dass Matthias in diesem Geiste die Energiepolitik der Bundesregierung und ihrem neuesten Türkeideal kritisiert. Gut. Aber was heißt das dann weiter? Immerhin ist es doch so, dass Menschenrechte und Demokratie auch von Staaten mit Füßen getreten werden, mit denen Deutschland Bündnisse pflegt. Also: Wie genau stärken wir sicherheits- und außenpolitisch nun Demokratie, Menschenrechte, fortschrittliche Bewegungen? Und was heißt das für unsere Vorstellungen von internationaler Bündnispolitik? Matthias wird da leider nicht sehr konkret. Ich will daran erinnern, wie Paul Schäfer einmal pointiert festgestellt hat, dass es ein Spannungsverhältnis gibt zwischen der Position, die nationale Souveränität von Staaten zu verteidigen, und der Orientierung an Menschenrechten[v] – zumindest dann, wenn man sagt, die Verletzung von Menschenrechten könnte ein Grund dafür sein, die nationale Souveränität aufzuheben, also militärisch zu intervenieren. Wolfgang Fritz Haug hat einmal geschrieben, in der Geschichte seien die Jüngeren älter. Und so fallen uns alle Beispiele ein, mit denen wir uns auf dieses Spannungsfeld beziehen können. Dass Vietnam den Massenmord der Roten Khmer am eigenen Volk durch Einmarsch beendet hat, war richtig. Dass die USA die Diktatur der Baath-Partei im Irak durch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gestürzt hat, natürlich im Namen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, war aber falsch. Meines Erachtens gibt es hier kein absolutes Richtig und Falsch. Aber: Dass Kriegserklärungen (militärische Interventionen sind immer Kriegserklärungen) kein zentraler Teil unserer Sicherheits- und Außenpolitik sein können, noch dazu im Rahmen der NATO, scheint mir klar zu sein. Überhaupt fällt in allen jüngeren Texten – Caren Lay ist da eine Ausnahme, wenngleich ihre Ausführungen dazu eher kurz sind – auf, dass die Vereinten Nationen kaum vorkommen. Noch mal die Frage: Wie also gedenken wir demokratische Bewegungen in anderen Ländern genau zu stärken?
Rückbau der Bundeswehr zur reinen Verteidigungsarmee
Matthias Höhn sagt, dass es angebracht ist, die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen ernst zu nehmen und die Frage zu beantworten, wie denn die LINKE gedenkt Sicherheit zu garantieren oder zu gewährleisten. „Was die Linke nicht tun darf, ist, aus Angst, der Sicherheitsdiskurs könnte Wasser auf Mühlen der Rechten sein, ihn deren autoritären Antworten zu überlassen. Das Bedürfnis nach Sicherheit ernst zu nehmen, bedeutet schließlich nicht, im Einklang mit der Rechten nach mehr Überwachung, Gefängnissen, Abschiebungen und härteren Strafen zu rufen.“ Das hat Ingar Solty mit Blick auf die Debatten über innere Sicherheit geschrieben[vi]. Ich finde das auch richtig, wenn man es auf die äußere Sicherheit bezieht. Denn Angst und das Interesse daran sicher zu leben, sind verständlich. Aber auch da wird der Text merkwürdig still, weil fehlt, was das konkret bedeuten würde. Es wird zwar darüber gesprochen, dass die Bundeswehr eine Ausrüstung braucht, die sie verteidigungsfähig hält. Aber darum geht es in der Debatte um die NATO-Rüstungsziele nicht. Meines Erachtens müsste es heißen, die Bundeswehr zurückzubauen zur reinen Verteidigungsarmee. Ihr Umbau zu einer Berufsarmee hat vermutlich auch mit der Weiterentwicklung der hochmodernen Waffensysteme zu tun, aber ebene auch mit der neuen Rollenbestimmung der Bundeswehr als Truppe, die außerhalb der Bundesrepublik eingesetzt werden soll. Landesverteidigung statt Sicherung außenwirtschaftlicher und außenpolitischer Interessen in Afghanistan und anderswo. Warum nicht? Das setzt einen Bruch mit einer lang anhaltenden Strategie voraus, die auf die Normalisierung von Gewalt als Mittel der Außenpolitik hinausläuft, wie Ekkehart Krippendorf das zu Beginn der 2000er-Jahre bereits nannte. Man kann nicht über die Bundeswehr reden, und darüber schweigen. Sollte Matthias genau das mit „klarer Fokus auf die Landes- und Bündnisverteidigung, Schluss mit der Überdehnung ihrer Aufgaben und Fähigkeitsanforderungen“ meinen, wäre ich einverstanden. Und dann wäre es auch folgerichtig über Missmanagement, Berater*innenverträge und das Beschaffungswesen bei der Bundeswehr zu sprechen.
Kommen wir nun zu den Auslandseinsätzen, die Matthias Höhn eher im Nebensatz auf den Plan ruft, indem er sagt, die Bundeswehr hätte in Syrien eingesetzt werden sollen, um chemische Waffen zu vernichten. Aber warum? Warum hätte die Bundeswehr in Syrien eingesetzt werden sollen? Und wenn in Syrien: warum nicht im Jemen, warum nicht in Tschetschenien? Mir leuchtet das nicht ein – zumal die Strategie der Auslandseinsätze der Bundeswehr keine Erfolgsgeschichte ist, wenn man die offiziellen Ziele (in der Regel ja Schutz von Menschenrechten oder Demokratie) zu Grunde legt. Warum kommt der Text von Matthias ganz ohne eine entsprechende kritische Bilanz aus? Und warum sollten Auslandseinsätze der Bundeswehr Teil einer umfassenderen Sicherheitspolitik sein?
Umfassende Sicherheit geht nur durch Entspannungspolitik
Richtig finde ich die Überlegung von Matthias, Sicherheit umfassender zu diskutieren. „Sicherheitsdebatten müssen darum auch immer Debatten über ökonomische Dominanzen und Abhängigkeiten, faire Welthandelsbeziehungen, globale Ungerechtigkeiten und wirksame Klimapolitik sein und gehen weit über die Frage der Einsatzfähigkeit einzelner Armeen hinaus.“ Das ist ein Gedanke, den von ganz unterschiedlichen Teilen der Partei vertreten wird. Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir alle dasselbe meinen. Wenn wir – als einzige Partei im Bundestag – nicht Militäreinsätze im Ausland als Mittel der Außenpolitik stärken wollen, dann müssen wir selbstverständlich darüber reden, wie Konflikte deeskaliert und Frieden gesichert werden kann. Auffällig ist jedenfalls, dass der Text gar nicht versucht realpolitisch durchzubuchstabieren, was „Entspannungspolitik der 2020er und 2030er Jahre“ sein müsste. Wenn Matthias mit der Bemerkung endet, dass offen ist angesichts des jetzigen Krieges, wann wieder vertrauensvolle Gespräche mit der russischen Regierung möglich sind, ist das eine richtige Frage. Aber das ändert nichts daran, dass es eine modernisierte Entspannungspolitik sein muss, die als Strategie den zentralen Eckpfeiler unserer Politik zu bilden hat.
Entspannungspolitik braucht man nicht unter Freunden. Caren Lay hat in ihrem Beitrag nebenbei bemerkt, dass eine auf Kooperation zielende Politik gegenüber Russland erst wieder möglich ist, wenn Putin gestürzt wurde. Das ist nachvollziehbar, es ist aus meiner Sicht realpolitisch aber falsch – jedenfalls überzeugt es mich nicht. Das sozialdemokratische Konzept der Entspannungspolitik setzt darauf, mit Leuten, mit denen man ganz grundlegend nicht übereinstimmt, in Aushandlungen zu treten. Ihre Interessen ernst zu nehmen und mit ihnen Vereinbarungen zu treffen, die das stärken, was uns wichtig ist. Völlig richtig betont Matthias Höhn zum Beispiel, dass Russland und China massiv aufgerüstet haben, Rüstungskontrolle völlig vernachlässigt ist. Durch Verhandlungen müssen wir wieder dahin kommen, dass abgerüstet wird. Verhandlungen sind unangenehm, weil etwas gegeben werden muss. Aber wie sonst sollten Abrüstungsverträge denn entstehen? Ich will zugestehen, dass es im Angesicht eines Krieges schwerfällt, das zu einer Strategie zu erheben. Und ich will eingestehen, dass die Möglichkeit einer solchen Politik davon abhängt, ob sich die gelenkte autoritäre Fassadendemokratie in Russland tatsächlich in Richtung eines totalitären Regimes entwickeln wird, wie einige behaupten. Das ist nüchtern zu analysieren. Ich will aber daran erinnern, dass Entspannungspolitik in den 1970er und 1980er-Jahren gegenüber der Sowjetunion betrieben wurde, nachdem diese Volksaufstände in Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei hatte niederschlagen lassen, während in Polen Solidarność unterdrückt und russische Truppen in Afghanistan einmarschiert sind. Entspannungspolitik braucht man gegenüber Diktaturen – und es ist verblüffend, dass wir darüber nicht ausführlich diskutieren. Bei Willy Brandt und Egon Bahr[vii]kann man nachlesen, dass Entspannungspolitik interessanterweise nicht die Zuneigung zum Verhandlungspartner voraussetzt, sondern den Willen zur Aushandlung. Jedenfalls dürfte außer Zweifel stehen, dass die deutsche Sozialdemokratie, und die beiden Genannten voran, mehrheitlich eine ablehnende Haltung gegenüber der DDR und der Sowjetunion eingenommen haben.
Entspannungspolitik als Mittel, um die Klimakatastrophe zu verhindern
Aber die Frage nach einer neuen Entspannungspolitik drängt sich auch gerade dann auf, wenn man ein umfassenderes Verständnis von Sicherheit zu Grunde legt. Denn ein umfassendes Sicherheitskonzept muss heute zwingend die Bewältigung der Klimakatastrophe gewährleisten. Wer den letzten Klimaratsbericht des Weltklimarates wenigstens zur Kenntnis genommen hat, ahnt, was an Verwerfungen auf uns zukommen wird. Und Matthias gelegentliche Bemerkungen zur Klimapolitik lassen mich annehmen, dass er das getan hat. Ganze Zonen der Erde, die stark besiedelt sind, werden vielleicht unbewohnbar. Eine Verschärfung der Lebensmittelkrisen droht. Kriege um Wasser und seltene Metalle, die für die ökologische Modernisierung des Kapitalismus (und das ist es, was die Eliten der Welt gerade betreiben – bis auf eine Fraktion der herrschenden Klasse, die durch Politiker wie Trump repräsentiert wird, die die Klimakrise einfach leugnen) gebraucht werden, sind wahrscheinlich. Es wird gar nicht möglich sein in einer humanistischen Perspektive voranzukommen (ich traue mich gar nicht von einer sozialistischen Perspektive zu schreiben), wenn es keinen Dialog mit Russland und China gibt. Es darf sich jeder fragen, ob China oder die USA Flugzeugträger für die Landesverteidigung brauchen. Wer im Horizont der Klimakrise nicht auf die Barbarei zugehen will, wird darüber nachdenken müssen, wie die Eskalation mit Russland und China vermieden werden kann. Ich weiß, dass die Forderung nach Entspannungspolitik unglaublich klingt, weil Russland gerade in die Ukraine einmarschiert ist. Aber dennoch: Welche Schritte müsste man gehen? Sobald man darüber nachdenkt, werden alle Fragen wichtig, die in der jüngsten Debatte aufgeworfen wurden. Zum Beispiel, wie sichergestellt werden kann, dass die sicherheitspolitischen Interessen der baltischen Staaten, aber auch der Ukraine, nicht schlicht übergangen werden.
Im Zusammenhang mit einem umfassenderen Sicherheitskonzept ist auch über die Aufrüstung zu sprechen, auch mit Blick auf die Herausforderung, die drohende Klimakatastrophe zu verhindern. Matthias Höhn ist in seinem Papier völlig unklar, wie wir es mit dieser Aufrüstungspolitik nun halten sollen. Er lobt, dass wir gegenhalten. Er sagt, angesichts der haushaltspolitischen Lage könnten militärische Mehrausgaben zu Lasten anderer wichtiger Investitionen gehen – um dann klarzumachen, dass Investitionen trotzdem nötig sind. Irgendwie nicht in der Höhe – aber was eigentlich genau? Hier bleibt es bei Andeutungen. Zunächst: Ich denke nicht, dass die weitere Aufrüstung der Bundeswehr oder der NATO-Staaten helfen werden, mehr Sicherheit zu schaffen. Ich müsste weit ausholen, um hier meine Sichtweise plausibel zu machen, hier nur kurz: Die NATO-Staaten sind Russland militärisch weit überlegen, im Fall eines Angriffs auf einen NATO-Staat greift der Bündnisfall. Trotzdem hat all das Russland nicht davon abgehalten, in die Ukraine einzumarschieren. Insofern wäre die weitere Aufrüstung also wirkungslos. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, die USA könnten in Zukunft – etwa, wenn ein neuer Präsident erneut Trump heißen könnte – ihre europäische Sicherheitsarchitektur auflösen. Mit anderen Worten: Europa als eigenen sicherheits- und außenpolitischen Brückenkopf aufgeben. Ich halte das für hochgradig spekulativ, und ich kann nicht sehen, was dafürspricht. Die Spannungen, die zwischen den USA und China existieren, sprechen nicht dafür – jedenfalls werden die USA die EU brauchen, um in den Weltneuordnungskonflikten zu bestehen. Zumindest ist diese Annahme plausibler als die Vorstellung, die USA werde sich mit einem isolationistischen Kurs in die Schlacht begeben.
Kommen wir wieder zum umfassenderen Sicherheitskonzept und der Aufrüstung zurück. Die Aufrüstung wird die Erderwärmung beschleunigen, weil die Produktion (und der Einsatz) von Waffen CO₂-intensiv ist. Außerdem wird das Geld überall für die dringend nötigen Klimanotstandsprogramme fehlen. Natürlich kann man sagen, dass theoretisch der angestrebte Beschluss über das Sondervermögen der Bundeswehr ja zeigt, dass das Geld dafür ja da ist. Und man kann sagen, die Schuldenbremse müsse weg. Es ist auch richtig, wie es aus der Gewerkschaftsbewegung und auch aus der Klimagerechtigkeitsbewegung getan wurde, ein Sondervermögen Klimaschutz zu fordern. Aber es ist fast unpolitisch anzunehmen, so ließen sich harte Verteilungskonflikte vermeiden. Denn wir wissen doch, dass wir auf absehbare Zeit keine politischen Mehrheiten im Bundestag für diese Forderungen haben. Die CDU/CSU und FDP müssten zustimmen. Wer die letzte Rede von Friedrich Merz gehört hat, in der er der Ampelkoalition die Bedingungen der Unionspart für ihre Zustimmung zur Festschreibung des Sondervermögens der Bundeswehr in das Grundgesetz diktieren wollte, weiß: dort steht die Wand. Die Aufrüstung wird die Klimakrise und soziale Probleme im Land verfestigen.
In was für einer Welt, in welcher Periode leben wir?
Was mir schließlich völlig fehlt, ist der Versuch einer Zeitenbestimmung. Unter welchen Bedingungen wollen und müssen wir also Außen- und Sicherheitspolitik machen, welche Spannungen und Konflikte erleben wir und werden wir im imperialistischen Weltsystem erleben, mit welchen Konflikten? Ich habe dieses Feld oben verschiedentlich angeschnitten. Wenn es richtig ist, dass wir Demokratie, Menschenrechte und fortschrittliche Bewegungen unterstützen, nicht in erster Linie Staaten (wobei die nationale Souveränität von Staaten ein hohes Gut ist), was heißt das in einer Periode, in der schwere Konflikte zwischen der NATO-Führungsmacht USA und China drohen?
Theorie und Praxis 2
Eine abschließende Bemerkung, mit der ich auch an den Anfang zurückspringe. Möglicherweise wäre die Debatte um solche Fragen einfacher zu führen, würde zwischen Theorie und Praxis nicht ein Graben klaffen. In der Theorie fordern Matthias Höhn und viele andere den Bruch mit bestimmten sicherheits- und außenpolitischen Positionen, deren entschlossenste Vertreter:innen er und andere in der Bundestagsfraktion über Jahre in öffentlichkeitswirksame Sprecher:innenpositionen gebracht haben. Alle wissen das, die sich mit den internen Konflikten in der Fraktion und den dortigen Bündniskonstellationen ein wenig beschäftigen. Man kann dieses Bündnis unterschiedlich bewerten, zu einer Entpolitisierung der Debatte trägt es aber in jedem Fall bei.
[1] Siehe hier ihre Rede vom 18.02.2022 https://www.youtube.com/watch?v=eTg8wYqV1RI
[i] Eine neue Debatte über linke Sicherheitspolitik hat begonnen. https://www.links-bewegt.de/de/article/522.europäische-sicherheit-organisieren.html
[ii] Gedankenfragmente und Provokationen zum Ukraine-Krieg. https://www.paulschaefer.info/PDFs/Ukraine-Krieg-und-Folgen-Positionsbestimmung.pdf
[iii] Linke Außenpolitik braucht ein Update. https://www.rosalux.de/news/id/46154/linke-aussenpolitik-braucht-ein-update
[iv] Linke Außenpolitik braucht die Rückkehr zu Marx. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160092.aussenpolitik-der-linkspartei-linke-aussenpolitik-braucht-die-rueckkehr-zu-marx.html
[v] Linke Außenpolitik – ein Debattenbeitrag. https://forum-ds.de/?p=3264
[vi] Ingar Solty 2016, Sicherheit: Ein heißes Eisen für die Linke? Angstfreiheit als Frage sozialer Infrastruktur. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/sicherheit-ein-heisses-eisen-fuer-die-linke/
[vii] Siehe Egon Bahr: Ostwärts und nichts vergessen, 2015. Und: Willy Brandt: Erinnerungen, 1993.